Tempel des Fortschritts

Vor ein paar Tagen realisierte ich, dass die Fraumünsterpost verschwunden ist. Wobei, es gibt sie noch als Poststelle neben der Brasserie Lipp an der Urania, im ehemaligen Feinkostgeschäft, wo der Traiteur Seiler drin war, aber es ist nicht mehr dasselbe. Die alte Fraumünsterpost war 1891 im Stil eines toskanischen Palazzo erbaut worden; man hat die Schalterhalle vollgestopft mit dem üblichen Postramsch, aber sie erinnerte irgendwie an die Zeit, als die Hauptpost einer europäischen Stadt ein Tempel des Fortschritts war, der weltweiten Kommunikation, des globalen Handels: quasi das Internet des 19. Jahrhunderts.
Meine Mutter hat dort gearbeitet, als ich klein war, im Saal mit den Rechenmaschinen, hinter dem Schalterraum, wo die Einzahlungen addiert wurden. An langen Pulten stand Rechenapparat hinter Rechenapparat, ein riesiger Galeerenraum voller fleissiger Frauen, in dem es endlos ratterte, die Musik des Kapitalismus.
Jetzt kommt dort ein Lidl hinein. Sang- und klanglos, der Auszug der Post war still. Zürich ist eine nüchterne Stadt, pragmatisch, eine Businessstadt, man schaut nach vorne. Der Geist der alten Post wird entschwinden, ins Museum, wenn mal eine Ausstellung über die Gründerzeit organisiert wird.
Dabei macht doch das Nebeneinander und Übereinander verschiedener Zeitebenen die Faszination einer Stadt aus. Der Geist der Gründerzeit gehört nicht ins Museum, sondern dorthin, wo er weiterlebt. Man muss drinstehen in der hohen Schalterhalle und seine Einzahlungen machen. So ein Gebäude ist mehr als eine Hülle, mehr als eine Fassade, bloss um die historische Bausubstanz zu bewahren. So, wie auch der Geist des Mittelalters weiterlebt in der Stimmung der Kathedralen, die noch heute zum Gottesdienst rufen.
Städte haben eine Geschichte, diese braucht Platz, um sich zu manifestieren.
Wenn aber Städte nur noch die grössten Hits der Vergangenheit bewahren, ihre Best-of-Liste, dann verliert sich das Nebeneinander und Übereinander der Zeitebenen, dann dünnen die Städte aus, es gibt nichts mehr zu entdecken. Klar kann man sagen: Megacool, so ein Lidl in der alten Post, das Leben ist Wandel, alles fliesst. Aber irgendwann ist die alte Post vergessen – wer weiss noch, dass die Apotheke am Bellevue mal ein Café war, die verschwundene Hälfte des Odeons? Und das Café Forum an der Badenerstrasse ein Kino, die grösste Revolverküche der Stadt?
Zugeben, man muss das nicht unbedingt wissen. Aber so eine Hauptpost ist das Symbol einer Epoche – was wäre Genf zum Beispiel ohne den Postpalast an der Rue du Mont-Blanc, grösser und feudaler als die Fraumünsterpost?
Übrigens, Genf. Kürzlich war ich dort, und man hat als Besucher das Gefühl, die Stadt sei etwas gemütlicher als Zürich, zugänglicher, lebendiger. Weniger durchgestylt, weniger von Trends getrieben, weniger auf Hype aus, weniger aufgeregt, weniger darauf aus, oben zu bleiben und nichts zu verpassen, was andernorts läuft.
Aber gut, jetzt kommt Lidl. Logistisch eine gute Wahl. Der Markt am Bürkliplatz liegt in der Nähe, das wird ein lustiger Preisvergleich. Und die Lieferwagen können problemlos in den Hof der alten Post fahren, das weiss man seit dem Raubüberfall von 1997.
8 Kommentare zu «Tempel des Fortschritts»
Wann haben Sie denn das letzte mal die Einzahlungen am Postschalter gemacht, Herr Gimes?
Ich war heute zufällig in Büren an der Aare. Wie wohl war es mir dort.
Ja, Zürich hat sich seit dem Mittelalter eben negativ entwickelt. Es gibt einfach noch zu viele Zürcher.
Das Gegenteil ist Bern. Auch im Jahr 2200 wirds dort noch exakt gleich aussehen. Man kann das gut oder schlecht finden, Tatsache ist aber, dass Bern mit seinen bescheidenden +/- 120’000 Einwohner immer noch mehr „Stadt“ ausstrahlt als Züri, Leider.
Nicht zu vergessen das Kino Apollo am Stauffacher. Das wurde der Standortwahl der SBG, heute UBS, geopfert. Und heute ist es ein „stiereres“ Bürohaus. Die fantasie- und leblosen Neubauten in Neu-Oerlikon, Europaallee
und zwischen Hohlstarasse / Zollfreilager zeigen das wahre Interesse der Bauherschaft: Maximalen Profit mit minimalem Aufwand. Ich hoffe sehr, dass das Kongresszenrum am Sihlquai oder Geroldareal nie gebaut wird. Es würde bestimmt genauso leblos und überteuert sein wie die obgenannten Bausünde.
„Weniger durchgestylt, weniger von Trends getrieben, weniger auf Hype aus, weniger aufgeregt…“…das würde zürich tatsächlich sehr gut tun. wenn ich nur an die unsäglichen neuen überbauungen im ehemaligen zollfreilager, an der albula- und hohlstrasse denke: das man so etwas als architektonisches hightlight bezeichnen kann, lässt sich wohl nur mit oben genanntem ‚auf hype aus sein‘ erklären. da schlägt wohl nur ehemaligen plattenbautenbewohnern aus dem europäischen osten das herz aus purer sentimentalität höher. ich persönlich finde es sehr schade, dass solch schöne gebäude, wie die fraumünsterpost es war, für einen simplen billigdiscounter ‚missbraucht‘ werden.
Auf Hype aus? Bei den genannten Beispielen: Meinen Sie Hyp(othekarzins)e(n)?
nein. die ‚wahnsinnig kontemporäre, spannend kreative architektur‘ der oben genannten bausünden…..