Die Bünzli-Bremse
Es ist drei Uhr früh. Man liegt wach im Bett und baut Aggressionen auf. Die Gläser klirren im Takt. Der Nachbar feiert offenbar eine Party mit viel Bass. Oder macht etwas anderes, das rhythmisch rumst und eine oder mehrere Frauen zum Quietschen und Lachen bringt.
Eigentlich müsste ich schlafen, morgens früh aufstehen. Und das ist nun schon das dritte Mal in den letzten zwei Wochen. Aber ich drehe mich um, lege ein Kissen über den Kopf und gehe nicht etwa rauf und klopf an die Tür. Auch werde ich nicht Polizei rufen. Einmal Party macht doch nichts. Hab ich früher doch dauernd gemacht.
Und überhaupt! Ich will ja nicht wie der letzte Bünzli dastehen. Anstatt jetzt hoch zu gehen, um mit genageltem Wanderschuh in der Hand an die Tür zu klopfen und hueresiech endlich etwas Ruhe einzufordern, zwinkere ich dem Nachbarn am nächsten Abend, wenn ich total übermüdet nach Hause komme (er ist gerade aufgestanden), verschwörerisch zu und bemerke «Geile Party gestern?». Worauf er mich anschaut, als hätte ich ihm ein unanständiges Angebot gemacht – und sich ohne ein Wort wieder in seine Wohnung verzieht.
Dann draussen auf dem Trottoir: Der kuule Velokurier fährt mich beinahe über den Haufen, grunzt in sein Schultermikrophon und schwingt, ohne Rücksicht oder Entschuldigung, weiter seine Waden. Ich schicke ihm ein unsicheres Lächeln hinterher und stottere ein verspätetes, in die Luft gestammeltes «Ha – hallo, schöne Tag» hinterher. Schliesslich muss man soviel Hippness doch mit einem gewissen Respekt begegnen.
Natürlich könnte ich beim nächsten Mal Terror machen, ich könnte sogar die Polizei rufen, sowohl beim Nachbarn wie beim Kurier. Warum mache ich das nicht, wenns mich doch wirklich stört und der Nachbar ein arroganter Idiot, bzw der Velokurier ein ignoranter Vollpfosten ist?
Weil ich über eine innere Bünzli-Bremse verfüge. Das ist ein Teil, das zwischen dem Bereich, in dem Wut entsteht und dem Bereich, in dem urtümliche Empörung formuliert wird, platziert ist. Aufgabe der Bünzli-Bremse ist es, jegliche Reaktion und jede Handlung darauf abzuchecken, ob sie auch cool genug ist. Nur ja nicht spiesserhaft oder intolerant oder gar altmodisch (nicht in der herzigen Hipsterart altmodisch, sondern in dieser nervigen «Die heutige Jugend ist …»-Art altmodisch) erscheinen.
Weltoffen und spontan zu sein erfordert harte Arbeit, konsequente Zensur und reflexartiges Reagieren auf Situationen, in denen man spiessig oder bünzlig erscheinen könnte. Als Nicht-Bünzli muss man sich dauernd darüber Gedanken machen, was die Anderen denken könnten. Denn wenn die Anderen auch nur ein Mü Bünzlitum in mir wittern, bin ich uncool. Das wäre dann der Punkt, an dem ich mein urbanes Selbstverständnis bei Exit oder Dignitas vorbeibringen könnte.
Die Hemmung, sich als Bünzli zu outen, und deshalb nicht seine wahren Gedanken auszusprechen, hat etwas ungeheuer Bünzliges. Toleranz ist notwendig, wenn man so dicht aufeinanderlebt, aber genauso ist eine gewisse Ehrlichkeit vonnöten. Ob die Ehrlichkeit oder die Kritik als spiessig aufgefasst werden, hat mehr mit meinem Gegenüber als mit meiner Intention zu tun. Wie sonst sollen die einzelnen Mitglieder einer Zivilgesellschaft sonst wissen, wann sie mit ihrer eigenen Freiheit über die Grenzen der Freiheit anderer trampeln?
Ich bin dennoch froh um meine innere Bünzli-Bremse. Sie macht es mir möglich, mir zu überlegen, obs denn wirklich so wichtig ist, zu reklamieren, bevor ich lospoltere. Und wenn ich dann trotzdem mein Maul aufreisse, weiss ich, dass es angebracht ist.
37 Kommentare zu «Die Bünzli-Bremse»
Echte Bünzlis sind moralinsauer, unflexibel und selbstgerecht, eben unerträglich.
es gibt keine uebersetzung fuer buenzli, d.h. es muss frei interpretiert werden. eine NORM PERSON, welcher sich schwer tut von seinem standart begreifen abzuweichen??? korrektheit ueber alles? angepasst und unterwuerfig??? das buenzlitum scheint mir vor allem im fortgeschrittenen alter seine urwuechse anzunehmen was dem zu folge auch seine rechtfertigung hat. buenzlis bringen die balance zwischen den chaoten und den verlorenen, so sehe ich das.
Eine mühsame Diskussion, da subjektiv und doch – für jeden alleine – klar. Schlaf ist lebenswichtig, Schlafentzug ist schädlich. Lärm ist Agression; bei den Einen mehr der Verkehrslärm, bei den Anderen mehr der Partylärm (Feiern, Streiten, etc). Das Wort „Gemeinschaft“ finde ich gut – aber trifft es auch zu? Ist Zürich eine Gemeinschaft? Haben wir alle die gleiche Vision dieser Stadt, den gleichen Wertekatalog? Trotzdem, wir leben alle zusammen auf einem kleinen Fleck. Da gebe ich Rücksicht wesentlich mehr Gewicht als Toleranz. Rücksicht nehmen, grenzt ein. Durch Rücksichtsnahme gebe ich etwas einer „Gemeinschaft“, somit habe ich auch das Recht auf Toleranz. Bünzli, IIRC eine Theaterfigur, ist auch wer sich gesellschaftlicher Konformität verschrieben hat – in jedem Gewand (ja, auch als Hiipster oder was auch immer). Anständige, rücksichtsvolle Menschen kann ich nicht als Bünzlis bezeichen. Menschen die nur fordern, wenig geben, sich in ihren kleinen Kreisen (Szenen) aber noch hochzelebrieren, sich selber emporheben indem sie andere erniedrigen; für diese Sorte Mensch gab es mal eine Bezeichnung: Asoziale.
Wie definiert man denn heute asozial? Das ist doch höchst subjektiv, asozial kann gerade auch der kleine Bünzli sein, der der Ansicht ist, seine Moral müsste allen anderen aufgedrängt werden, obgleich diese heute einen ganz anderen lifestyle haben, insbesondere im 21. Jh. und insbesondere in der urbanen Stadt.
in allen von uns sitzt der bünzli. je älter man wird, desto mehr manifestiert er sich. es kommt nun auf das individuelle mass an toleranz an. auf die momentane stimmung, und die subjektive gewichtung des umstandes. ganz nüchtern und mathematisch. wir haben hier somit schon mal 5 variable. multipliziert mit den möglichen umständen bewegen wir uns in lotterie-sphären. es bleibt also nur die selbstkontrolle. entweder sie machen yoga und/oder ihre schmerzgrenze ist nach oben offen, oder sie ziehen weg von der stadt.
Also ich fühle mich geradezu geehrt ob der Anerkennung, die mir in diesen Kommentaren entgegengebracht wird. Wir im fernen Aargau mögen Rüben.
Sehen die Partnerinnen dort wirkilich so ländlich aus? 😉
@Samuel: Nein, das ist natürlich reine Inszenierung. Die Frauen im Aargau verkleiden sich nur als fesche Bäuerinnen, wenn die Zürcher in die Agglo kommen wegen Brautschau.
🙂
Agglo zu sein ist schon eine feine Sache! Die Vorteile der Stadt geniessen, ohne dabei zwanghaft darauf achten zu müssen den ach so urbanen gepflogenheiten zu entsprechen. Wenns dann zuviel Hipness wird kann ich einfach aufs Land zurück zu meinem Miststock und den Kühen. Keine Wohnungsnot, kein Verkehrschaos, keine Velokurriere und gleich schnell am Arbeitsplatz wie wenn man das innerstädische Tram nimmt. The best of both worlds… Agglo ftw!
Wenn unsere Aglos dann demnächst nur noch die Öffentlichen nutzen dürfen und Autos draussen zu bleiben haben, das wird ein Spass und Wohlgenuss für uns Weltstädter.
Gebürtige Zürcher, Berliner, Pariser haben die Coolness meist mit Löffeln gefressen. Aglos können da nicht mithalten. Bleibt zu hoffen, dass sie gute und weise Lehrer in der grossen Stadt finden. 😉
Bünzlig ist, vom Land in die Stadt ziehen, in eine WG oder in ein überteuertes Rattenloch und dann meinen, jetzt kann ich so richtig Rambazamba machen weil Zürich = Partystadt und hier kennt mich ja keiner.
Und wenn man sich dann beruhigt hat und der nächste Agglo oder Entlebucher in der Wohnung nebenan einzieht und dieselbe nervöse Nummer abzieht, geht einem das dann gehörig auf den Sack, aber sagen tut man trotzdem nichts weil das wär ja irgendwie voll uncool.
ich sehe nicht, wo das mit bünzli zu tun hat, wenn man einem lärmigen nachbarn notfalls mit der polizei auf die zehen tritt… besonders, wenn es sich wiederholt. denn die freiheit eines jeden hört da auf, wo die des anderen anfängt.
„Toleranz ist notwendig, wenn man so dicht aufeinanderlebt“ – genau so notwendig ist die Rücksicht, wenn man so dicht aufeinanderlebt. Und die darf auch einmal eingefordert werden.
Dichtestress fühlen nur Landeier.
Nicht ausschliesslich Landeier. Als ich bspw. heute Morgen dicht nach hause kam, gab’s auch stress.
Grossartig, Harald. Wenn mir das morgen früh im vollen Tram wieder einfällt, denken die Mitfahrer, ich wäre nicht ganz dicht.
Wer offen ist für alles, ist nicht ganz dicht.
Genau, Bünzlis gibt es schon genug, mehr Coole braucht das Land. Was in der Stadt bei Langzeitbewohnern eigentlich einfach wäre, ob der vielen zugereisten Aglobünzlis aber schwer ist.
vielleicht gibts schon genug coole und bünzlis, ist irgendwie auch dasselbe. vielleicht etwas weiteres?
Extreme Langweiler, solche die zu lethargisch zum leben als auch zum bünzeln sind?
@onassis. Das ist DER Bünzli Kommentar, Onassis. Langzeitbewohner sind cool, Zugereiste sind Bünzlis. Oder vielleicht Schwarzhaarige sind cool , Blonde sind Bünzlis, – Dicke sind cool, Dünne sind Bünzlis?
Ich sage Niarchos war cool, Onassis ein Bünzli!
Nicht Fakten mit Willkür verwechseln, Bünzlis kommen meist aus bünzligen Ecken, Städte zählen da eher weniger drunter.
Nun ja, das ist Quatsch. Sonst würden in Zürich 300 000 coole, weltoffene Leute leben …
Ohne Frage gibt es auch in Städten Bünzlis, aber aus meiner Erfahrung ist die Quote weit geringer als auf dem Land. Und die in den Städten da bünzlig seien, sind es auf anderem urbanerem Niveau, als die da auf der Weide. 😉
Réda, ist der Trick nicht etwas einfach?
Im letzten Blog hast du Werbung dafür gemacht, dass Zürich lärmiger werden müsse, gegen den Willen der Bewohner.
Und in dem Blog tust du so, als würdest du das Gelärme um dich rum auch alles akzeptieren.
Jep. Offenbar gehts um die Spannung zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Entwicklung. Innerhalb dieser Spannung finde ich immer mal wieder auf beiden Seiten. Aber natürlich wärs einfacher, wenn diese verfluchte Welt schwarz/weiss und nicht so nervig komplex wär.
und weils ein provozierender blog ist, nennt er es „bünzli-bremse“, er hätte das was damit gemeint ist auch anders nennen können.
Yep. Provozierende Beiträge generieren Klicks. Schwarz-weiss verkauft sich gut.
Lieber Stadtzuercher, deine stringente Logik und dein aussergewöhnliches Argumentationstalent, so wie dein festhalten an deinen Anliegen haben dir unsere Auszeichnung „Troll des Monats“ eingebracht. Gratuliere!
Sollten die wirren, wechselnden Angriffe aber keine durchdachte Trollaktion sein, dann tut es uns leid. Wir schicken dir geeignete Adressen, wo du Hilfe bekommst. 😉
Die Bünzli-Bremse könnte insofern gut sein, wie erwähnt, dass man erst ein Bisschen Selbstreflexion betreibt, bevor man handelt. Cool sein, bedeutet für mich aber nicht, allen Dingen gegenüber gleichgültig zu sein. Die Frage ist nur, WIE ich meine situativ unangenehme Meinung nicht-bünzlig rüberbringe, ohne gleichzeitig aber an Ernsthaftigkeit zu verlieren. C’est le ton qui fait la musique. Sowas fordert viel Einfühlungsvermögen und auch Übung. Grundsätzlich gilt aber, dass mit einem Lächeln vieles einfacher läuft. Das gilt übrigens auch in der digitalen Kommunikation. Mit einem richtig platzierten Smiley (nicht damit übertrieben, das machen nur Teenager) lässt sich eine ernste Sache gleich entschärfen.
Sei doch einfach mal dich selbst, Bünzli.
Ja, aber ich selbst gehe nur bis dahin, wo der nächste beginnt. Wir sind keine Inseln, da kann man noch soviel Individualismus predigen, Realität ist: Wir sind eine Gemeinschaft. Rücksichtnahme und Freiheit müssen sich die Waage halten.
@ el arbi: Sehr guter Text, sehr wichtiges Thema!
@A.Spiesser: Der eigentliche Bünzli sind wirklich Sie, Sie sind wirklich ein prächtiges Beispiel eines Menschen, der gar nichts von den Problemen unserer Zeit versteht, selber aber glaubt, es sei das völlige Gegenteil der Fall. Lächerlich und sehr peinlich, solch neoliberale menschliche Produkte. Ein Fliessbandprodukt hergestellt mit den besten und allerneusten Technologien, hauptsächlich ein unendlicher Selbsteinbildungsapparat. Buah!
haha, idiot. nicht schlecht.
kennen wir uns? oder mussten sie einfach mal schnell ihren frust loswerden?
@a .spiesser: nein überhaupt nicht, zum glück nicht. nocheinmal für sie zum mitschreiben: lesen sie ein buch zum thema zeitgenössische hybris