Hassliebe Street-Parade

Die alte Liebe ist tot, und lässt sich auch mit viel Alkohol nicht wiederbeleben.

Die alte Liebe ist tot, und lässt sich auch mit viel Alkohol nicht wiederbeleben.

Natürlich hassen alle, die von sich behaupten, «echte Stadtzürcher» zu sein, die Street-Parade. Sie jammern über die vielen Leute (zu Recht), behaupten von sich, dass sie an diesem Wochenende in die Berge fliehen, was – zum Glück für die Bündner und andere Fans der Zürcher – meist gelo​gen ist. Sie bemängeln die Qualität der DJs, oft, oh​ne deren Namen zu kennen. «Street-Parade ist böse» gilt als anerkanntes Hipster​-Mantra rund um die Langstras​se.

Zäh​neknirschend organisieren die Zürcher Clubs ihre Street-Parade-Specials und stecken verschämt die zusätzlichen Einnahmen dieses Wochenendes ein. Es gibt alternative Anlässe, die dem urbanen Zürcher das Gefühl geben sollen, man sei dann doch irgend​ wie anders als die anderen. Man definiert sich über die Street-Parade, so wie sich die Satanisten über die Bibel definieren.

Und witzigerweise gehen viele meiner Freunde dann doch, inkognito. Schleichen sich quasi mit bedecktem Gesicht durch die Massen und wippen ekstatisch hinter einem Baum mit dem Fuss. Trifft man sie dann an, führts zu einer peinlichen Sekunde, bevor jeder seine Entschuldigung («Ich musste eh grad quer durch die Innenstadt zum Metzger» oder «Ich zeig grad meinen Be​kannten, was wir in Zürich je​ des Jahr über uns ergehen lassen müssen») hervorbringt. Man glaubt sich und versichert sich nochmals nachdrücklich gegenseitig, dass man die Parade hasst.

Das war nicht immer so. Früher haben alle heutigen Nörgler die Street-Parade geliebt. Früher war eben alles besser. Natürlich war jeder bei der ersten Street-Para​de mit dabei. Wenn damals, am 5. September 1992, wirklich jeder um die zwei klapprigen Love-Mobiles getanzt wäre, der das von sich behauptet, wären schon damals eher 20 000 als 2000 Leute dabei gewesen.

Aber meine Generation, die Ü-40, ist sich sicher, dass der Pioniergroove, der damals herrschte, den eigentlichen Wert ausmachte, und nicht etwa das überteuerte MDMA in kleinen Kapseln mit Sonnen oder Monden drauf (das sich übrigens nach einer exzessiven und euphorischen Nacht laut einer befreundeten Apothekerin als Hustenmedikament entpuppte). Es waren auch nicht unsere eigenen Hormone, unsere eigene Selbstverliebtheit, die diesen Anlass zu einem Meilenstein in unserer individuellen Geschichte machten. Es war «die Zeit damals». Ehrenwort! Nun sind wir älter, und der Grossanlass bietet uns nicht mehr die emotionale Grösse, mit der er vor 20 Jahren unsere wach​senden Persönlichkeiten ausfüllte.

Aber eben, man schönt die ei​gene Jugend. Auch Zürcher, die erst in ihren späten Zwanzigern sind, behaupten, dass die Parade 2003 noch viel mehr «Spirit» hatte. Und wahrscheinlich wer​den die 18-Jährigen, die dieses Jahr teilnehmen, in zehn Jahren schwören, dass es 2015 noch viel spezieller war.

Es hilft, den eigenen Mythos zu erhalten, wenn man sich von der augenblicklichen Street-Para​de distanziert. Das kann man daran erkennen, dass es gerade die alten Raver und die Club-Hipster sind, die sich am klarsten vom Massenanlass abgrenzen. Weil es schmerzt, wenn sich die eigene Jugend nicht festhalten lässt und aus dem Persönlichen plötzlich «Mainstream» wird.

Überhaupt, der Pöbel spricht ja noch immer vom grössten «Techno»-Anlass (die Anführungszeichen sind beim verächtlichen Aussprechen mit den Fingern in die Luft zu malen), während die Kenner und Connaisseure von «EDM» sprechen, elektronischer Tanzmusik. Da zeigt sich der Unterschied zwischen Nightlife-Fachkräften und den Frisösen aus Süddeutschland, die sich in Bikinis auf erdölvernichtenden Riesenlastern um das Seebecken karren lassen.

Pfui.

Man feiert dieses Wochenende im engeren Kreis, also mit den gleichen 150 Leuten, die man so​ wie​ so schon jedes Wochenende im Halbdunkel der Clubs erahnen kann. Nicht, dass man morgens um Vier dann noch einen Unter​schied zwischen den beiden Arten von Feiernden ausmachen könnte. Beide sind hackedicht, und dass die einen das Dreifache für Drinks und Drogen bezahlt haben, ist nicht mehr zu erkennen.

Es ist nicht ein Unterschied der Qualität, sondern ein Unterschied des Intervalls. Während sich die einen ein ganzes Jahr zurückhalten und dann im August zwei Tage die Sau rauslassen, schwingen die anderen in einer kürzeren Frequenz, jubeln nach je​der harten Arbeitswoche «Thank God It’s Friday» und versinken dann bis Sonntagmorgen in einer elektronisch untermalten Halbwelt.

Irgend​ wie entbehrt es auch nicht einer gewissen Ironie, dass die Clubbetreiber, die ihre Nase über die Street-Parade rümpfen, nun selbst von ihren Nachbarn als «Ballermann-Partyveranstalter» kritisiert werden, weil ihre Gäste sich jedes Wochenende wie an einer endlosen Street-Parade verhalten.

Mit der Street-Parade verhält es sich ein wenig wie mit einer Ex-Freundin: Man hatte Spass mit ihr, man hat sich getrennt, und eine Weile erträgt man es nicht, wenn Neue sich an ihr erfreuen. Inzwischen ist sie älter, hat etwas zu​ genommen und wirkt in den Klamotten aus ihrer Jugend etwas vulgär. Man gönnt ihr den Spass, will aber nicht unbedingt am Strassenrand stehen und dabei zuschauen. Man wird schmerzlich daran erinnert, dass die eigene Beziehung zu ihr in eine andere Lebenszeit gehört. Oder man führt sich so peinlich auf, als ob keine Zeit vergangen wäre, und versucht, sie nochmals ins Bett zu kriegen.

Und ich? Ich mag die Street-Parade nicht. Es ist einfach nicht mehr wie früher. Aber ich mag auch die heutigen Clubs nicht, weil damals, in den illegalen Bars der 90er, war doch alles noch viel …

(Der Originaltext erschien am 30. August in der Sonntagszeitung)

29 Kommentare zu «Hassliebe Street-Parade»

  • Sarah Sunshine sagt:

    John & Rosi waren an der SP http://www.srf.ch/sendungen/grueter-und-buergin/wir-waren-an-der-street-parade-und-hatten-spass und hatten Spass. Man sollte sich auf solchen events einfach mal gehen lassen. Dass Kreativität bei Jedem/r aufgrund individueller Lebensumstände und Bildungshintergründe anders aussieht, liegt ja in der Natur der Sache. Doch jeder bekommt im heutigen System selten noch die Chance, sich mal wirklich locker gehen zu lassen, auf der SP geht es noch. Darin liegt der Mehrwert und den finde ich gut.

    • kritiker sagt:

      ich sehe es gerade umgekehrt. die streetparade heutzutage steht der systemänderung im weg. sie ist teil des systems.

  • Michael sagt:

    EDM ist die US-Amerikanische Bezeichnung für elektronische Musik und Techno das, was SRF nutzt(obwohl Techno eine eigene Stilrichtung innerhalb des Umbrella-Begriffs ist). Richtige Europäer nutzen diesen wir-müssen-uns-von-Country-und-Hip-Hop-abheben-Begriff nicht, sondern sagen schlicht „elektronische Musik“.

    Ausserdem: Beat on the Street, 12.9. in Basel. Hat sich bisher über die Jahre nicht verändert.

    • Johannes sagt:

      Bekommen richtige Europäer dann auch ein Tattoo, dass sie richtige Europäer sind? Freunde sagen übrigens einfach, wir gehen zum Elektro, und das sind auch sehr richtige Europäer.

  • Wynton Grunder sagt:

    Interessiert denn dieses Hipster-Gekribbel, dass von einem stammt, der alles tut, um kein Hipster sein zu müssen, wirklich jemand? Jetzt fragen wieder zwei, „und wieso kommentierst denn DU?“.. Ehrlich gesagt ist das „Zentrum“ von Zürich schon lange nicht mehr die Langstrasse. Aber wenn sein eigener Müllcontainer zu einer veganen Disko mit Deutschem Schlager und Elektro-Pop aus Burundi umgebaut wurde, merkt das vielleicht auch der Herr El Arbi. Und ja, die Streetparade ist Scheisse und war es schon immer. Am Schlimmsten ist die Lethargie, wo sich Ü45-Raver gegenseitig versichern, wie anders (unkommerziell) hier alles ist. Ja ich war dort, ich musste, habe 1500 für 3h verdient…

    • Réda El Arbi sagt:

      Du reagierst auf „Hipster“, wie ein Hund auf einen Knochen. Darum macht Hipsterbashing so Spass 🙂

      • Wynton Grunder sagt:

        Die jüngsten Zahlen von TA-Media waren zu schlecht, als dass man derartige Hipster-Neurosen noch lange durchfüttern könnte…

        • Réda El Arbi sagt:

          🙂 Solange du wiederholt auf meine Beiträge klickst, bin ich auf der sicheren Seite 😉

          • Wynton Grunder sagt:

            Das Business-Model habe Sie nicht richtig verstanden. Aber das ist nun wirklich nicht Ihr Job, die Online-Fränkli einzutreiben. TA-Media macht viel Geld mit Online-Produkten, dass hat aber nichts mit Online-Artikeln zu tun, dort sieht es zappenduster aus -nicht einmal Kosten deckend, kann man im jüngsten Semesterbericht Seite 16 resp. 19 nachlesen.

            • Réda El Arbi sagt:

              Tja, wenn du kurz gegoogelt hättest, wärst du drauf gekommen, dass ich freier Journalist und Dozent für Online-Kommunikation bin und den Stadtblog eigentlich nur führe, um mich mit Leuten wie dir zu kabbeln.
              Aber ich erklär dir gerne mal bei einem Kaffee, was Content und Monetarisierung im Bereich Online miteinander zu tun haben. *kopftätschel*

      • tststs sagt:

        Oje… „Interessiert denn dieses Hipster-Gekribbel,…wirklich jemand?“ Offensichtlich, sonst würden auch Sie keinen Kommentar dazu schreiben…
        Und so von wegen Wasser predigen und Wein trinken: alles Scheisse finden, aber dafür abkassieren… heieiei, das nennt man dann wohl… Künstler-Publikum-Bindung?!?

    • Ben sagt:

      Da hast Du Dich aber übers Ohr hauen lassen, der Grundverdienst war 15.000 für 3h.

  • Hannah sagt:

    Ich finde ok, dass es noch öffentliche Feieranlässe wie die Greekparade gibt, wünschte mir aber auch mehr Reflektion, indem man etwa jeden Wagen mit einer der zahlreichen dringenden politisch alternativen Botschaften bekleidet. Die Streetparade hätte auch heute noch das Potential für Inhalt und mehr. Die Loveparade gibt es nicht mehr und ihr fehlten zuletzt auch die messages im Detail, der Zug der Liebe http://zugderliebe.org/ hat dieses Jahr einen Neuanfang gewagt.

  • Maiko Laugun ★Un-Maskiert★ sagt:

    Ich dachte, Sie wollen zu diesem Thema hier nicht mehr schreiben? Nicht das mich das stört, denn ich konnte diesem Event, ein Sinn- u. Abbild einer auf Staatsschulden basierender dekadenten Konsumgesellschaft mit resultierender Massenverblödung, noch nie etwas abgewinnen, ausser vielleicht so etwas wie Innovation und Freude bei den Teilnehmern in den ersten paar einzelnen Jahren. Aber sonst und seither? Die totale menschliche Verblödung. Aus den Augen, aus dem Sinn, im wahrsten Sinne des Wortes, die ganzen Abfallberge und der Gestank, vergessen und verdrängt früher, heute nicht mal mehr wahrgenommen, zum generalisierten gesellschaftlichen Recht erhoben und durch massenhafte Sefie’s bezeugt, eben, der dekadente Abschaum, nicht maskiert, nein, eigentlich de-maskiert.

    • tststs sagt:

      Ichweissichweiss…früher hat man halt eine grosse Grube ausgehoben und den Müll hineingekarrt…noch früherer landete sämtlicher Hausabfall (inkl. Nachttopfinhalt) direkt auf der Strasse… aber eben, wie Sie schreiben, dazumal einfach „vergessen und verdrängt“… insofern gehört Dekadenz und Abschaumtum wohl zur menschlichen Natur…

      • Maiko Laugun ★Un-Maskiert★ sagt:

        @tststs: Früher wurden diese Gestalten gleich selbst in die Grube gekarrt oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ob zurecht oder nicht, ist wieder eine andere Frage 🙂

  • chris toff sagt:

    ich sollte mehr lotto spielen.

    aber zur abwechslung mal ein recht versöhnlicher bericht – bis auf die kotzerei und pisserei – das ist eklig.

    • tststs sagt:

      Ich hatte wohl grosses Glück, zwischen 14 und 20 Uhr bin ich genau 1x an Gekötzeltem vorbeigelaufen… und das war tatsächlich in einem Kotzkübeli, wie es einem die Mama früher ans Bett gestellt hat 😉

      • Réda El Arbi sagt:

        Offenbar hat sich die SBB ein Vorbild genommen. In der S12 haben alle in die Kotzkübeli unter dem Tischli gekotzt. Also, fast alle.

        • tststs sagt:

          Hehe… ja also auf eine Sichtung der Viehtransporte (und auch der Stallungen…äh Clubs) habe ich wohlweislich verzichtet.
          Man will ja auch nicht in den Hühnerstall schauen, der die TschickenMäggNöggets liefert 😉

      • chris toff sagt:

        und wie fast jedes jahr seit dem offiziellen alkverkauf an der route, bin ich mit meinen vikinger- und down-under freunden in eine schlägerei gelaufen. zuerst hat die eine der anderen eine geknallt, dann der typ der schlägerin ihr auch noch eine gefeigt. inmitten einer million leute. DAS kotzt MICH an!

        echt, demonstration für frieden und toleranz!? die verdammten quadratschädel sollen sich ihre köppe doch in den eigenen vier wänden einschlagen, dann ists für die friedlichen besucher auch wieder erträglicher.

        • Maiko Laugun sagt:

          „..demonstration für frieden und toleranz!?“

          Nur weil bei einem Leichenumzug alle verkleidet sind, bedeutet dies nicht, dass alle ehrlich trauern und der Verstorbene ein guter Mensch war. Das wird nur behauptet. Wer an einem Begräbnis teilnimmt, muss mit Tränen rechnen.

  • Patrick sagt:

    ich wohne seit ca hundert jahren in zürich.
    wieso sollte ich die street parade hassen? ich finde dieses anti- oder pro-getue wird überbewertet. man kann locker diesen tag in zürich verbringen, am baden oder geburi-fest feiern o.ä, und merkt gar nicht, dass da 1 mio menschen den see entlanglaufen. ausser man schaltet zuhause mal diesen lokalen zürisender ein, der live davon berichtet.

    • Réda El Arbi sagt:

      Nun ja, ich nehme an, du lebst nicht irgendwo zwischen Kreis 4 und Seefeld. Da merkt mans nämlich schon. Nur schon am Gestank nach Pisse, an den Leuten, die vor die Türen kotzen und an den Bewusstlosen, die ab 14 Uhr rumliegen.

    • KMS a PR sagt:

      na ja. wenn sie seit hundert jahren in zürich ansässig sind haben sie den gesegneten vorteil, nichts mehr zu hören. 🙂

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