Raubbau am Nachtleben

Nicht einmal New York ist vor der Entwicklung sicher: Der Finanzdistrikt ist erneuert und nach 18 Uhr tot.
Am 1. November werden die Juso Berner Oberland in Thun das dortige Nachtleben zu Grabe tragen, samt Sarg, letztem Geleit und Rede eines (ungeweihten) Pfarrers. Die jungen Thuner Sozialisten wollen mit der symbolischen Bestattung einen Appell an die Stadtverwaltung Thuns richten, sich doch endlich um den Erhalt der dortigen Clubkultur zu kümmern.
Mit dem Selve Areal verfügte das Tor zum Berner Oberland bis circa 2006 über eine stattliche und quicklebendige Partymeile mit alt-industriellem Flair, die chicen Neubauten zum Opfer gefallen ist. Wie überall sonst in der Schweiz haben auch die Thuner Beamten damals viel zu wenig getan, um für Ersatz zu sorgen: «Das Nachtleben auf dem Selve verschwindet, na und?».
Jedoch muten die heutigen Thuner Nächte an, als ob in der mittelalterlichen Stadt erst kürzlich die Pest gewütet hätte: Es ist totenstill. Die Exponenten der Stadtverwaltung, die damals untätig zugeschaut haben wie das Selve-Areal untergeht, denken nun darüber nach, eine neue städtische Partymeile entstehen zu lassen.
Aber was interessiert es schon den Zürcher, was den Thuner umtreibt? Viel, denn auch hier verschwindet seit Jahren alte Industrie-Infrastruktur, der Boden auf dem innovatives Nachtleben erst gedeihen kann. Clubbetreiber wie beispielsweise Sandro Bohnenblust und Jean-Pierre Grätzer vom Supermarket, deren Lokal nächstes Jahr einer Ladenpassage weichen muss, haben unzählige Stunden und Tage mit der erfolglosen Suche nach geeigneten Nachfolgeräumlichkeiten verbracht, ohne effiziente Unterstützung seitens Stadtverwaltung.
Die kulturellen Freiräume verschwinden, die bezahlbaren Flächen ebenfalls und gleichzeitig bauen Firmen wie Mobimo in Zürich West einen Wohnturm nach dem anderen, gedacht für Mieter, denen Zürcher Verwurzelung und Kulturgeschichte im Quartier schnurz sind. Clubmacher werden nicht gefragt, sie werden vor vollendete Tatsachen gestellt, siehe beispielsweise Härterei: Neben dem Club ist ein Wohnsilo entstanden, das der Trabantenstadt im gleichnamigen Asterix-Band alle Unehre machen würde.
Anstatt dass sich nun die neuen Mieter an die länger dort ansässige Härterei hätten anpassen müssen, wurden dem Club lärmdämmende Massnahmen auferlegt, die ihm den Garaus gemacht hätten, wäre auf dem Maag Areal nicht glücklicherweise ein weiterer Raum verfügbar gewesen. Die Stadt stellt (nicht nur) in ihrem Westen das exzessive Hochziehen glitzernden Büro- und Wohn-Paläste für Betuchte weit über den Erhalt der Nachtkultur. Die Stadt bietet den Nachtbelebenden keine Alternativen an und auf der anderen Seite fliessen jährlich sagenhafte 75 Millionen ins Opernhaus.
Das ist kompletter Verhältnisblödsinn, ein trauriger Witz und solange dieser erzählt wird, winken auch hier am Horizont Thuner Zustände. Es fragt sich, wieso die Verantwortlichen nicht endlich zur Einsicht gelangen, dass Vorbeugen besser als Heilen ist – und warum alle halbpatzigen Gegenmassnahmen so mut-, kraft- und saftlos erscheinen. Aber vielleicht tun sie es ja angesichts der Tatsache, dass nicht sie sich mit den Folgen der Vernichtung von Nachtkultur-Optionen herumschlagen müssen, sondern ihre Nachfolger.
Alex Flach ist Kolumnist beim Tages Anzeiger und Club-Promoter. Er arbeitet unter Anderem für die Clubs Supermarket, Hive, Nordstern Basel, Rondel Bern, Blok und Zukunft.
18 Kommentare zu «Raubbau am Nachtleben»
Guter Artikel, das Thema beschäftigt mich auch schon lange. Was ist, wenn auch das Geroldareal zu einem schicken Apartmentkomplex geworden ist? Kein Wunder, finden innovative Freiräume keinen Platz mehr in unserer Stadt. Die Härterei ist ein vorzeigebeispiel. Ein etablierter Klub wird von Neumietern einfach weggeklagt (mal ehrlich? man zieht in ein aufstrebendes Ausgansquartier und enerviert sich dann über Lärm?!). Studentenwohnungen müssen teuern Wohnblöcken weichen (Beispiel: Röntgenstrasse). Da muss man sich doch Fragen ob diese „Aufwertung“ des Quartiers auch wirklich eine ist. =/ Hoffe unsere Generation macht nicht die gleichen Fehler.
Das fand ich auch lustig, dass dort gegen Klub,s geklagt wurde, welche seit langem schon dort waren. Man kann hier sicher auch gegen Kindergeschrei AUS Kindergärten klagen. Vermutlich weil man darf. Gegen Fluglärm wär es vermutlich verboten.
danke für den Bericht Alex. wenn ich das lese, muss ich unweigerlich ans Kugl in St.Gallen denken. da haben es die Betreiber hoffentlich bald geschafft
als Info: http://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/stadtstgallen/tb-ag/Gruenes-Licht-fuer-neuen-Eingang-zum-Kugl;art197,3934209
Ja… Unglaubliche Geschichte. Ein einziger, offensichtlich überpenetranter, Anwohner hebelt eine ganze Institution aus…
es wäre vor allem doch zu wünschen dass die Szene alternativ belebt wird. Ich gehe seit einiger zeit kaum mehr in clubs weil einfach alles das selbe ist. von der Deko zu den Türstehern und der Musik st einfach alles überall genau das selbe langweilige.. (z.B. auch das supermarket)
YOU Made. Beläbed im Moment darus wirds interessant…bis dänn… Psy love YOU
Da stimme ich einerseits zu (keine Alternativen angeboten), andererseits ist die hiesige Clubszene seit ihrem Boom in den 90ern als Zürich noch als Europäische Stadt mit dem dichtesten Kutlur-und Subkulturangebot gepriesen wurde, ihren Glanz verloren. Alles wurde vereinheitlicht – Dekoration, Musik, Publikum… von wenigen – leider kurzlebigen – Beispielen abgesehen, leben wir in einer 0815 Nightlifekultur. Man hat sich also auch nicht darum bemüht, innovativ zu sein, weshalb auch?
Andererseits, habe ich nicht die 90er erwähnt? Da gab es eine 15-jährige Krise, strikte Öffnungszeiten, restriktive Politik gegen alles, was nonkonform war – und genau aus diesem Unnährboden konnte sich so viel entwickeln, DANK der Initiative von wirklich innovativen Leuten. Hinweg mit Streetparade und Kommerztanztempeln! Steht auf, nehmt den Underground und kämpft euch ans Neonlicht! Ihr Jungen habts in der Hand!
Ein anregender, guter,Artikel Herr flach…..sollte man doch Wachwerden bevor man vom Finanzmonster erstickt wird.
Ganz ehrlich, ich frage mich, ob ein städtisch organisiertes Nachtleben wirklich soooo toll wäre… Gewisse Dinge kann man einfach nicht planen, sie wachsen mit, gedeihen oder gehen ein; aber eben nur in einem kreativen Umfeld, dass nicht von staatlichen Leitlinien erdrückt wird.
Niemand spricht davon, dass die Stadt das Nachtleben „organisieren“ soll. Aber fördern wäre schön, so wie auch andere Kulturbereiche gefördert werden. Das müsste nicht mal mit Geldmitteln sein, aber beispielsweise indem die Stadt aktiv bei der Suche nach geegneten Räumlichkeiten hilft und indem sie die Belange anderer städtischer Stakeholder nicht automatisch über jene der Clubmacher stellt. Das wäre schonmal sehr hilfreich.
„aber beispielsweise indem die Stadt aktiv bei der Suche nach geegneten Räumlichkeiten hilft“ Wie geagt, wissen tu ich ja auch nichts, aber ich frage mich, ob die Stadt unter „geeigneten Räumlichkeiten“ dasselbe versteht, wie der Clubbetreiber…
Natürlich finde ich diese stiefmütterliche Behandlung des Nachtlebens auch nicht gerade toll (im Vergleich zu anderen subventionierten Freizeitmöglichkeiten geradezu willkürlich), aber ob ich den umgekehrten Fall besser fände…da bin ich mir nicht so sicher.
Sie versteht darunter mit riesiger Wahrscheinlichkeit nicht dasselbe. Und warum? Weil sie nicht mit dem Nachtleben spricht, weil sie sich nicht für dessen Funktionalitäten interessiert. Dies ist die Wurzel des Problems. Als erstes müsste eine Kommunikation aufgebaut werden. Ein gutes Beispiel sind Wolffs Bestrebungen zum Brückenschlag zwischen Anwohnerschaft und Nachtleben: Zig Beamte sind in dieses Projekt involviert, unabhängige Berater auf Nachtlebenseite bis anhin noch keine.
„Weil sie nicht mit dem Nachtleben spricht, weil sie sich nicht für dessen Funktionalitäten interessiert.“ Ist klar, ich wollte eben nur die Behauptung in den Raum stellen, ob es denn so viel besser wäre, wenn sie sich dafür interessieren würden 🙂
„unabhängige Berater auf Nachtlebenseite bis anhin noch keine.“ Uuuund: unabhängig? Na wohl kaum… (keine Kritik, nur Feststellung)
tsts, nicht nur staatliche Leitlinien können ein kreatives Umfeld ersticken, sondern auch Finanzwirtschafts-Leitlinien.
Sind sicher die Architekten dran schuld, diesen pösen Abzocker mit Löhnen von 6000 Fr. im Monat. Oder gar die Architekturstudenten, die zu wenig idealistisch sind, weil sie vielleicht zukünftig lieber ihre Kinder durchfüttern wollen als ohne Lohn gegens Establishment zu kämpfen.
Von der Schuld freisprechen möchte ich aber die Grundbesitzer. Das sind alles gute Schweizer, die hoffentlich ehrlich ihre Steuern zahlen und Arbeitsplätze schaffen.
Nun ja, wenn man sich verkauft, auch als Journalist, muss man sich eben eine gewisse Häme gefallen lassen. Die Architekten, die ich kenne, wollen keine bewohnbaren Bauten entwerfen, die wollen Kunst machen. Und am Ende hat man immer etwas Geometrisches aus Stahl und Glas. Und sie sind extrem stolz drauf, dass sie sowas entworfen haben.
Und das wär ja auch nicht so schlimm. Entwürfe tun niemandem weh. Aber irgendwer baut den Mist dann auch.
Ja, das ist traurig mitanzusehen. Besonders weil wir doch eine Stadtregierung haben die in diese Richtung etwas sensibel sein sollte. Aber sobald auch den Bewegten die Dollares winken knicken sie gerne ein.