So gar nicht wie in Köln

Es hätte jeder dieser Männer sein können, der für Camille kocht.
Die 28-jährige Studentin Camille* hat in Zürich zwei Flüchtlinge bei sich in der Wohnung aufgenommen, zwei junge Männer. Geschichten wie die ihre liest man selten in den Medien, weil sich damit weder Zeitungen noch Politik verkaufen lassen. Wir wollten sie euch trotzdem nicht vorenthalten, rückt sie doch einiges ins rechte Licht:
Ich hatte drei Monate lang zwei Mitbewohner, zwei mir bis dato fremde Männer und ich, eine junge Frau, lebten gemeinsam in einer Zweieinhalbzimmerwohnung.
Jeden Abend stand das Essen schon auf dem Tisch, wenn ich nach Hause kam. Wir schauten währnd des Essens gemeinsam YouTube-Videos auf meinem Smartphone und versuchten, uns zu unterhalten. Im Gegenzug zum Kochen habe ich mich um die Wäsche gekümmert. Als ich krank war, hat mir der Grosse (ich nenne sie der Grosse und der Kleine) scheussliche Teemischungen mit Kardamom zusammengebraut. Und meine Geschirrspülmaschine stand immer still, weil die beiden alles von Hand abwaschen wollten.
In ihrer Freizeit – davon haben sie reichlich – machen die beiden Sport, erkunden die Stadt, lernen Deutsch, denken nach und schreiben ihren Verwandten. Als ich aus meinem Urlaub zurückkam, fand ich mein Zuhause genauso tadellos vor, wie ich es verlassen hatte. Und manchmal gab es morgens Stau vor dem Bad. Ein Bad, das sich nicht mit dem Schlüssel verriegeln lässt und in dem ein kleines Tischchen steht, in dem ich Schmuck aufbewahre. Das war unser Alltag.
Fast so wie in jeder WG halt. Eigentlich nicht der Rede wert. Fast. Und eigentlich. Denn die beiden kamen mit zwei mittelgrossen Rucksäcken nach einer gut zweiwöchigen Reise über den See- und Landweg (Ja, im Gummibot und Nein, keine Islamisten) aus Syrien am Zürcher HB an. Dort habe ich sie an einem Donnerstag um 22 Uhr abgeholt, nachdem ich am Nachmittag über sieben Ecken angefragt wurde, ob ich wohl Platz hätte. Ich hatte keine Ahnung, wer da kommen würde und ich hatte bis zu jenem Nachmittag auch nicht vor, mein Zuhause zu teilen.
Ich hatte auch nicht vor, diese Geschichte in die Öffentlichkeit zu tragen. Sie hat offenbar keinen News-Wert.
Nach der Kölner-Silvesternacht hat sie aber vielleicht doch gesellschaftliche Relevanz erhalten. Social Media-Kommentatoren und Medienschaffende haben sie geschaffen, die Relevanz. Indem sie oftmals nicht nüchtern, nicht differenziert, nicht einfachsten juristischen und wissenschaftlichen Grundlagen entsprechend (und das sollte man zumindest von Journalisten erwarten können) mithalfen, eine ganze Ethnie in ein schlechtes Licht zu rücken.
Jetzt ist die Geschichte von der 28-jährigen Frau, dem 31-jährigen Moslem und dem 21 Jahre alten nicht-Gläubigen, den drei Menschen also, die sich nie zuvor begegnet sind und keine gemeinsame Sprache sprechen und die – ein wenig improvisiert, aber gut – zusammen leben, eben doch wichtig geworden.
Weil wir drei den Gegenbeweis antreten. Dabei sind wir kein Einzelfall. Geschichten wie unsere finden einfach nicht in der Öffentlichkeit statt. Es macht schliesslich wenig Sinn zu berichten, dass nichts passiert. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich hätte mir in der ersten Nacht nicht Gedanken darüber gemacht, ob das gut kommt, was da überhaupt auf mich zukommt. Man hörte ja so allerlei. Keine 48 Stunden später waren mir diese Gedanken peinlich, heute muss ich darüber lachen.
Diese beiden Jungs, die aus «Kulturkreisen mit einem hochproblematischen Frauenbild stammen und jetzt entwurzelt, allein und mittellos an den Rändern der hiesigen Gesellschaft leben» (wie Michèle Binswanger das jüngst formuliert hat), sie sind tatsächlich entwurzelt, sie fühlen sich sicher oft alleine und sie sind mittellos. Ihr Menschenbild indes ist, so konnte ich feststellen, das gleiche wie unseres. Sie finden es schlimm, was da in Köln passierte, oder in Paris. Weil – Achtung, breaking News – es eben nicht ihren Moralvorstellungen entspricht. Weil es für sie genauso falsch ist, Menschen zu bestehlen, zu verletzten oder gar zu töten.
Die beiden fürchten sich vor Ereignissen wie den Pariser Terroranschlägen und jetzt dem in Köln weitaus mehr als ich, das potentielle Vergewaltigungs- und Terroropfer.
Zu Recht. Sie werden in Sippenhaft genommen, sie gehören jetzt eben zu diesen nordafrikanischen oder arabischen Männern, zu diesen muslimischen Flüchtlingen, die ja schon in Köln Frauen begrabscht haben. Ich hingegen kann mich in Zürich weiterhin frei bewegen, die Wahrscheinlichkeit, dass mir etwas zustösst, ist statistisch gesehen gering.
Noch geringer ist jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass mir im Fall der Fälle ein einheimischer Fremder zu Hilfe eilen würde.
Es ist etwas Schlimmes passiert. Die Täter, die in Köln oder wo auch immer Frauen bedrängt oder sogar vergewaltigt haben, sind in aller Schärfe zu verurteilen. Sie müssen Konsequenzen für ihre Taten zu spüren bekommen. Aber nicht der Grosse und der Kleine, nicht all die anderen. Wir haben einen Rechtsstaat, wir haben Beamte und Gerichte. Wir hatten bisher keine Sippenhaft. Unsere Gesellschaft fusst auf rechtsstaatlichen Prinzipien – und die sollten wir verteidigen.
Anmerkung: Der Stadtblog bringt diese Geschichte nicht in erster Linie, weil sie zeigt, dass auch nordafrikanische Flüchtlinge ganz normale Menschen sind. Das wussten wir schon vorher. Wir bringen diese Geschichte, weil sie zeigt, wie Schweizer sein können.
*Camille wollte nicht unter ihrem echten Namen schreiben, was wir respektieren. Sie wollte die jungen Männer und sich nicht zur Zielscheibe fremdenfeindlicher Angriffe und abwertender Äussserungen machen, weshalb wir im Stadtblog für einmal keine Kommentare zu dieser Geschichte zulassen.
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