«Danke Alf, danke Zürich»

Der Alfred-Escher-Brunnen beim Hauptbahnhof. (Foto: Beni Frenkel)

Ich führe mit meiner Frau eine sehr offene und konstruktive Beziehung. Sie sagt mir zum Beispiel: «Du hast die hässlichsten Füsse, die ich je gesehen habe. Und du bist fett.» Ich hingegen habe ihr im Dezember häufig gesagt: «Ich spiele jetzt Swiss Lotto und wenn ich den Jackpot gewinne, verlasse ich dich und die Kinder. Und dann ziehe ich in den Süden, wo die Sonne häufig scheint.»

Später habe ich mir überlegt: Warum bin ich so fies gegenüber Zürich? Habe ich verdrängt, dass meine Urgrosseltern hier ihre Zuflucht gefunden haben? Aus Anlass der Russischen Progrome (1881 – 1914) sind sie vor über 100 Jahren zuerst nach Wien und dann nach Zürich geflohen.

Seitdem lebt meine Familie ununterbrochen in Zürich, abgesehen von einer 20 Jahre währenden Diaspora im Kanton Aargau. Was andere Menschen an Zürich stört, das freut mich. Zürich ist teuer und arrogant? Die Deutschen sind den Zürcher unwillkommen? Ja. Das will ich. Meine Schwiegereltern aus Berlin plagen uns wegen den genannten Gründen nur einmal pro Jahr mit einer Visite. Hoffentlich stürzt der Euro im Januar 2017 noch tiefer, dann kommen sie gar nicht mehr.

Ich hingegen bin ein stolzer Zürcher. Was bietet mir diese Stadt nicht alles: mehrere Einkaufsmöglichkeiten, einen See, einen Berg, zwei Flüsse, einen Hauptbahnhof (mit noch mehr Einkaufsmöglichkeiten) und vieles mehr

Manchmal ist mir das Herz übervoll. Dann will ich laut schreien: Danke, danke, danke. Für all das Gute, das ich hier geniessen darf. Natürlich gibt es auch eklige Zürcher, das will ich gar nicht abstreiten. In manchen Restaurants fühle ich wenig willkommen, wenn ich nur Pizza Margherita bestelle und beim Lavabo auf der Toilette meinen Durst stille. Und manche (vor allem ältere) Menschen scheissen mich zusammen, nur weil ich bei Rot über die Strasse laufe. Trotzdem: Das Gute überwiegt.

Deswegen habe ich mir vorgenommen, am letzten Sonntag des Jahres ein bisschen Dankbarkeit zu zeigen und den Bewohner und Bewohnerinnen die Hand zu reichen. Ich habe am Morgen viele Sachen auf das Trottoir gestellt (Gurkenglas, Oliven, Spielzeug, eine (kaputte) Tasche und Spaghettibesteck). Ausser der Tasche liegt jetzt nichts mehr draussen.

Und am Abend bin ich mit dem Tram zum Hauptbahnhof gefahren. Im Tram sassen irre viele Frauen. Ich vermute: Alle Singles. Da habe ich plötzlich verstanden, warum man fast immer nur vier AA-Batterien kaufen kann: zwei für die Fernsehbedienung und zwei für den Vibrator.

Beim Hauptbahnhof stieg ich aus. Demütig stand ich vor dem Alfred-Escher-Brunnen. «Danke, Alf, danke Zürich». Ich warf Kleingeld in den Brunnen und fuhr mit dem nächsten 7er-Tram wieder zurück nach Wollishofen.

4 Kommentare zu ««Danke Alf, danke Zürich»»

  • Diego sagt:

    Meister Frenkel, Sie sind eine Bereicherung für den Stadtblog.
    Guter Flow und guter Humor, keine angestrengte Polemik und vor Selbstverliebtheit strotzende Moral wie bei *Räusper* na Sie wissen schon…

    P.S.: Die Deutschen gehen mir auch mächtig auf den Sack!

  • Lichtblau sagt:

    Grosse Klasse, Herr Frenkel. Einmal mehr.

  • Tim Birke sagt:

    Ein köstlicher Artikel, schon der Anfang ist glänzend.

    Zürich ist gut, wenn wir ein Bisschen mehr Herzlichkeit hätten wäre die Lebenqualität um 100% höher. Ich werde nun auch eine Münze in den Alfred-Escher-Brunnen werfen.

  • irene feldmann sagt:

    Hhhhhhhhhhhhhh!!!! Geniallllll!!:::))))))4AA :)))))

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