Die harte Seite des Sees

Kei besseres Mittel: Nach dem Bad im Kühlen See hat man das Gefühl, dem Norden getrotzt zu haben. Bild: Reto Oeschger
Im September beginnt die schönste Zeit, wenn kein vernünftiger Mensch mehr sein Badetuch im Nieselregen ausbreitet und der See grau glänzt wie die Haut eines urzeitlichen Reptils. Dann ist Schwimmen eine Art Grenzerfahrung – vielleicht ein zu grosses Wort, aber ein Naturerlebnis auf jeden Fall.
Über das letzte Wochenende waren wir jeden Vormittag im Mythenquai, bis elf Uhr muss die Badi bei jedem Wetter geöffnet bleiben. Das Wasser war herrlich, wärmer als die Luft. Jeden Tag anders, einmal bewegt und rau, einmal dunkel und geschmeidig.
Und jeden Tag spürte ich ein Glück wie in den Sommerferien am Meer, trotz der frisch verschneiten Berge. Vielleicht war es die Geborgenheit im Wasser, es gibt kein besseres Mittel gegen die Depression des auslaufenden Sommers, als ein paar Hundert unverdrossene Meter im See.
Am schönsten ist es im September, bevor das Wasser kälter wird und die Schwimmstrecken kürzer, um Neujahr herum werden es nur noch ein paar kurzatmige Brustzüge sein. Aber immer steigt man aus dem See mit dem Gefühl, dem Norden getrotzt zu haben. Eine Laune des Schicksals hat uns in diese Unwirtlichkeit verschlagen: Aber zum Jammern ist das kein Grund.
Ich muss mal mit den Kindern herkommen, dachte ich. Nicht dass sie wehleidig wären, dieses Wochenende standen die Buben klaglos im Dauerregen auf dem Fussballplatz, nass bis auf die Knochen. Die Mannschaft des Älteren hatte brutal hoch gewonnen, am Spielfeldrand hatte ich einen Mann beobachtet, etwas resigniert hatte er das Team der Verlierer angefeuert, sie lagen zu null zurück, eine hoffnungslose Truppe. Er war ein guter Vater mit einem altmodischen Regenschirm, was erzählte er am Abend seinem Sohn? Wie hat er ihn aufgerichtet?
Uns aber ging es gut, es ist interessant, wie Siege ausstrahlen können. Wie eine Reihe von Siegen eine Mannschaft zusammenhalten kann, dass selbst die Eltern erfasst werden und die Angehörigen. Man wird augenblicklich eine Gemeinschaft, es riecht rundum nach Zufriedenheit. «Alle glücklichen Familien gleichen einander», schreibt Leo Tolstoi im ersten Satz von «Anna Karenina», «jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich».
Das Team meines Sohnes spielt in einer niedrigen Stärkeklasse, überhaupt, die Fussballkarrieren meiner Buben sind ins Wanken geraten. Noch vor ein, zwei Jahren hatten beide davon geträumt, Profis zu werden, aber der Cut kommt, spätestens wenn sie zehn, elf Jahre alt sind und in der Alterskategorie E1 spielen. Wer es dann nicht zu einem grossen Club geschafft hat und nicht viermal, fünfmal die Woche trainiert, für den ist die Profikarriere ausgeträumt. Fussballspielen können sie alle, selbst die Verlierer im Regen, aber die Unterschiede zu den geförderten Spielern werden wachsen. Die Schere wird auseinandergehen.
Trotzdem spielen sie weiter, aber ganz still haben sie gelernt: Es gibt ein Leben nach dem E1. Und: nicht aufgeben, auch wenn die Träume nicht in Erfüllung gehen.
Ich schwamm weiter, die Quaibrücke und das Seefeld lagen im Nebel. Die offizielle Zürcher Badesaison dauert bis nächsten Sonntag. Das Utoquai hat eine Woche länger auf.
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