Psychostress als Zürcher Statussymbol
Wir Zürcher sind die glücklichsten Schweizer, wie eine Umfrage der Uni Zürich belegt. Wir sind fit und erfolgreich, rauchen nicht, saufen weniger und üben uns in Selbstdisziplin. Trotzdem klagen bei uns am meisten Menschen über psychischen Stress. (Kollege Beat Metzler hat dieses Paradox anhand der Theorien des deutschen Philosophen Byung-Chul Han analysiert.)
Nun, zuerst einmal ist das Verschwinden des gesellschaftlichen Tabus «psychische Beschwerden» zu begrüssen. Man kann darüber sprechen ohne verurteilt zu werden. Wenn man es anspricht, findet man in jeder Familie und jedem Freundeskreis mindestens eine Person, die schon einmal wegen psychischer Probleme in Behandlung war. Was es anderen dann auch erleichtert in schwierigen Situationen selbst ohne Scham Hilfe zu holen.
Es hat aber noch eine andere Qualität: Das Wording, die Benennung des eigenen Befindens, hat sich geändert. Früher hatten meine Kollegen ein paar Tage «en Aschiss», heute hat man eine kleine «Depression», früher war man zwischendurch ein paar Tage «uf de Fressi», «uf de Stümpe» oder «voll am Arsch», heute leidet man unter einem «Burnout». Die inflationäre Benutzung von pathologisierenden Begriffen für die eigene psychische Situation tut den Menschen, die wirklich psychisch leiden, keinen Gefallen. Es schmälert die Bedeutung der echten psychischen Probleme und deren Folgen für den Einzelnen. Bei Kindern sieht man die Entwicklung da, wo lebendige, vielleicht unruhige Kids plötzlich alle an «ADHS» leiden und Ritalin eingeworfen kriegen.
Es gibt einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem erfolgreichen und glücklichen Zürcher und dem inflationären Zürcher Psychostress. Glücklich sein, Erfolg haben, ein gestählter Körper und Selbstdisziplin sind Statussymbole. Grundsätzlich ist man in Zürich nur glücklich, wenn man erfolgreich ist. Wenn man einen Zürcher fragt, wie es ihm geht, wird er antworten «Super, echt guet, aber voll im Stress». Immer. Ein Zürcher, der nicht von seinen wirklich geilen Aktivitäten aufgefressen wird, ist nicht erfolgreich oder glücklich. Auch Stress ist ein Statussymbol, zeigt die eigene Wichtigkeit und signalisiert der Umgebung, dass sie sich glücklich schätzen darf, etwas von der Zeit des Zürchers zugeteilt zu bekommen.
Nun hat man aber das Problem, dass ALLE coolen Zürcher gestresst sind. Wenn man sich da noch abheben will, muss man schon mit stärkerem Geschütz auffahren, um Eindruck zu schinden. «Ich schliddere am Rande eines Burnouts entlang» ist da die Steigerungsform. Ein gefühlsmässiges Tief ist dann plötzlich eine Depression und macht aus einem persönlichen Frust ein medizinisch relevantes Drama.
Aber auch die Leute, die wirklich auf dem Weg in ein psychisches Leiden sind, verhalten sich nicht wirklich vernünftig. Anstatt etwas in ihrem Leben zu ändern, bekämpfen sie die Symptome. Schliesslich hat man Selbstdisziplin und die Welt kann nicht auf die eigene Leistung verzichten. Man hält durch. Man macht weiter. Wenn man nicht schlafen kann, wirft man Medis ein – oder noch besser: trinkt Bio-Schlaftee. Wenn der Arzt etwas von «Work/Life-Balance» schwafelt, geht man ins Yoga oder in Meditationskurse – natürlich nicht anstatt zu arbeiten, sondern zusätzlich nebenbei in den Randzeiten. Wenn der Körper nicht mehr mitmacht, geht man zur Massage oder einmal mehr ins Fitness, wiederum, ohne die eigentliche Belastung abzubauen.
Was dann dazu führt, dass man an einem gewissen Punkt wirklich zusammenbricht und mehr Schaden davonträgt, als man bei einer Änderung des Lebenswandels erlitten hätte.
In diesem Sinne, liebe Zürcher: Stress ist nicht geil, ein Burnout macht euch nicht wichtiger und Work/Life-Balance bedeutet, dass ihr eines eurer geilen Projekte aufgeben müsst. Bevor ihr wirklich in einer Klinik landet. Auf Yoga und Schlaftee könnt ihr auch ohne Stress zurückgreifen.
So, ich rauch jetzt mal eine Zigarette und faulenze. Ich hab grad keinen Stress.
24 Kommentare zu «Psychostress als Zürcher Statussymbol»
Liebe gestresste Zürcher,
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Wenn du männlich, zwischen 18-35 Jahre alt bist und dein BMI über 28 liegt, melde Dich doch bei uns:
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vielen Dank und hoffentlich bis bald!
Das Stressaware-Team
Ich kenne die Antwort bereits vor Ihrer Studie. Menschen wären gegen Stress vortrefflich durch perfekte humane Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsbedingungen geschützt. Da dies heute noch immer kein Staat gewährleistet, helfen Yoga und Meditation vortrefflich. Wurde auch in vielen Studien bereits belegt.
Es geht vielleicht wirklich auch um den Menschen, nicht nur um das Umfeld. Wenn Leute sich wchtiger fühlen, wenn sie „Leistung“ bringen, hat das nur begrenzt mit dem Arbeitsmarkt zu tun. Genauso, wie das Umfeld die Persönlichkeit prägt, prägen de einzelnen Menschen und ihre Egos das Umfeld.
Ja da wird es viele Faktoren geben. Es gibt ja auch den so genannten positiven und negativen Stress. Hauptsächliche Einflussfaktoren des dauerhaft negativen Stresses sog. Distress dürften wohl human nicht optimale Arbeitsbedingungen und soziale Unsicherheit sein, da diese der Einzelne nur beschränkt selbst beeinflussen kann. Aber daneben gibt es auch wesentlichen Stress durch Lärm, Umweltgifte, Nahrungsmittel, inoptimale Zusatzstoffe uva.
Angebeberei mit gesellschafticher Wichtigkeit und Erfolg, überheblich spiessig abwimmeler anbiedernder Small-Talk ist etwas sehr viel weiter und feiner als von Ihnen hier umrissen – trauen Sie sich doch wirklich hinzuschauen und zu -hören, und reduzieren Sie nicht in eine Thematik die Amalgame bilden und in Ihren Artikel missverstehen lassen könnte.
ah, sorry, habe mein da oben in der ersten Zeile mein Lieblingswort „pedantisch“ vergessen, sorry-sorry
… daher mein Tipp: das nächste mal wenn man Ihnen süffisant „voll im Stress“ sagt, beenden Sie das Gespräch mit „ich auch“ drehen Sie sich um und gehen Sie.
das Ganze tut mir natürich sehr leid für Sie, es ist sehr unangenehm derartige Beleidigung und Abschätzung zu erleiden
Reda, du alter Charakterlump – Respekt vor diesem guten Artikel. Dir bleiben zwar die tieferen sozioökonomischen und soziokulturen Zusammenhänge verborgen, doch in diesem Fall muss ich dir voll und ganz recht geben. Es ist mir aber ebenfalls bewusst, dass deine hier präsentierten, sicherlich löblichen Ansichten mehr deiner eigenen Selbstgefälligkeit und Faulheit entspringen als echten Reflexionsprozessen. Weiter so! 🙂
Wow, ein guter Anfang, Reiser. Da gibt es aber noch mehr zu berichten! Denn gerade Ihr Kommentar reflektiert eine Form des oben angesprochenen Stresses. Vielen Dank!
Oswald, misch dich nicht in unseren Dialog zwischen zwei alten Freunden ein, du Penner.
Direkte Beschimpfungen sind irgendwie unelegant, nicht?
Die konzentration auf stilfragen sind inhaltlos. Stell dir vor, wir würden stets diplomatisch miteinander um den heissen Brei rumreden – Menschen wie du verstecken dann die Abwesenheit des Gehalts ihrer Argumente hinter pseudosouveränen Floskeln. Du bleibst dir treu. Charakterlump ist bei dir längst keine Beschimpfung mehr, ich meinte es eigentlich freundschaftlich.
Nun, wenn man den Inhalt, Gehalt und die Aussage von Argumenten nicht erkennen kann, hat das vielleicht nicht nur mit den Argumenten zu tun. 😉
Und ich fühle mich nicht beleidigt. Wenn mich Leute „Charakterlump“ nennen, sagt das meist etwas über ihren Hintergrund und ihre Stossrichtung aus. Meine Positionierung legt ja immer offen.
Ich find’s noch witzig: die Zürcher seien die glücklichsten Schweizer? Bin gerade aus meiner Heimat zurück und heute morgen in ZH haben schon wieder alle das Anschiss-Gesicht – da bleibt einem das Guets Neuis wirklich im Halse stecken…… Same old, same old….
Man kann übrigens zuversichtlich davon ausgehen, dass diejenigen, die am meisten über ihren bevorstehenden Burnout/Stress und Depression reden, keine dieser Befindlichkeiten wirklich haben. Diejenigen, die wirklich Hilfe bräuchten, trauen sich nämlich angesichts dieser Windbeutel kaum, ihre wirkliche Not zu zeigen oder verbalisieren.
Stimmt! Das haben wir sinngemäss so auch im Militär gelernt: Zuerst rettet man die, die bewusstlos sind: Diejenigen die schreien kommen als 2. dran, da die offensichtlich noch genug Energie bzw. Blut für das Schreien haben! 🙂
Militär taugt eben nicht zum komplexen Denken und gehört abgeschafft! 🙂
„Grundsätzlich ist man in Zürich nur glücklich, wenn man erfolgreich ist“
genau.
weil wer nicht erfolgreich ist, nicht genug verdient, um sich die teuren wohnungen und lebenskosten in zürich leisten zu können, der ist nicht in zürich.
man könnte dem also anfügen:
„Grundsätzlich ist man in Zürich nur glücklich, wenn man erfolgreich ist“
„Ist man nicht erfolgreich, ist man nicht mehr in Zürich“
Die Frage ist, was erfolgreich ist. Identifiziert man sich nur über die verdienten Taler, so ist das ein sicher in Züri heute vorherrschendes Kriterium, wenn auch ein geistig sehr armes. Erfolg als Lebensbilanz sieht gänzlich anders als monetär aus.
Ja, nicht nur die verdienten Taler zählen als Erfolg, sondern auch die unverdienten. Erbschaft, reicher Papi, familiäres Netzwerk… gilt alles auch.
Aber nur für Menschen ohne Intellekt. Geld ist kein Erfolgsindiz. Wirklicher Erfolg orientiert sich an moralischen Kriterien, nicht an simplen monetären Zahlen.
Pfff! Man muss ja unglaublich „erfolgreich“ sein, um die knapp 3’000 monatlichen CHF zu erackern, die man braucht, um in Zürich (der Stadt) gut leben zu können. Inklusive Ausgang und auswärts essen et cetera. Wenn man natürlich die schweizweit übliche, geräumige Wohnung im Neubau oder der Renovation wie üblich unterbesetzt bewohnt, sich die restlichen Mitglieder der Kernfamilie oder des wie auch immer gearteten Haushalts in Faulheit sonnen, dazu noch ein Auto und vier Wochen Ferien irgendwo wo’s repräsentativ ist braucht, dann wird’s langsam eng. Ach ja, und Mode und Gourmet Factory Rauchlachs zum Zmorge und Balkon und Garten und Sparen und Shoppen im Viadukt und zwei Kinder und ein eigenes Atelier zwecks Selbstverwirklichung oder wasauchimmer. So proletarisch, wer Glück im Besitz sucht! Unglaublich teuer hier, der Migros-Sack kostet gut gefüllt kaum je mehr als 40 helvetische Franken. Nirgends in der Schweiz ist es einfacher, irgendwie zu Geld zu kommen als in Zürich. Sogar für Halbschlaue. Ein Paradies für Faule. Warum gibt es wohl nahe bei Städten Slums, nicht aber in ländlichen Gefilden? In der Stadt gibt es Möglichkeiten. Auch für Habenichtse. Platz und damit auch Wohnraum sind dafür und deswegen teuer. Der vermaledeite Trade-off zwischen Zeit und Geld bleibt bestehen. Ich persönlich fühlte mich hier in Tsüri schon immer sehr frei. Und lustigerweise geht es meinen treuen Kollegen Temporärprekariern am Stadtrand (wow, Oerlikon und Schwamendingen und Altstetten und Leimbach und Witikon sind de iure Stadtzürich?) meist besser als denjenigen, die nach ihrem MBA oder Dr. med. gleich in 7 bis 11 Kilofranken-Jobs eingestiegen sind, und jetzt nicht mehr wissen wo hin mit ihrem Geld, in ihren jungen Jahren, in ihren hübsch aufgetakelten überteuerten Maisonettes im Vieri. Und schon die beschriebenen Burnouts spüren mit Mitte 30. Da helfen auch wunderbare Ferien mit goldenem Neid-Feedback auf Feissbook nur noch bedingt. (Das rede ich mir zumindest ein, solche Kollegen sind meist nicht mehr meine Kollegen)
In Westeuropa zu leben ist ein materielles Privileg (kein Geschenk von Gottes Gnaden an jeden Erdenbürger). In der Schweiz zu leben ist ein grösseres, in Zürich zu wohnen ein noch grösseres. Und dort dann am liebsten hausen „wie auf dem Land“ oder direkt am Bellevue oder fünf Gehminuten vom Arbeitsplatz, sonst kann man ja nicht glücklich sein, oder? Jammern auf höchstem Niveau, das macht sicher depressiv. Und damit cool und zürcherisch… 😉 Ehrlich: Unverschämt teuer sind in Zürich selbst mit hohem Lohnniveau nur die Mieten. Und die Krankenversicherung, wie überall in der Schweiz. Wenn man diese Kosten irgendwie umgehen bzw. senken kann, lebt man sogar als „Versager“ recht angenehm in Zürich. Und sonst gehört die Agglo ja auch schon fast zur Stadt. Irgendwie. Oder man schleppt den harten Franken ins billige Ausland, wo die bösen PFZ-ler herkommen, die ja anscheinend für die ganze Misere und den Ausfall der Geschenke von Gottes Gnaden an die holden Schweizer verantwortlich sind.
Und was ist schon „Erfolg“? Laut Duden: „positives Ergebnis einer Bemühung; Eintreten einer beabsichtigten, erstrebten Wirkung“. Also nicht unbedingt gleichbedeutend mit Cash. Wohl eher mit selbstverschuldetem Glück.
PS: Danke für diesen sensibilisierenden Beitrag, Herr El Arbi. Guets Nois noch, Ihnen und dem Stadtblog.
Etwas mehr Struktur im Denken und davor vielleicht etwas weniger Alkohol würde helfen bei der Erkenntnis, dass man in Zürich mit 3000.-/Monat nur als Dauer-Schmarotzer leben kann. Traurig, dass heute Kapitalismuskritik nur noch von Leuten wie Ihnen vorgebracht wird, und die SP von der Goldküste aus lieber das Multi-Kulti-Lied als die Internationale anstimmt.
@El Arbi: Wir leben in einer Plan und Eventgesellschaft, der Stress ist „Preis“ dafür. Viele Mibürger die ich kenne haben keine Spontanität mehr….