Undercover Zeitung lesen
Unerkannt in einem Café Zeitung lesen, gerade so, wie man das in den Ferien an einem fremden Ort die ganze Zeit tut, ist in Zürich gar nicht so leicht. Erstens weil man hier nach einer Weile so viele Leute kennt wie auf dem Dorfe – wenn auch nur vom Wegsehen, wie das der Rapper Skor mal so treffend formulierte. Zweitens, weil in Zürich die Menschen vor allem in Gruppen unterwegs sind und nur selten allein. Seis im Café, im Park oder beim Joggen: Überall bilden sich Rudel, man kommt sich bald vor wie auf einer Hundeschule.
Nur blöd, wenn man von Zeit zu Zeit gern den einsamen Wolf mimt. Der dritte Grund schliesslich, warum man Anonymität in Zürich nicht immer ganz leicht findet, ist: Jedes gewöhnliche Café – der Espresso heisst hier übrigens noch Express und der Latte macchiato Schale – wird früher oder später von Szene-Gastronomen zum hippen Brunchlokal umfunktioniert. Was bereits wieder Rudelbildung nach sich zieht.
Hier deshalb eine unvollständige und zugleich paradoxe Liste mit Orten, an denen man auch mal allein sein kann. Sie lassen sich übrigens weder in die Schmuddelecke einordnen, wo es sich immer leicht verstecken lässt, noch sind es Schickimicki-Lokale, in denen zumindest unsereins niemanden kennt. Stattdessen sind es Orte, an denen sich Zürich anfühlt wie eine Grossstadt.
Belcafé
Man verweilt hier zwar nicht drei Stunden lang, doch für die Länge von zwei Kurzen eignet sich das hektische Belcafé beim Bellevue gut. Das Zeitungsangebot stimmt, die Aussicht auf die schönste Tramstation der Stadt entzückt. Dazu kommt: Der Espresso schmeckt ausgezeichnet, fast so wie in Mailand.
Casa Mia
Die grösste unbekannte Pizzeria Zürichs befindet sich eine Minute von der Bahnhofstrasse entfernt. Mit seinem stattlichen Betonvordach und den vielen, auf den Werdmühleplatz gerichteten Stühlen erinnert es an ein Pariser Boulevardcafé – ein etwas zu wuchtig geratenes freilich. Man kann hier sogar ein Buch lesen, so ruhig ist es unter der Woche.
Brasserie Federal
In der Hektik der Ankunftshalle des HB findet man rasch seinen Seelenfrieden. Mein Programm dort: am grossen Kiosk eine ausländische Tageszeitung kaufen. Auf einem Aussenplatz des Federal eine Stange bestellen. Das flirrende, etwas unwirklich anmutende Treiben in der Halle beobachten. Erst gerade hat ein Musiker dort mithilfe seiner Geige – er hat sie gezupft, verstärkt und verzerrt – den Riesenraum in eine wohlig gespenstische Atmosphäre gehüllt. Ein Schauspiel, das man im Kino nicht besser erlebt hätte.
Und wo verstecken Sie sich so?
20 Kommentare zu «Undercover Zeitung lesen»
…tja, je öfter man den sellben Ort frequentiert, desto schwieriger wird es mit dem in-Ruhe-Zeitunglesen und doch gibt es solche Oasen. Orte wo die Gäste und auch das Personal ein Gespür für die gerade angebrachte Distanz haben. Nur warum sollte ich diese geheimen Plätze hier der Oeffentlichkeit preisgeben. Am Ast sägen auf dem man sitzt? 🙂
Lieber Luescher, das hast Du perfekt beschrieben. Zwischen Distanz und Aufmerksamkeit, passt halt nicht mal eine Stück Papier, aber doch eminent wichtig für ein Lokal. Mir ist es egal, ob an der Wand ein Chagall hängt oder ein Poster vom Vilan aus dem Fächer.
Ich möchte in Ruhe gelassen werden, wenn ich das so möchte. Und gutes Personal weiss einen Blick zu deuten und lässt mich dann eben für einen Moment mal nicht in Ruhe.
Schmaler Grat.
Lieber Herr Sarasin, meiner Erfahrung nach ist die Wahl des Cafés nicht ganz so wichtig, jedoch die Uhrzeit sehr. Ich bin in der glücklichen Lage mir meine Zeit frei einteilen zu können, und ich suche Cafés gerne nach dem Mittagsgeschäft auf, packe mir mehrere Zeitungen und walze alle durch. Hin und wieder rauche ich eins mit dem Personal, welches mal durchatmen kann. Immer spannende Begegnungen.
Das Cafe Rietberg ist ein guter Tipp. Oder das Kafi für dich, neben den Hauptzeiten. Früher das Cafe Oasis an der Gartenstrasse oder das Sphères im Industriequariter, gerne hinten beim Durchgang zur Laderampe, wenn es denn mal Sommer wäre.
kafi für dich? da muss man aber definitiv in der glücklichen lage sein, die zeit selber einteilen zu können. allgemein scheint es, dass die dortige bedienung unter seh- und hörstörungen leidet. wer gerne umgehend bedient wird, sollte m. e. ein anderes café aufsuchen.
Darum schrieb ich es ja 🙂 Ob ich jetzt umgehend bedient werde oder 3 Minuten warten muss, das geht mir ehrlich gesagt an meinem Allerwertesten vorbei. Was mich viel mehr nervt wenn das Personal dauernd um mich rumscharwenzelt.
Und ja, das Kafi für dich liegt einfach auf meinem Weg
im kafi für dich kann ich nicht in ruhe zeitung lesen, vor allem neben den hauptzeiten nicht.
da werd ich regelmässig von unbefriedigten (alleinerziehenden?) müttern angemacht, die sich ein paar nettigkeiten oder nen quicky auf dem klo erhoffen.
Tja, Jorge. Wenn man seine Phantasien nicht von der Realität unterscheiden kann, dann ist das bitter. Richtig bitter.
🙂 geile Siech de Jorge.
Und Gretener, tu nicht immer so wichtig und kauf dir mal ne Tüte Humor…
Hahaha wie abgefahren, nach dieser Offenbahrung werden bald auch die sitzengelassenen ungef… Singlemänner dort patrouillieren. Guerilla Marketing?
:)….
Um wirklich Zeitung zu lesen: ETH-Bibliothek – grosse Auswahl an nationalen + internationalen Zeitungen und Zeitschriften. Bei Bedarf kann man kopieren. Wenn´s denn sein muss, im Journal of Astrophysics schmökern, ohne als völlig durchgeknallt taxiert zu werden. Mach das mal im Kaufleuten…
Ansonsten: Odeon – zwar nur Tagi + NZZ im Sortiment, davon aber jede Menge.
Auch gut: Casablanca in der Langstrasse. Gute Auswahl an deutschsprachigen Zeitungen/Zeitschriften.
unter pflanzen auf erde im garten
berta bar am idaplatz. ganz gemütlich zeitung lesen, inkl. hervorragendem bier. was will man mehr?
wenn man in ruhe was machen will muss man aufs land ziehen. wenn man action will, stellt man sich zu den stosszeiten an den zürcher hb. wobei ich mir „dawn of the dead“ doch lieber im heimkino anschaue.
Auch sehr geil die „20 Minuten-Zombies“ morgens im Tram, die jüngeren gerne auch mit Red Bull Dose dazu.
Abends dann mit Smartphone/ Blick am Abend vor dem Grind. Grusel.
Da weiss ich dann wieder weshalb ich das Auto mit Stau dem ÖV vorziehe.
Im Auto glotzt man nur trübe autistisch auf die Strasse, das ist eher noch schlimmer.
Etwas Schlimmeres als sein Hirn mit Gratiszeitungen zu verseuchen gibt es nicht.
Stimme Diego zu, ein grusliges Bild diese ÖV-Pendler.
Gratisblätter sind geistarm aber unterhalten nur ihre Leser schlecht. Autofahren ist geistarm und ihre Lenker vergasen zudem sich und ihre Umwelt, asozialer geht es nicht.
Diego: Ich gucke im ÖV auch hin und wieder auf mein Handy. Aber ich lese die Zeit, den Spiegel. Und nicht 20min.
Wenn der Tagi endlich vorwärts machen würde, könnte man auch die mobile Webseite endlich mal anständig nutzen…
Sie haben die Befehle, welche die Zombies via Ohrstöpsel vom Oberzomboiden bekommen, vergessen:-)