Timbuktu

Letztes Jahr ist der FC Zürich abgestiegen – dieses Jahr könnte es GC erwischen. Noch ist es nicht so weit, aber schon wird wild fantasiert. «Wenn GC so weiterspielt», behauptete mein Freund aus Basel, «kommt es zur Fusion, jede Wette! In zwei Jahren gibts nur noch einen Club in Zürich.» – «Warum?», gab ich zurück. «Wir haben kein Problem, wenn GC absteigt. Der FCZ ist ja bald wieder oben.»
Fusionieren, das ist Basler Denken, eine Basler Allmachtsfantasie. Zugegeben, wer je einen der legendären europäischen Abende in Basel erlebt hat, weiss, dass guter Fussball eine Stadt glücklich machen kann. Fussball holt einen Ort aus der Anonymität der Provinz: Wer hat Donezk gekannt, bevor Schachtar aufgetaucht ist in der Champions League? Wer hat von Ludogorez gehört? Von Auxerre? Aber gleich fusionieren? Muss denn Zürich im europäischen Fussball eine Adresse sein? Der Einzige, der mir ein bisschen leidtut, ist Pierluigi Tami, der entlassene Trainer von GC. Ich mag seinen aristokratischen Akzent und seine neunmalkluge Art am Fernsehen.
Als es Tami noch gut lief, etwa vor einem Jahr, soll er Angebote aus der Bundesliga erhalten haben. Stuttgart wollte ihn. Tami hat abgelehnt. Aus Loyalität zu GC, hiess es. Es wäre die Chance seines Lebens gewesen. Jetzt macht er vielleicht einsame Spaziergänge und grübelt über den Sinn der Existenz nach. Für uns Zaungäste, die am Rand des Spielfelds stehen oder einfach nur die Zeitung lesen, ist Fussball ein endloser Roman. Eine Telenovela, die grösste Serie der Welt.
Die Geschichte von Tamis verpasster Chance erinnert mich an den Vater eines Mitschülers meiner Söhne. Wir standen kürzlich nach einer Geburtstagsparty draussen auf dem Parkplatz und warteten auf unsere Kinder. Es war einer der ersten Abende, die nach Frühling rochen, der Mond leuchtete über der Stadt. Er erzählte von seinen Reisen, wie sie als junge Leute durch den Osten der Türkei gefahren seien, mit dem Bus, in die verlassensten Gegenden, die Einheimischen hätten sie bestaunt, sie wurden eingeladen, man trug ihr Gepäck, gab ihnen warmes Essen. Es war eine Geschichte, die eine ganze Generation damals erlebt hat, vor bald dreissig Jahren.
«Heute würde ich für keine Million zurück dorthin», sagte er. Die Gegend sei zu unsicher, Reisende seien angegriffen und entführt worden. Aber damals habe er keinen Moment daran gedacht, dass sie in Gefahr sein könnten. «Die Türken sind friedliche Menschen», sagte er, noch ganz in seinen Erinnerungen, und ich sah sie vor mir, ein junges Paar, wie sie durch die Gassen gingen, stehen blieben, fragten, staunten, Dörfer voller Geheimnisse.
«Ich war auch in Marokko damals», erzählte er, er sei monatelang durchs Gebirge getrampt, und noch jetzt bereue er, dass er nicht nach Timbuktu gereist sei, als die Kameltreiber ihm den Trip angeboten hätten. 52 Kameltage durch die Wüste bis nach Timbuktu, für nichts, ein paar Hundert französische Franc. Heute sei die Strecke lebensgefährlich. «Verpasste Chance», sagte er, «auf dem Kamel durch die Wüste, sieben Wochen lang.» Er lächelte. «Das wird nie wieder kommen.» Dann hörten wir die Kinder, wie sie johlten und schrien, aufgedreht von der Geburtstagsparty.
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