Klauen in Zürich
Gestern las ich den Tagi-Artikel «Der Dieb in dir», in dem es unter anderem um Ladendiebstahl geht. Das weckte Erinnerungen in mir. Ich war in diesem Bereich in meiner Jugend kein unbeschriebenes Blatt. Wenn die Polizeiakten nicht nach 10 Jahren oder so gelöscht würden, könnte man wohl meine Jugendsünden als aufmüpfiger Teenager noch belegen. Damals, mit 15 oder 16, hatte meine kriminelle Ader und mein Drang nach Adrenalin mich dazu verführt, Sachen in Supermärkten zu klauen. Das waren keineswegs Kavaliersdelikte, sondern ganz einfach Diebstahl. Dass ich es in erster Linie für den Nervenkitzel tat, macht aus heutiger Sicht moralisch keinen Unterschied. Dass ich dabei erwischt wurde und eine Strafe kassierte, war wohl einfach nur gerecht.
Und wie sieht es heute aus? Ich dachte, ich stelle mich dem Selbstversuch. Das ganze Projekt war etwas heikel, weil ich nicht die Ladendetektive oder den Manager informieren wollte. Das wäre dann ja so, als ob ich mit Sicherheitsnetz arbeiten würde. Nein, ich wollte mich dem Risiko aussetzen, erwischt zu werden, wie jeder andere Ladendieb.
Der Anfang
Zu Beginn war alles ganz leicht, ich entschied mich für einen hochfrequentierten Detailhändler in Orange (ihr könnt raten, welcher der zwei es war, je nachdem, ob ihr Coop- oder Migros-Kinder seid). Ich kleidete mich dem Wetter entsprechend unauffällig, Feldshorts mit vielen Taschen, ein enges T-Shirt und locker ein offenes weites Hemd darüber. Natürlich durfte auch meine Tasche mit sichtbar heraushängendem Badetuch nicht fehlen. Ich sah aus, als ob ich auf dem Weg ans Wasser wär. Es war später Nachmittag, und wenn man über meine grau gesprenkelten Haare und meine Fältchen hinweg sah, würde ich als fauler Student in den Semesterferien durchgehen. Oder als Dozent.
Als ich lockeren Schrittes durch den Eingangsbereich schlenderte, flutete mich bereits Adrenalin. Ich wollte etwas Grosses stehlen. Ein Gummiboot, ein Fass Bier, einen Sonnenschirm für den Garten. Ich stellte mir vor, wie ich mit meinem Diebesgut beim Management vorsprach und all die Ladendetektive alt aussehen liess. Ja, so kann sich Adrenalin auf einen Mittvierziger auswirken. Grössenwahn und Superhelden- bzw. Superschurkenfantasien.
Drinnen wars dann nicht mehr so einfach. Ich schlich erst mal zwischen den Regalen herum und stellte fest, dass man kaum zehn Sekunden alleine zwischen den Angeboten stehen konnte. Dauernd andere Leute. Also, der Sonnenschirm oder das Gummiboot fiel weg. Bei den Getränken schaute ich mich nach den Kameras um. Und da waren sie. Überall. Orwells 1984 war ein Klacks dagegen. Wo die nur all die Filme speicherten? Oder waren das nur Attrappen? Lieber kein Risiko eingehen. Also, neue Strategie. Ich versuchte mich in den toten Winkel der Kameras zu begeben und da etwas einzupacken. Inzwischen war vom Adrenalinrausch nur noch das Herzklopfen übrig. Nein, stimmt nicht ganz, eine gewisse adrenalinstimulierte Paranoia schien sich in meinem Hinterkopf zu etablieren. Der Typ da drüben war zum Beispiel viel zu warm angezogen für einen Tag wie heute, das musste ein Ladendetektiv sein. Schon wie der da rum schlich. Oder die Dame mit der blauen Bluse. Viel zu locker für ihr Alter und sie schaute sich sicher schon zwei Minuten die Auswahl an Wein an. Ha, nicht mit mir.
Die Mitte
Auf einmal erschien mir das Risiko, erwischt zu werden, unproportional gross für die Beute, die ich würde machen können. Aber ich tat es ja für den Ruhm, um dem Marktmanager triumphierend das Raubgut zu präsentieren. Trotzdem. Es war nicht die mögliche Strafe, die mich stocken liess, sondern die soziale Ächtung. Die Vorstellung, von zwei Ladendetektiven freundlich zur Seite gebeten und dann für alle sichtbar durch den Laden in ein dämmriges Hinterzimmer geführt zu werden, erschien mir plötzlich die grösste aller Strafen. Ich riss mich zusammen, biss auf die Zähne und bewegte mich weg vom vermeintlichen Feind, zwischen zwei andere Regale. Ich griff ohne zu überlegen in ein Angebot und liess den erbeuteten Gegenstand in meiner Hand verschwinden. Die Hand war jetzt verschwitzt, nicht von der Hitze, sondern vom Gefühl, jeder im Laden habe meine Absicht erkannt. Ich fühlte mich ertappt, bevor ich ertappt war. Es war irgendwie wie das Gefühl, plötzlich nackt auf einer Bühne zu stehen. Nur etwas unangenehmer.
Der letzte Schritt, nämlich den Gegenstand aus meiner Hand in meine Tasche verschwinden zu lassen, war beinahe nicht zu bewältigen. Alle schauten. Ich schlich weiter wie ein geprügelter Hund zwischen den Gestellen hin und her. Dann fasste ich mir ein Herz, nahm mit der anderen Hand ein Getränk aus dem Kühlregal und machte mich auf in Richtung Kasse.
Das Ende (Hier spannende Pause)
Natürlich war die Schlange nicht überlang, wie sonst immer – und ich kam schon nach drei Kunden dran, die nur wenige Artikel zu bezahlen hatten. Vielleicht hätte ich nicht an der Express-Kasse anstehen sollen. Aber zu spät. Auf dem Laufband lag nun eine Limonade, die ich nie trinke. Und, nach kurzem Zögern, ein kleiner, silbrig-verschwitzter Lipgloss. Ich staunte mein vermeintliches Diebesgut irritiert an. Die Dame an der Kasse zog meinen Einkauf ohne mit der Wimper zu zucken durch den Scanner. Ich bezahlte 19 Franken.
Man könnte meinen, mein Abenteuer sei hier zu Ende. Aber weit gefehlt! Ich hatte das Gefühl, ich sei so lange im Laden herumgelungert, dass mich die Ladendetektive einfach schon aus purem Verdacht kontrollieren würden. Und sicher würden sie am Ausgang zuschlagen. Ich schielte vorsichtig zur Tür, konnte aber niemanden ausmachen. Oder besser: Jeder und jede konnte ein ziviles Damoklesschwert sein. Die waren doch geschult, wie jeder andere auszusehen. Diese perfiden … Ich ging zum Kiosk im Innenbereich. Kaufte Zigaretten. Schaute mir die Zeitungen an, deren Headlines ich schon online gelesen hatte. Nach einer gefühlten Stunde war ich noch immer auf freiem Fuss. Ich wagte den kurzen Weg, demonstrativ gemächlich, durch die Ausgangstür. Nichts geschah. Ich schaute auf mein Handy. Mein ganzes Abenteuer hatte 11 Minuten gedauert. Die Zeit dehnt sich wohl unter Adrenalin. Die Paranoia hielt noch an, bis ich mehrere hundert Meter zwischen mich und den Laden gebracht hatte.
Fazit:
Ich verfüge noch über genug kriminelle Energie, um mir einen Diebstahl vorzustellen und zu planen. Aber um ihn durchzuführen fehlen mir einfach die Nerven. Und es ist nicht die Angst vor Strafe, sondern das Bewusstsein, dass man so etwas nicht macht. Dass man nicht vor allen Leuten dabei erwischt werden will. Nicht bei Ladendiebstahl. Mein Unrechtsbewusstsein und mein soziales Verantwortungsgefühl scheinen in den letzten 20 Jahren gewachsen zu sein.
Natürlich wäre ein Bankeinbruch was ganz anderes. Den würde ich mit Links durchziehen. Und danach in die Bank marschieren, dem Manager meine Beute vor die Füsse werfen und die Sicherheitsleute mit teuflischem Lachen mit ihrer Unfähigkeit konfrontieren. Ja, genau so wär das.
6 Kommentare zu «Klauen in Zürich»
Oder mal mit einem Mietwagen probieren, einfach nicht zurückgeben und vor der Tür oder beim Verleiher um die Ecke stehen lassen. Wenn die Verleiher vorbeikommen, hatte man den Wagen einfach vergessen. 😉
Mhhh,
ich hab ja als Teenie auch geklaut wie ein Rabe. Nur war für mich der Kitzel eher nicht (nie!) erwischt zu werden. Was mir damals auch gelang. Als ich dann mit den Eltern von dem Ort wegzog wo ein Freund und ich die Masche (er der Auffälliige, der immer kontrolliert wurde und nie was geklaut hatte und ich der Unauffällige, der sich immer „die Taschen für beide vollstopfte“ – größtenteils mit Zeugs, das man mindestens heute in dem Alter noch nicht kaufen dürfte 😉 perfektioniert hatten, hörte ich dann einfach so damit auf. Nicht aus Unrechtsbewusstsein. Es war einfach keine Komponente meines Soziallebens mehr.
Heute würde ich höchstens dann wieder klauen, wenn es finanziell nötig wäre (ist es nicht), hätte dann aber wiederum wenig Unrechtsbewusstsein in einer Gesellschaft, die mir das „nötige“ nicht gibt, es einfach zu nehmen.
Der Nervenkitzel wurde seinerzeit übrigens nochmal übergroß, als meine Eltern und ich für ein paar Tage (Ferien) an den Ort zurückkehrten, wo jener Freund noch wohnte. Wusste ich doch, dass er zwischendurch beim Klauen erwischt worden war(dieses Mal alleine eben nicht mit leeren Taschen) und war viele Nächte vorher sehr angespannt und träumte, er habe mich bei seinen Eltern „verpfiffen“ und meine würden es jetzt auch erfahren.
Hatte er natürlich nicht – Ganovenehre ;-). Und für ein paar Ferientage wurden wir gemeinsam wieder rückfällig. Nur damit er dem Ladendetektiv, der in erwischt hatte mit leeren Taschen eins auswischen konnte, während ich einfach so hinausspazierte und wir uns den Apfelkorn (heute: bäh!) im Schatten eines der Obstbäume auf dem Land schmecken ließen.
Hm, irgendwie scheint jeder 15-jährige in Zürich für eine gewisse Zeit ein Ladendieb gewesen zu sein. Kenne praktisch niemanden der das nicht auch gemacht hat, mich inklusive.
Jugendliche machen wohl ab und zu einfach dumme Sachen.
Da werden Erinnerungen wach! Also ich hab das damals immer ’semi-legal‘ gemacht. Preis-Kleberli von einem günstigen Artikel der selben Produktkategorie auf ein viel teureres Produkt umgeklebt und gemütlich an der Kasse den falschen Preis bezahlt. Hat immer funktioniert. Und gab nur ein 1/2 schlechtes Gewissen! 🙂
Spannende Geschichte, und gut erzählt, man steckt förmlich mit drin. Nur eines haben Sie vergessen zu berichten: Haben Sie den Lipgloss dann auch eingesetzt? Womöglich vor den Preisverhandlungen für diesen Blogbeitrag? 😉
Reda, hhhhhhh, du bist unverbesserlich…:) die Sucht hat dich damals kontrolliert, heute bist du frei!!! Ein toller, mutiger Artikel..:)