Auf der Suche nach dem Stammtisch
Text: David Sarasin, Redaktion: Reda El Arbi
Eine Frage beschäftigte uns jüngst: wie ist es eigentlich um den Stammtisch bestellt? Man hört ja nicht nur Gutes über diese Schweizer Institution, die einst für den gemeinschaftlichen Zusammenhalt im Dorf stand, doch dann irgendwie in Verruf geriet. Angeblich äussern dort die Polterer in geschütztem Rahmen Sachen, für die sie vor Gericht gezerrt werden könnten. Desweiteren sagt man, die Kommentarspalten hätten den wahren Stammtisch abgelöst. Also ist der Stammtisch tatsächlich ein Ort voller Sarkasmus und fehlender Interpunktion, wo gepoltert wird und geflucht? Wir machten uns auf, im Umland von Zürich einen Stammtisch zu finden, also Menschen zu treffen, die sich nicht via Whatsapp unterhalten, sondern beim Feierabendbier von Angesicht zu Angesicht über die Weltlage parlieren.
Doch wohin bloss? Besitzt nicht jeder Weiler einen Stammtisch? Eine telefonische Erkundigung bei einigen Gemeinden weisst auf das Gegenteil hin. „Stammtisch? Die haben renoviert, das ist jetzt eine Art Lounge“, heisst es von Andelfingen bis nach Zumikon. Nun, Ratan-Chaises, Apérol Sprizz und-Oliven mit Bambus-Zahnstochern, das suchen wir nicht. Stattdessen vergilbter Täfer, Zweifel Erdnusspäckli und krumme Stumpen. Auf jeden Fall mit gusseisernem Aschenbecher auf dem Tisch. Darauf in Kapital-Lettern so gross wie Wurfsterne STAMMTISCH. Und nicht APERO-LOUNGE.
Dübendorf, Bistro
Vorerst fahren wir in die Vorstadt. Dübendorf liegt bekanntlich an der Stadtgrenze und ist mit mehr als 10’000 Einwohnern genügend gross, um eine eigene Stammtisch-Kultur zu besitzen. Die Dame von der Behörde hat uns das Restaurant Bistro vorgeschlagen. Also erstmal ins Innere dieses Sechzigerjahre-Baus an der Kreuzung im Stadtzentrum. Dort sitzen sie tatsächlich um einen grossen Tisch: drei betagte Damen und zwei Männer mit Arbeitskleidung, asymmetrisch am langen Tisch gruppiert, jede und jeder mit alkoholischen Getränken. Klischee ahoi! Die Stimmung allerdings ist heiter, man spricht über Fruchtfliegen und Parkplätze und wartet mit dem einen oder anderen Witz auf. Nein, nicht Rolf habe sie gesagt, sondern Strolch. Der ganze Tisch lacht. Es ist eine vergnügte Runde, die offenbar ohne Soziale Medien lebt, kein einziges Smartphone blitzt auf. Wir trinken am Nebentisch unseren Kaffee-Doppel-Crème. Beim Gehen rufen wir Adieu!, durch den Raum, eine noch lauteres Adieu kommt im Chor zurück. Da dachten wir, wir stossen ins Herz der Finsternis vor, entdeckten aber vor allem unsere eigene Arroganz – gepaart freilich mit Ignoranz. Der Abend ist allerdings erst angebrochen, wir machen uns auf, weiter weg von der Stadt, wo wir doch sicher das finden, was wir suchen.
Volken, Post
Wo ist der Kanton Zürich am ländlichsten? Im Weinland, wo die grösste Gemeinde (Andelfingen) etwas mehr als 2000 Einwohner zählt und die kleinste, Volken, knapp 300. Wo der Wein herkommt und die Tabakfelder blühen. Wir fahren an Winterthur vorbei, nehmen die Ausfahrt Henggart und kurven auf Landstrassen in Richtung Flaach. Der Gemeindepräsident von Andelfingen sagte uns tags zuvor am Telefon, dass besonders in der Post Volken noch sehr viele Stammgäste verkehrten. Und wir dachten: je kleiner der Ort, umso grösser die Chance, dass die Einheimischen eine Stammtisch-Kultur pflegen. Unser erster Eindruck zeigte wiederum etwas anderes: Eine heitere Szenerie, fettiges Essen und nur wenige, die Fremdlinge wie uns beim Betreten der mit Holz ausgekleideten Kneipe musterten – es war bloss der Tisch in der Ecke, an dem die unter Dreissigjährigen sassen, die uns mit fast schon städtischer Arroganz beäugten. Am Nebentisch sowas wie der Stammtisch. Wir schnappen Sätze über Ferien in Italien auf, einer erzählt von einer kniehohen Modeleisenbahn (die wir gerne auch mal sehen würden). Der hellrote Landwein fliesst Kannenweise. Auch hier finden wir den griesgrämigen Polterer nicht, dafür ein geselliges Zusammensein. Freundlich wird gewinkt, als wir die Beiz verlassen.
Affoltern am Albis, Rosengarten
Affoltern am Albis ist unsere nächste Station. Denn dort kommen Manns-Männer vom Schlage eines Toni Bortoluzzi her. Männer mit Weltanschauungen, so unverrückbar und steinzeitlich wie das Matterhorn. Auch der Moderator Hans Jucker wirtete einst in Affoltern. Diese beiden Exponennten an einem Stammtisch, genau sowas hatten wir im Blick, als wir unsere Mission starteten. Hans Juckers ehemalige Kneipe ist jetzt eine Art Cabaret und im Rosengarten, wo man uns später hinschickt, ist der Stammtisch bereits abgezogen. Wir sollen an einem anderen Abend vorbeikommen und diese Männer mal kennenlernen. Sehr gerne.
Unser zweiter Besuch
Bei unserer Ankunft eine Woche später, es war so gegen 19 Uhr, haben sich am langen Tisch im Rosengarten bereits neun Männer und eine Frau eingefunden. Man wusste, das wir kommen. Viel jünger als 60 war keiner der Männer am Tisch. Wir werden mit Witzen über den «Tages-Anzeiger» und die Medien allgemein empfangen. Grosses Gelächter. Kaum sitzen wir, verabschiedet sich der Erste «weil zuhause das Nachtessen wartet». Ein paar Fakten, die wir als erstes erfragten: Seit 40 Jahren kommt dieser Stammtisch zusammen, einige der rund 15 Mitglieder treffen sich jeden Tag («Wir sind eine 365-Tage-Gemeinschaft»). Das politische Spektrum ist breit, deshalb streite man sehr viel und auch sehr gerne. Der Ausdruck Arschloch sei an diesem Stammtisch jedenfalls keine Beleidigung. «Wichtig ist es, dass man am nächsten Tag die Festplatte wieder löscht», sagt der Chef am Tisch. Da er selber die Ansichten der SVP vertritt, ist er stets im Zentrum genau dieser Auseinandersetzungen. Obwohl er klar Stellung bezieht, will er «seinen» Stammtisch klar von dem SVP-Stammtisch unterschieden wissen. «Wir sind für alle Meinungen offen». Die politischen Diskussionen drehen sich um Verteilung des Reichtums, Steuern, Sozialstaat. Ob sie sich auch in der Gemeindepolitik engagieren, fragen wir. Lautes Lachen: «Nein, da ist nichts mehr zu retten»
Folgende Berufe und Ex-Berufe sind vertreten: Bäcker, Siebdrucker, Supermarktmanager, Automechaniker, Elektromechaniker, Hausfrau, oberes Kader in einer Logistikfirma. Der ohne Widerspruch anerkannte Vize-Chef, ein rundlicher Mann mit agilem Gemüt, lacht am meisten und auch am lautesten am Tisch – über seine Witze, über die der anderen, über alles. Trotz der grundsätzlich heiteren Stimmung, gibts auch Zurechtweisungen, die in halbernstem Ton vorgebracht werden: «Das geht jetzt zu weit, geh mal raus, eine Zigarette rauchen» wird dem neuesten, aber bei weiten nicht jüngsten Mitglied der Runde mehrmals nahegelegt. Es gibt also offenbar einen allgemein anerkannten Rahmen für Frotzeleien und Sprüche.
Bald wird klar: Dieser Stammtisch ist eigentlich ein in die Jahre gekommener Jugendtreff. Das, was man sich als wirksamstes Mittel gegen Vereinsamung vorstellt, ist hier im Rosengarten Realität. «Es ist wichtig, dass wir uns in der Beiz treffen und nicht bei Einladungen zum Essen zuhause. So bilden sich keine kleineren Gruppen.» Ausserdem spielten dann Einkommen und sozialer Status eine Rolle, am Stammtisch dagegen nicht. Es ist so, dass im Rosengarten der reine Akt des Zusammenkommens wichtiger ist als jedwelche Differenzen. Toleranz und soziale Integration wird hier möglicherweise stärker umgesetzt als in den relativ klar getrennten Szenen der Stadt. Nun sitzen wir also hier und beobachten diese Antithese zur Individualisierung in den Städten. Lachen und trinken mit. Ob man sich auch mal treffe ohne etwas zu trinken? Wieder schallendes Gelächter.
Zwei der Stammtischler sind ursprünglich Deutsche, einer Italiener, die Freundin des Chefs stammt aus Marokko, der Rest ist aus der Schweiz. Dabei sein kann im Grunde jeder, er soll sich nur einfügen können, sagt der Chef. Ja, auch der Hans Jucker sei viel hier gewesen («en geniale Typ») und auch Bortoluzzi käme dann und wann in die gleiche Kneipe. Der SVP-Stammtisch allerdings treffe sich in einem anderen Lokal. Es scheint durch, dass man dann doch nicht soviel gemein hat mit denen, nur schon, weil dort selten Frauen aufkreuzten. Der SVP-Stammtisch hätte wohl eher unserem Klischee entsprochen, denken wir. Wir sehen aber davon ab, dahin zu gehen. Lieber behalten wir jene Form des Stammtisches in Erinnerung, die wir im Bistro, in der Post und vor allem im Rosengarten angetroffen haben. Irgendwann sitzt man vielleicht selber da, wenn Dinge wie Facebook oder Whatsapp irgendwann nicht mehr so wichtig sind.
3 Kommentare zu «Auf der Suche nach dem Stammtisch»
hoffentlich wir der STAMMTISCH alle schnellzüge der Entwicklung überleben, eine der wenigen orte wo das mensch sein noch zelebriert wird, wo es tönt-riecht und klöpft wie es uns gebührt und all das sterile, impotente und verklemmte keinen eingang findet.hoffendlich…..:)
stammtische sind eigentlich nur befruchtend wenn
a) sich mindestens ein opfer am tisch befindet
b) nicht über politik diskutiert wird
c) keine frau dabei ist.
und wir von der svp haben keine stammtische!! – wir haben arbeitssitzungen im spunten!! das ist etwas gaaanz anderes!! 🙂
Schöner Artikel. „Toleranz und soziale Integration wird hier möglicherweise stärker umgesetzt als in den relativ klar getrennten Szenen der Stadt.“ Für mich die Kernaussage über die sich der eine oder andere ach so tolerante, uraben und hippe Stadtbewohner mal ein paar Gedanken machen sollte.