Das Erbe der 80er

Inzwischen bezahlt man für ein Getränk in der Roten gleich viel wie im Opernhaus. (Bild: SRF)

Inzwischen bezahlt man für ein Getränk in der Roten gleich viel wie im Opernhaus. (Bild: SRF)

Heute vor fünfunddreissig Jahren wurde der Start-Pflasterstein zur 80er-Bewegung geworfen. Ich war am 30. Mai 1980, beim Startschuss zur Zürcher Bewegung, zehn Jahre alt. Die Opernhauskrawalle sagten mir nichts und den einzigen Bezug, den ich zur 80er-Bewegung hatte, waren die Erzählungen der Freunde meiner älteren Schwester.  Und meine Schwester war damals eher ein Hippiemädchen als eine Bewegte (da gibts noch irgendwo ein Bild mit Blumenkranz im Haar und grauenhaftem Zigeunerrock).

Trotzdem prägte die 80er-Bewegung mein Weltbild und meine Jugend. Das Umdenken, welches in dieser Zeit gewalttätig und teuer erkämpft wurde, machte aus meiner Stadt einen weltoffenen, modernen Lebensraum. Junge Menschen aus der ganzen Schweiz fanden in Zürich den Freiraum, Kunst, Kultur und alternative Lebensformen zu leben. Der graue Nebel lichtete sich und offenbarte eine Stadt, in der man (im Vergleich zu den 70ern) frei atmen und leben konnte.

Meine Zeit der Revolution kam dann in den 90ern. Da Zürich in den 80ern an Attraktivität gewann, sowohl wirtschaftlich wie auch kulturell, wurde der Wohnraum knapp. Und aus dieser Misere und den Überresten der Bewegung entstand dann die Besetzerszene. Einige ältere 80er-Bewegte erklärten uns natürlich, dass zehn Jahre früher «der Widerstand» viel revolutionärer war, dass es «damals» noch wirklich «bewegt» war. Inzwischen war ich alt genug, um die Wiederholung zu erkennen. Die 80er mussten sich wohl denselben nostalgischen Schrott von den 68ern anhören. Und wir, Generation «Wohlgroth», werden nicht müde, den Reclaim-the-Streets-Aktivisten zu erklären, dass unsere Zeit die beste war.

So weit, so gut. Jede Generation hat ein wenig Freiheit erkämpft, die 80er brachten mehr Freiraum im Bereich Kultur und schafften mehr Toleranz für andere Lebensentwürfe, die 90er eine liberalere Drogenpolitik und die legale Akzeptanz (keine sofortigen Räumungen der besetzten Liegenschaften) von Hausbesetzungen. Die Polizeistunde wurde abgeschafft, das Zeitalter des Techno und der Clubs begann.

Die Befreiung der 80er hatte aber auch einen Nebeneffekt. Inzwischen darf man in Zürich alles. Solange man nichts zerstört, das Geld hat und es sich leisten kann. Das erste Mal fiel mir das auf, als ich in der Roten Fabrik für mein Frühstück gleich viel bezahlte wie in einem Café an der Bahnhofstrasse, einfach mit unfreundlicherem Service (das gehört da zum Konzept). Und als ich meinen Eintritt/Drink in einem Club mit einem halben Tageslohn vergüten musste.

Aus Freiheit wurde Konsum. Die Revolution ist inzwischen ein Che-Guevarra-T-Shirt von einer Billigklamotten-Kette an der Bahnhofstrasse, «Kultur» ein Clubeintritt für 25 Franken oder ein Konzertticket für 90 Stutz. Die Bewegten aus den 80ern besuchen am 1. Mai die Kasernenwiese, parken aber ihre Autos, bezahlt aus ihren Jobs in Werbung und Medien, ausserhalb des Quartiers, weil sie um ihr Eigentum fürchten. Da sitzen sie dann in den T-Shirts ihrer Jugend, die inzwischen über dem Wohlstandsbauch spannen, erzählen sich Geschichten von früher und recken die Faust mit einem Döner vom Stand der PKK.

Die 80er und die folgenden Bewegungen haben uns in eine superindividualisierte Gesellschaft geführt. Jeder darf sein, was er will. Blaue Haare und zerrissene Jeans sind kein Aufmüpfen, sondern ein Modestatement. Clubs haben inzwischen eine politische Lobby aus Anwälten in Anzügen und das Nachtleben ist eine Industrie wie die Kohleverarbeitung. Inklusive empörter Gegner. Zwischennutzungen ersetzen Besetzungen und werden an szenige Künstlerkollektive und berufsjugendliche Unternehmer, alle in ihren Vierzigern, vermietet, die aus Zürich eine Berlinkopie machen, anstatt was Eigenes auf die Beine zu stellen. Von der alternativen Idee bis zu deren Kommerzialisierung dauert es noch gefühlte zwei Wochen.

Wer sich heute unwohl fühlt in dieser Gesellschaft, kann schlecht rebellieren. Erstens rebelliert er gegen eine Generation, die besser rebelliert hat, und zweitens ist ja bereits alles erreicht, alles ist frei, alles ist locker. Mehr zu fordern heisst mehr konsumieren zu wollen. Mehr Ateliers, mehr Freiheit, mehr finanzielle Unterstützung, mehr von allem. Und alles kann man kaufen. In Zürich regiert nicht die autoritäre Geisteshaltung der 70er. In Zürich regiert Kommerz kombiniert mit der unheimlich nervigen Patronisierung durch eine widerlich verständnisvolle ältere Generation.

Der heutigen jüngsten Generation bleiben zwei Wege: In den Konsum einzutauchen und sich in individueller Freiheit zu baden (gegen Geld natürlich), oder sich zu verweigern. Nicht zu konsumieren, Kultur wieder ohne staatliche und wirtschaftliche Geldspritzen zu machen und dafür auch nicht reguliert zu werden, sich Nischen zu suchen und diese zu nutzen. Kunst und Kultur dahin zu tragen, wo sie noch nicht (kommerziell) stattfindet. Aus Zürich hinaus in die Einöde der Kleinstädte, wo es noch Kämpfe gäbe, die ausgefochten werden müssen.

Das ist jedoch nicht besonders cool und man kann sich danach nicht in einer Hipsterbeiz bei einem überteuerten Hipsterbier entspannen.

PS: Vielleicht bin ich ja auch nur ein Wohlgroth-Veteran, der mit erhobenem Zeigefinger der Jugend predigt, dass früher alles besser war. Jänu.

Hier gehts zu «Definitiv ZH» mit einer Sammlung aller Bands und Geschichten aus Zürich zwischen 1976 und heute: «Definitiv II»

38 Kommentare zu «Das Erbe der 80er»

  • Karl Lässer sagt:

    Finde es nett, dass meine Generation der 80er hier ein wenig gefeiert wird. Möchte aber doch noch was Kleines anmerken, damit es nicht vergessen geht. Die Revolte zur Zeit der grauen FDP-Filzokratie, auch die AKW-Bewegung der 7oer und 80er war verdammt riskant. Der Staat schlug gnadenlos zurück. Viele wurden verprügelt und auf Polizeistationen misshandelt, wir wurden fichiert, es gab Berufsverbote, Prozesse und Gefängnisstrafen, ausgeschossene Augen, Treibjagden über Bahngeleise bei vorbeifahrenden Schnellzügen, und das alles auch, wenn der Widerstand gewaltlos war. Das Martialische der damaligen Kalten Krieger, der Offiziere und Zunftbrüder kann man sich heute nicht mehr vorstellen und auch die meisten von uns haben es vergessen. In meinem eigenen Erleben waren diese Gewaltexzesse des Staates auch der Grund für den Ausbruch im Mai 80. Wir hatten sie schon jahrelang erlebt, wir hatten es gewaltfrei versucht, und dann an jenem Tag vor dem Opernhaus, als wir schon wieder bei einer witzigen Aktion von Polizeimarsmenschen provoziert wurden, war das ein Funke zuviel. Möchte eigentlich gar keine Message damit verbinden oder vielleicht nur die: Man sollte das nicht vergessen. Und der widerliche Dauerkommerz von heute und die mittlerweile rot-grüne Filzokratie atmen immerhin nicht mehr diesen Hauch von Menschenverachtung und Gewalt.

    • Thomas sagt:

      Danke Karl für deinen Ausführungen. Finde dieses Thema sehr spannend. Ich hatte meine Jugend um die 2000er. Polizeigewalt oder sonstigen Machtmissbrauch habe ich nie erfahren. Trotzdem kann ich mir genau vorstellen, wie das damals war und es läuft mir kalt der Rücken runter. Im Militär sah ich dann noch die Ausläufer dieser Generation. Aber man konnten schon cool den Stinkefinger zeigen und hatte keine Konsequenzen zu befürchten.

      Nun wohin geht die Reise? Ich sehe folgende Szenarien:

      Die Konsumjugend vegetiert vor sich hin und bemerkt nicht, wie die rot-grüne Filokratie immer mehr reglementiert und vorschreibt. Plötzlich müssen Kleinkinder Helme tragen, Internet Zugang erhält nur, wer ein Login mit Passkopie beantragt, der Staat hat Zugriff auf die Konti von jedermann, Steuern werden direkt belastet, Bargeld wird abgeschafft. Alles kein Problem, solange man sein Neues Smartphone hat und Bilder auf Instagramm teilen kann.

      Die Jugend schwört dem Konsumwahn ab, geht vermehrt in die Natur, zelebriert die un-vernetzte nicht-digitalisierte Kunst und propagiert den Frieden auf Erden und singt am Lagerfeuer mit Gitarre (hippie Revival)

      Die Jugend fällt zurück in die Starre vor den 80er, bedroht durch den Wohlstandsverlust, die Lage im Osten (Ukraine, Russland, Syrien usw.) und der anhaltenden Wirtschaftkrise. Arbeit, Fleiss & Disziplin werden wieder erstrebenswert. Die Armee findet zurück zu Alter stärke, findet aufgrund der Bedrohungslage wieder einen Sinn und geniesst ein hohes Ansehen in der Bevölkerung.

      Wer hat sonst noch Szenarien? (Bitte nicht zu ernst nehmen, meistens kommt ja alles gut)

      • Réda El Arbi sagt:

        Die Jugend nutzt die immense Macht und Reichweite des Netzes, um die Welt ihrer Zukunft mitzugestalten. 🙂

  • tststs sagt:

    Das ist kein erhobener Zeige-, sondern eher ein Nase-Bohri-Finger…
    Aber jetzt im Ernst und zum Thema: Das was hier Kommerzialisierung geschimpft wird, ist doch eigentlich nur das „Von-Seinen-Träumen-Leben-Können“!
    Wieso kostet das Bier jetzt auch in der Roten einen Fünfliber? Weil dies das Einkommen anderer Leute ist und in diesem Verhältnis durchaus ein fairer Preis… Wieso ist ein Ramones T-Shirt von 2014 im H&M Kommerzkacke und dasselbe von der Tour 1976 extrem authentisch?
    DAS ist das Erbe der 80er… endlich darf man tun und lassen, was man will…und kann sogar davon leben… nur die Alten, die sind immer noch dieselben…sagen einem immer noch, dass man das Ganze irgendwie falsch macht 😉

    • Réda El Arbi sagt:

      Kaufen können ist noch keine Freiheit. Auch keine Kultur.

      • tststs sagt:

        Kaufen können nicht, aber Kaufen dürfen und Verkaufen dürfen schon…
        Und Handeln ist eine kulturelle Leistung; selbstverständlich gehören gewisse Auswüchse notabene nicht zu den Glanzstücken dieses Kulturzweiges.

        • Fanira sagt:

          Die Preise in der Roten Fabrik decken die Lebenskosten, der dort Arbeitenden. So verdienen die Putzer im Restaurant gleich viel wie die Köche und nicht einfach einen Mindestlohn, wie sonst wo. auch ist der Kaffe bio und fairtrade und die Frühstückseier ebenso, frag doch mal bei deinem Frühstückstort an der Bahnhofstrasse nach, ob dies dort auch so ist…Von jemandem der für Ringier arbeitet ist diese Kritik schon ein bisschen heuchlerisch. Wieviel verdient den der Putzmann, der dein Büro sauber macht?

          • Réda El Arbi sagt:

            Punkt 1: Tamedia, nicht Ringier
            Punkt 2: Ich hab kein Büro. Ich putze meinen Schreibtisch daheim selbst und arbeite oft in Cafés, wo ich meinen Lohn wieder in die Wirtschaft einspeise.

          • Fanira sagt:

            o.k. my bad, tamedia, aber es macht wohl nicht so einen unterschied und das du zu Hause oder in Cafes schreibst, ist schön für dich, aber hat nichts mit der Lohnpolitik deines Arbeitgebers zu tun. Cafes-Wirtschaftskreislauf…wow, das hört sich ja wie eine neoliberale Rechtfertigung an… Wo ist da der Revolutionär und Anti-Konsument, den du in deiner Erinnerung heraufbeschwörst…Aber all das ist keine Antwort auf die Argumente Lohngleichheit und Bio/Fairtrade…

            • Réda El Arbi sagt:

              Naja, ich geh davon aus, dass die Reinigungsfachleute bei Tamedia mehr verdienen als in der Roten. Nur so eine Vermutung. Dann liest du hier gerade Gratiscontent, der dir von Tamedia zur Verfügung gestellt wird. Von wegen Konsum.

              Die Welt ist nicht schwarzweiss, und vielleicht hätten mehr Leute Sympathien für Alternative Gastrokonzepte, wenn sie nicht so verflucht elitär daherkämen und jedem als erstes klar machten, dass sie viel bessere Menschen sind.

          • Fanira sagt:

            Tja davon ausgehen und wissen sind halt zwei verschiedene sachen (und nur mal so am Rande: das Restaurant und die IG Rote Fabrik sind zwei verschiedene Organisationen, einfach von wegen Differenzierung und richtiger Information…), immer noch keine Antwort bezüglich fairtraide und bio. Es geht nicht darum, anderen aufzuzeigen, dass Leute in alternativen konzepten bessere Menschen sind, sondern dass diese Konzepte im allgemeinen besser für die Menschen (Kaffepflücker, Hühner, Service, Köche, Putzer) sind. Und diese schwarz/weiss Diskussion wurde nicht von mir aufgebracht, sonder eher von dir mit deinen Ansprüchen, dass eher alternative Orte möglichst gratis sind, da sie ja eben „alternativ“ seien, dabei ging vergessen, dass die Leute, die dort kochen, servieren und putzen eben auch Miete für ihre Wohnung zahlen müssen…

  • Boris Wydler sagt:

    Ja Reda, Du bist genau einer der Veteranen die der Jugend predigen das früher alles besser war. So alt bist Du schon. Aber glaub mir, es war nicht besser, Du und auch ich waren einfach jünger.

    Dass die Jugend nichts mehr hat um dagegen zu rebellieren, mag bei uns der Fall sein. Politisch engagieren könnte man sich schon, aber schon vor 20 Jahren waren nur ca. 1-2% meiner Bekannten politisch interessiert.

    Ich vermisse die Zeiten nicht, als noch Mitte 90er nach Mitternacht praktisch jede Beiz im Niederdorf die Tore schloss. Im Kreis 5 wurde damals noch Schicht gearbeitet und nicht gefeiert. Ich vermisse auch die Zeiten nicht, als es noch keine Nachtbusse gab und ich von der Innenstadt 45min zu Fuss nach Hause gehen musste, weil ein Taxi und ein Lehrlingslohn nicht kompatibel waren. Auch das Tanzverbot vor irgendwelchen religiösen Feiertagen vermisse ich kein bisschen.

    Natürlich waren die alten Zeiten toll, man hat sich ein Karton Bier im K3000 gekauft und hat sich am Hirschenplatz mit den Kumpels getroffen. Es waren alle da, gab ja nicht wirklich viele Alternativen. Aber besser als Zürich 2015? Nö.

    Ich frohlocke nicht, wenn ich im Rimini für ein Cola das aus einer Zwei-Liter-Flasche in ein Plastikbecher gefüllt wird, 5 Stutz (vielleicht auch schon mehr?) hinlegen muss. Ja, es ist alles sehr kommerziell und wenn der Stadtrat das linke Seeufer „entwickeln“ will, heisst das im Prinzip nur, dass da ein paar Cafes hingestellt werden.

    Aber ich bin schon froh, muss ich mir heute Gedanken machen, wohin ich gehen soll weil das Angebot so gross ist. Und wenn ich es mal nicht so kommerziell möchte, kann ich ja einfach ins Dynamo, Wunderbar etc. Da hat es dann auch nicht so viele Hipster.

    • Réda El Arbi sagt:

      Ja, aber der Punkt ist, dass wir eben NICHT die Jungen sind. Und wo immer diese Generation etwas Neues aufstellen will, sind wir schon da. Wir haben schon die geile Bez aufgestellt, wir weigern uns, erwachsen zu werden, wir tragen die Klamotten der 20-jährigen, wir geben vor, was cool ist.

      Wir wegern uns, die Jugend an die Jugend zu übergeben, und wir haben mehr Erfahrung, mehr Geld und die besseren Beziehungen. Die Youngsters haben keine Chance gegen die Hipster-Berufsjugendlichen der Stadt.

      • tststs sagt:

        „Und wo immer diese Generation etwas Neues aufstellen will, sind wir schon da.“ Ja, da bin ich ganz bei Ihnen, etwas würkliwürkli Neues, ist schwer zu finden…aber Bestehendes uminterpretieren könnte da eine Möglichkeit sein…
        „wir weigern uns, erwachsen zu werden, wir tragen die Klamotten der 20-jährigen“ Dies sehe ich weniger als Problem; eher im Gegenteil, die heute 20jährigen werden uns noch dankbar sein, dass wir hier die Normen aufgebrochen haben…
        „wir geben vor, was cool ist.“ Hehe…davon träumen wir vielleicht 🙂

      • Tronco Flipao sagt:

        Die Grenze zwischen Jugend und Erwachsen verschwimmt, das stimmt. Aber ist das wirklich so schlimm? Während ich als Jugendlicher in der Schweiz möglichst nicht in der Öffentlichkeit mit den Eltern gesehen werden wollte, ist es z.B. in Spanien ganz normal das man mit den Eltern in die Beiz geht und ein Bier trinkt.

        Wenn ich als 18-Jähriger einen 35-Jährigen im Ausgang sah, hab ich den mit Sie angesprochen und gedacht der sei so was von cool in dem Alter noch rauszugehen. Das ist heute nicht mehr so und auch gut. Immer nur mit gleichaltrigen sprechen erweitert den Horizont nicht unbedingt und deshalb gehe ich nicht an Ü-Irgendwas Parties. Es ist gut, dass sich die Generationen vermischen und die Grenzen verschwinden.

        Ich denke nicht, dass wir (die Älteren) vorgeben was cool ist. Das schaffen die Jugendlichen selber. Wir geben bestenfalls vor welches Lokal gerade ein bisschen angesagt ist.

        • Réda El Arbi sagt:

          Individuell ist es vielleicht sogar angenehm, gesellschaftspolitisch ist es Gift. Um eine Entwicklung durchmachen zu können, muss sich eine Generation von der nächsten abgrenzen können. Findet das nicht statt, haben wir wie jetzt eine endlose Schleife von „Revivals“. Retro ersetzt Innovation und wir feiernd dauernd das letzte Jahrzehnt als Ersatz für Neues.

          Radikal Neues kann nicht mit der Billigung und der Sympathie des bisher Dagewesenen entstehen.

          • tststs sagt:

            „Um eine Entwicklung durchmachen zu können, muss sich eine Generation von der nächsten abgrenzen können.“ Und das funktioniert nur über Kleidung und Cool-Sein…?! Resp. was können die Alten dafür, dass die Jungen sich gleich kleiden?!? 😉
            Ist es nicht auch eine Abgrenzung, wenn Dinge einfach anders gehandhabt werden – ohne dass ein revolutionärer (gewaltsamer) Übergang stattfand?
            „Retro ersetzt Innovation“ Leiderleider…Buffalos wurden bereits wieder gesichtet…
            „Radikal Neues kann nicht mit der Billigung und der Sympathie des bisher Dagewesenen entstehen.“ Aber Siiiie, wollen Sie denn dem Alter jegliche Kraft zur Einsicht absprechen?!?

  • michèle sagt:

    dass die, die sich nicht konsumierend und erfolgreich wegintegrieren liessen, als asoziale und wohlstandsverwöhnte gescheiterte bezeichnen lassen dürfen/müssen, ist so altbekannt wie langweilig.
    (auch hier im kommentarbereich)
    interessant finde ich zwischendurch höchstens wie hartnäckig und massiv die vorwürfe sich halten. das lässt vermuten, dass das selbstverständnis der urteilenden leicht bedroht ist.
    und ja: ich trauere ab und an den (damals) erkämpften freiräumen nach, stolpere über konsumfallen und muss mich hinterfragen, wofür ich einstehe und was ich bewege heute und warum.
    dafür hab ich s nicht zum etabliert-sein geschafft und lass mir auch mal gerne das label der ewig-gestrigen utopistin anhängen.

    • Réda El Arbi sagt:

      Grundsätzlich ist gesellschaftliche Entwicklung immer auch von persönlicher Entwicklung abhängig.

      • michèle sagt:

        d’accord.

        mich beschäftigt seit längerem „die Frage der Stabübergabe“ gerade in Bewegungen/bei Bewegten.
        Was und wie kann weitergegeben werden, was ist überhaupt erwünscht und ist es grundsätzlich sinnvoll…
        wie gehen „wir“ damit um, wenn zB niemand übernehmen will oder das was übergeben „wir“ übergeben wollen, gar nicht beachtet wird, oder ankommt? grundsätzlicher auch: wie bleibt eine Bewegung in Bewegung, und wielange soll „sie“ es bleiben?

        • Réda El Arbi sagt:

          Es gibt keine „Stabsübergabe“. Der Sinn ist es, radikal Neues gegen die Alten durchzukämpfen. Nur will heute niemand mehr den Part der „Alten“ übernehmen. So wird jede „neue“ Bewegung gleich von Anfang an aufgenommen,adaptiert und kommerzialisiert. Nix Revolution.

          • michèle sagt:

            okay. darüber geh ich jetzt nochmals nachdenken. mit der Quizfrage für mich :“ schiebe ich fehlende Stabübergabe und Entpolitisierung der nächsten Generation zb im AIDS-Aktivismus nur vor, um nicht gestürzt zu werden“ ( Merci für den Kick-in-the-ass 🙂 )

          • michèle sagt:

            einzig: ich wehre mich gegen Kommerzialisierung/Adaption etc meinerseits…
            aber ansonsten : danke.

          • tststs sagt:

            „Nur will heute niemand mehr den Part der “Alten” übernehmen.“
            Naja, ich würde sagen, es gibt hier einfach eine Verschiebung: Mit den „Alten“ sind einfach weniger Angehörige einer Altersgruppe, sondern eher solche einer Geisteshaltung gemeint…

  • sepp z. sagt:

    gefällige schilderung.
    nur das fazit am schluss, dass es zwei lösungen gibt, ist etwa so schwach wie wenn die svp verkündet, es gäbe zwei lösungen, die ihre oder die des linken rests.

  • Maiko Laugun sagt:

    Die 68/80/90er Bewegungen entstanden alle aus purem langweiligen Wohlstand. Die Protagonisten sehen sich rückwirkend als Helden und Systemveränderer inkl. die Entschuldigung, dass der Drogenkosum und das daraus resultierende Elend für diese Veränderungen notwendig waren. Ich halte dies für komplett falsch. Die damalige Gesellschaft hätte sich – vielleicht etwas verzögert, aber dennoch – auch ohne diese sich in der Minderzahl befindlichen Aufmüpfigen von einer bürgerlich verkrusteten hin zur heutigen reinen Konsumgesellschaft verwandelt. Das hat mehr mit dem Wohlstand und der Wirtschaft zu tun und weniger mit den genannten Aktivisten. Ich war 1980 bereits im Jugendalter und hatte die damalige Bewegung gehasst. Das hat mich nicht gehindert, mich seltsam und aufmüpfig zu kleiden, all die damaligen (tollen !) Musikrichtungen zu mögen, viele Konzerte zu besuchen und auch an Orten wie der Roten Fabrik zu verkehren. Das konnte man nämlich auch tun, ohne die gleichen gesellschaftlichen Ansichten zu vertreten. P.S. Danke @Réda auch für den interessanten Link *Definitiv II*. Werde den noch mit Interesse lesen. Ach so, Ja, wenn ich Ihren guten Text lese, so glaube ich fast, dass Sie am Ende ( Zitat: „Jänu“) zum gleichen Resultat kommen, einfach aus einem anderen Blickwinkel 🙂

    • Réda El Arbi sagt:

      Zürich in den Siebzigern war, ausser fürs Milieu und einige Reiche, tot.

      • sepp z. sagt:

        „Kunst und Kultur dahin zu tragen, wo sie noch nicht (kommerziell) stattfindet. “
        pro Person wird auf dem Land MEHR subventioniert als in der Stadt. Das lässt sich nun mal nicht wegleugnen (Kultur heisst da halt nicht Theater, sondern eine Hundsverlochete der Bauern oder des Pferdezüchterverbandes). Ich glaube, solche Statements sagen mehr über das undifferenzierte Gesellschaftsbild des Schreibenden als über die Wirklichkeit in unserem Lande.

      • Maiko Laugun sagt:

        @Réda: Sie wichen aus 🙂 Die Vor-Generationen mussten hart arbeiten und hatte keine Zeit für Langeweile. Schon die 68er Generation war verwöhnt. Wohlstand produziert Langeweile. Heute ist der Arbeitsdruck in der Wirtschaft viel grösser und es bleibt nur noch der Konsum. Anstatt die Gesellschaft verändern zu wollen, lässt man heute die Sau bei Parties, Fussball-Spielen oder anderswo aus. Ich bleibe dabei, keiner von damals war ein Held. All die Aktivisten machen sich selber was vor. Die Gesellschaft hätte sich auch sonst verändert.

        • Réda El Arbi sagt:

          Nein, es ändert sich niemals etwas von alleine. Sonst wären die Veränderungen ja weltweit nicht so gewalttätig bekämpft worden.

          • Bwarer sagt:

            Was heisst schon ‚von alleine‘? Wirtschaftsaufschwung, der Wohlstand, Freizeit und somit auch Langeweile generiert, war und ist ein entscheidender Faktor der Veränderungen und somit nicht ‚von alleine‘. Steinewerfer waren unterhaltsam, aber sicher nicht der Grund für eine vollständige gesellsch. Umwälzung. Da muss ich dem Kommentatoren Recht geben. Wohlstand führt u.a. halt zu Verwahrlosung, Langeweile, Süchten, Masslosigkeit und Verlangen nach immer mehr und mehr von Allem. Individuelle Freiheit muss man nicht mehr erkämpfen, stimmt. Und trotzdem fordern Jugendliche ständig mehr Freiheiten. Sie wollen einfach ‚immer noch mehr‘. Das ist normal. Und führt zur Dekadenz in allen Bereichen. Aber jänu, bisher ist noch JEDE Hochkultur untergegangen … erkrankt an Dekadenz und Masslosigkeit. Jede!

            • Réda El Arbi sagt:

              Nun ja, dann wäre der Wandel in Zürich bereits in der Nachlkriegszeit gekommen, mit dem Wohlstand. In den 80ern gings aber um kulturelle Entwicklung und Freiraum.

              Und noch jeder alte Sack hat der Jugend Faulheit, Gier und Dekadenz vorgeworfen. Mich eingeschlossen. Seit den alten Griechen. 😉

        • Bea sagt:

          Nicht Langeweile war Grund für die 68er, sondern dass erstmals ein grösserer Teil der Gesellschaft erweckt wurde, auch durch zunehmende Studienquoten, und Zeit hatte, kritisch zu diskutieren und ihre Themen in die Gesellschaft zu tragen. Das war zuvor immer nur Einzelnen der zum Studium privilegierten Oberschicht vorbehalten.

          • Maiko Laugun sagt:

            @Bea: Der Wirtschaftsaufschwung in den 60ern ist der Grund, dass auch der Nachwuchs der Arbeiterklasse Zugang zu den Unis fand. Fast nicht aus der Welt zu schaffen ist die Mär, dass die Studenten alle links waren. Dieses Märchen geisterte auch in den 80ern herum und entspricht schlichtweg nicht der Realität. Es war nur ein Teil der Studenten, welche das Bedürfnis hatte ..“..kritisch zu diskutieren..“

          • Bea sagt:

            Es gab auch unreflektierte, starsinnige, bildungsressistente etc. Studenten in den 68ern. Aber die Mehrheit nutzte die neue Freiheit zu unabhängigem Denken und komplexer Bildung.

    • Lukas sagt:

      Die 68er haben viel bewegt, nicht nur in den Sozial-, Politik-, Bildungs-, Umwelt-, Kultursektoren. Ohne sie wären wir schon damals eine Thatcherreagankonsumhölle. Da es jedoch diese zunehmend erstarkende Opposition gab, mussten sich auch die verblendet enthemmten Marktgläubigen immer gegenwärtig sein, dass es da draussen noch komplexere intelligentere Lebensaspekte gibt.

      • Maiko Laugun sagt:

        @Lukas: Die „..komplexere intelligentere Lebensaspekte..“ haben die von Maggie & Ronald vorangetriebene De-Industrialisierung und die daraus resultierende heutige Konsumgesellschaft auch nicht verhindert und zumindest einige davon sind an ihren eigenen (Teil-)Forderungen den Drogen krepiert. Aber gut, dann bezeichnen wir diese halt als Helden-Tote einer Revolution. Eine Revolution die dazu führte, dass heute alle in einer 24h-Spassgesellschaft der bürgerlichen Elite zuprosten und ihnen das Geld in den Allerwertesten schieben. Die bürgerliche Elite schlägt Kapital aus den Revolutionären und diese merken es nicht mal 🙂

  • max der spatz sagt:

    Guter Blog El Arbi! Dafür kriegen Sie von mir eine Sechs, und damit können Sie sich einen Nivea-Donald-Judd-Hipsterbart beim HGKZ-Face-Designer um die Ecke kaufen!
    😉

    Ich wohne im letzten Billig-Quartier in einer anderen Stadt, hier hats viele Migranten, Sozialhilfeempfänger, IV-Rentner, Alte, Freaks usw., da falle ich nicht auf. Aber das Quartier ist jetzt auf den Radar der Gentrifizierer-Stadtplaner geraten, im Moment versucht man, keimfreie mediterrane Urbanität von oben herab zu verortnen. Vielleicht muss ich bald gehen; dann würde ich nach Biel gehen.

    Das Problem gibt es wie El Arbi ja auch schreibt bspw. in der Kunst und der automatisierten Kritik: „Diese künstlerische Position zeigt Tomaten und Toastbrot und eröffnet einen kritischen Diskurs. Dem Künstler geht es darum, alte Sichtweisen aufzubrechen und neue zu eröffnen“. tralala.

    Also meine Vermutung, dass das Prinzip Öffnung, Andersheit, mehr Freiheit, das Neue usw. bereits ein oekonomisches Label geworden ist, aber das die bisherigen Jugendbewegung dieses damals neuartige durchgesetzt hat, aber dieses von der Gesellschaft integriert und angeeignet wurde und auch unsichtbare Repression geworden ist, man nicht mehr dieses Prinzip fortsetzen kann. Man ist gewissermassen Schachmatt gesetzt, wenn man Freiheit fordert und Repression im Gewand der Freiheit auftritt. Normcore? Ist ja auch dasselbe, denn Exklusivität gehört ja auch dazu.

    Letztendlich habe ich auch keine Lösung, ausser diejenige, dass sich in meinem Quartier niemand für solche Fragen und Probleme interessiert, ich eigentlich auch nicht.

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