Oasen in der Stadt

Am Stephanstag habe ich den grauen Flanelltrainer anprobiert, den ich kürzlich im Decathlon von Mulhouse gekauft habe. Rocky trug im Film dieselben ausgebeulten Trainerhosen, als er sich in Philadelphia für seinen grossen Kampf vorbereitete, die Kapuze über den Kopf gezogen.
«Du siehst schrecklich aus!», sagte mein älterer Sohn, «wie ein Hip-Hopper». Er weigerte sich, mit mir auf den Pausenplatz zu gehen, um Fussball zu spielen. «Was hast du gegen Hip-Hopper?», gab ich etwas gereizt zurück. «Nichts», sagte er, «aber du bist keiner. Du bist zu alt.» «Ich trug diese Trainer schon als Kind», brummte ich, «als es noch keine Hip-Hopper gab.»
Bloss damals kaufte ich die Trainer in einem Zürcher Sportgeschäft oder später einem Kleiderladen mit coolem Sortiment – und nicht in einer grossen Halle in einem Elsässer Industriegebiet, das man ohne Navigationsgerät gar nie finden würde. Decathlon ist eine französische Ladenkette mit Sportartikeln, vom Velohelm bis zum Biwakzelt. Unschlagbar billig, mit Filialen in halb Europa, immer der gleiche Grundriss, der Ikea des Sports. In der Schweiz gibt es noch keine Niederlassung, darum muss man hinfahren. Oder online bestellen.
Früher wäre es mir doch nie in den Sinn gekommen, für einen Trainer und einen Velohelm im traurigen Industriegebiet von Mulhouse herumzukurven. Ehrlich gesagt, ich würde es auch heute nicht machen, wenn ich nicht zufällig in der Nähe Freunde besucht hätte. Aber jetzt bin ich angefixt. Ich kann nicht mehr in ein Zürcher Sportgeschäft, ohne die Preise zu vergleichen.
Ich gehöre nicht zu den Leuten, die nach Deutschland fahren, um einzukaufen. Das habe ich nie gemacht. Aber wenn ich in Italien oder in Frankreich in den Ferien bin, lade ich vor der Heimreise das Auto mit Olivenöl, Käse, Fleisch oder Tomaten. Das meine ich, wenn ich sage, wir sind ins Rutschen geraten. Das Lohnniveau in den umliegenden Ländern ist ein unaufhaltbarer Sog. Auch wir sind Grenzgänger geworden, in die umgekehrte Richtung.
Das Rutschen wird nicht aufzuhalten sein. Es droht, alles mitzureissen, das Fundament unserer sozialen Beziehungen. Wir leben nun mal in einem System, das darauf aus ist, möglichst billig zu produzieren.
Als reuiger Sünder sage ich, man soll an Weihnachten möglichst Sachen schenken, die all jene unterstützen, die sich in der Stadt halten, die Oasen des Geschmacks und der Zivilisation, selbst wenn man Trainerhosen von Decathlon trägt. Die guten Büchergeschäfte, vor allem die kleinen mit ihrem kühnen Sortiment. Die Kleiderläden, die noch selber nähen lassen und wo lokale Designer ihre Sachen verkaufen. Die Plattenläden, die Veloläden, die Metzgereien und Bäckereien, die Sportgeschäfte, ja die Sportgeschäfte, vor allem die erschwinglichen. Und Les Videos an der Zähringerstrasse, den Videoverleih mit über 20 000 Filmen.
Die haben ein neues System, man kauft sich ein Jahresabo für 365 Franken und zahlt nichts mehr, wenn man einen Film ausleiht. Man muss ihn auch nicht sofort zurückbringen, man kann Serien schauen ohne Zeitdruck, Flat Rate nennen sie das System, es fehlen noch 50 Abonnenten, dann sind sie in den schwarzen Zahlen, und unserer Stadt bleibt eine Oase erhalten.
9 Kommentare zu «Oasen in der Stadt»
Wir alle haben doch schon mal hässliche Kleider gekauft, ob in Tsüri oder im Ausland. Und dass man sich vor den Kindern mit seinem eigenen Geschmack blamiert, ist weiss Gott menschlich. Daraus einen katholischen Text zu machen (Sünde – Reue – Umkehr), finde ich übertrieben. Aber bitte, wer es hat und vermag soll ruhig weiterhin in Apotheken zu Apothekerpreisen einkaufen.
Mir geht dieses linksliberale Geeiere auf den Sack. Heul, der Markt ist ein Naturgesetz, da kann man einfach nichts tun. Aber an Weihnachten, da mache ich blablabla. usw usw. Und abseits von diesem abspaltenden Gerede, eigentlich ein Alibi, macht man voll mit, findet die Globalisierunng toll, die neuesten It-Gadgets, die in China unter misserablen Zuständen produziert werden, fliegt übers Wochenende zum Fussball nach Paris und leidet am Klimawandel, wenn im TV wieder einmal davon berichtet wird usw. Das ist doch einfach zynisch (und dabei moralisierend und belehrend). Und das Ganze verpackt in einen selbstästhetifizierenden pseudoironischen Pseudorelativismus.
Stellen Sie sich vor: Auch ich fahre regelmässig zu Decathlon in Kingersheim (nicht Mulhouse, wie Sie schreiben)! Bei den dortigen Preisen lohnt sich eine Fahrt sogar aus Zürich. Wenn dann die eh schon reduzierten Preise ein zweites und ein drittes Mal heruntergesetzt werden, lacht einem das Herz dermassen, dass man sich gleich nebenan auch noch im Supermarkt mit allerlei französischen Spezialitäten eindeckt. Und wenn ich auf dem Rückweg im Rheincenter in Weil-Friedlingen feststelle, dass die dort angebotenen Migros-Produkte billiger als in der Schweiz sind, frage ich mich schon, was die Schweizer Detailhändler zu klagen haben, wenn sie sich einen solchen Unfug glauben leisten zu können…
Schön wenn man sich das alles so leisten kann !
ich fahre auch nicht regelmässig über die grenze, um einzukaufen. da wir kürzlich in basel ein konzert besuchten, fuhren wir am nächsten morgen nach st. louis, um ein wenig zu shoppen. eine flasche single malt für rund 32 euro. die genau gleiche flasche in ‚meinem‘ whisky shop hier in der stadt: rund 90 franken. bei aller liebe zum hiesigen gewerbe: wenn ich diese flasche hier in der stadt kaufe, unterstütze ich in erster linie einen generalimporteur, der den hals nicht voll genug bekommen kann, und das geht mir ganz gewaltig gegen den strich. der endkunde ist nicht pirmär der ’schuldige‘ am ladensterben, unsere politiker die parallelimporte verhindern sind’s.
Das lieber geezer ist aber zu kurz gedacht ! Es müssten alle und alles – und das ohne Ausnahme – auf ein Niveau wie in Deutschland oder Frankreich runter, damit es funktionieren kann. Nur wenn die Ware ähnlich teuer wie hinter der Grenze ist, nur dann wird wieder vermehrt im Land eingekauft werden.
In D müsste man bspw. die Agenda 2010 rückgängig machen, es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass diese neoliberale „Reform“ gar nicht nötig gewesen wäre. Zudem unter dieser Reform D zum grössten Niedriglohnsektor wurde, und erst dadurch zum „Exportweltmeister“ wurde (und damit den Euro in Schieflage gebracht hat). Und dabei die in D Arbeitenden gar nicht an diesen Gewinnen beteiligt hat. Man müsste die „Reform“ rückgängig machen, und sowieso Lohnerhöhungen plus massive Investitionen in die Infrastruktur. Aber es läuft alles gegenteilig, man ist daran, die Autobahnen, die Altervorsorge, Bildung usw. zu privatisieren…
Michael: das ganze nennt sich ‚freie marktwirtschaft‘. daher ist es gut und richtig, dass die schweizer kunden aktuell milliarden im grenznahen ausland ausgeben. nur so kann die politik gezwungen werden, kartelle, überflüssige schutzzölle, künstlich geschaffene monopole etc, endlich abzuschaffen und die eigene wirtschaft wieder anzukurbeln. was sie momentan auf dem rücken der detailhändler austrägt, ist für die natürlich sehr unerfreulich. als kunde bin ich grundsätzlich bereit, in der schweiz höhere preise zu bezahlen (anderes preisumfeld, höhere mietkosten etc.), aber was im moment abgeht, steht in keinem verhältnis mehr (siehe mein beispiel oben).
Dann sagen Sie das mal den lieben hiesigen Firmenbesitzern und dem entlassenen und durch eine jüngere und billigere sog. Fachkraft entsorgten Ü50, aber möglichst noch vor dessen Aussteuerung.