Der andere Kreis 4

Maria (vorne links) und Odette (vorne rechts) stellen ihren Kreis 4 vor.

Maria (vorne links) und Odette (vorne rechts) stellen ihren Kreis 4 vor.

Die Konzerte in der Bäckeranlage finden sie doof («schräge Musik»), die vielen Hunde im Brunnen ebenfalls. Und die Langstrasse meiden sie, wenn möglich. Am allerliebsten würden sie sogar hier wegziehen. Dies sagen die beiden Jugendlichen Maria und Odette, beide im Kreis 4 aufgewachsen und wohnhaft, die eine 16, die andere 17 Jahre alt. Im Rahmen der Pickeltouren führen sie durch «das verrückteste Quartier der Schweiz», wie im Begleitheft zur Tour angekündigt wird.

Ein gutes Dutzend Erwachsene folgt den jungen Frauen an diesem sonnigen Abend. Menschen sitzen vor den Cafés oder stehen auf der Strasse. Autos hupen. Erste Station ist der African Bazar an der Militärstrasse, gleich neben Pfarrer Siebers Sonnenstübli. Hier berichtet Odette, deren Eltern aus Westafrika stammen, von Haarverlängerungen und Nagelpflege. Erklärt was Fufu ist und woher das echte falsche Haar kommt. Sie lacht zwischen den Sätzen, gerät ausser Atem.

«Sexy Jeans»

Vor dem Kleiderladen Marco Di Renzo auf der anderen Strassenseite schiessen die Gäste später Fotos und stellen Fragen. Sie wissen nun auch, wer im Laden mit den mit Pailletten bestückten Blusen in der Auslage einkauft: Odette und Maria. Diese sagen, dass sie extra Geld sparen, um hier ihre «sexy Jeans» zu kaufen. Nicht jedoch Schuhe, denn «die sind für Bitches».

Dieser und andere spezifische Ausdrücke lassen sich im von den Mädchen ausgehändigten Slang-Glossar «Jugendprache Kreis 4» nachschlagen. Auch Begriffe wie  etwa «Chinchin» (Chinese), «Puta» (Prostituierte, analog zu Bitch) oder «Kecksi» (süss und sexy) werden dort erläutert. Die Führerinnen nutzen einige der Wörter aktiv.

Lange möchten Odette und Maria aber nicht vor dem Shop an der Langstrasse stehen bleiben, sie fühlten sich nicht wohl an dieser Ecke, wo Abhängige und Freier das Bild prägen, sagen sie. «Früher habe ich Männer angeschnauzt, die mir nachgepfiffen haben, was ständig vorgekommen ist», sagt Odette. Heute ignoriere sie die Freier so gut es geht. Vor allem aber komme sie immer seltener in die Gegend.

Als Ghetto-Tour möchte der Veranstalter Christoph Schneider vom Jugendhaus Dynamo die Führung mit Odette und Maria nicht verstanden wissen. «Die Zuhörer lernen einen anderen Blick auf das vermeintliche Trendquartier kennen», sagt er. Denn nicht alle lebten wegen dem Lifestyle hier. Dies wird auch auf der Tour deutlich. Odette sucht derzeit eine Lehrstelle als Fachfrau Pflege und Maria wird im Sommer ihre KV-Lehre antreten.

Der perfekte Kebab

Weiter gehts durchs Quartier Richtung Bäckeranlage. Die Mädchen sprechen übers Mikrofon, lassen sich auch von Zwischenrufen ihrer mit dem Rad vorbeifahrenden Schulkollegen nicht aus der Ruhe bringen. Dafür geben sie «Geheimtipps» preis: «Der Tas-Imbiss an der Brauerstrasse macht die besten Kebab der Stadt. Er ist perfekt.», sagt Odette. Maria zeigt sich derweil froh, dass so viele Polizisten in der Bäckeranlage für Ruhe sorgten.

Nach gut eineinhalb Stunden kehrt der Umzug im Jugendtreff Kreis 4 ein, wo andere Jugendliche mit Kaffee und Snacks aufwarten. Ein Mädchen mit dem Facebook-Logo als Ohrring verkauft Kuchen. Ein Junge im Schlabber-Shirt steht daneben und lächelt. «Danke fürs Zuelose», sagen Odette und Maria in breitem Züridütsch zum Abschied.

Viele Zugezogene, auch der Schreibende, lieben den Kreis 4 für seine Lebendigkeit und das Verruchte, das hier herrscht. Dass aber im Quartier junge Schüler ein ganz normales Leben führen, zwischen Lehrstellensuche und Schulhof-Flirts, geht manchmal vergessen. Die Pickeltour ruft einem das wieder in Erinnerung – und gibt einem zu denken.

Mehr Infos zu den Touren: www.stadt-zuerich.ch/pickeltouren

 

Haarverlängerung für Anfänger: Odette (r.) berichtet von ihrem Hobby.

Haarverlängerung für Anfänger: Odette (r.) berichtet von ihrem «Hobby».

 

24 Kommentare zu «Der andere Kreis 4»

  • Reto Hauser sagt:

    Checkt mal das Starkart aus! Und auch Pusterla! Kreis 4 ist ein wirklich tolles Quartier! Hoffe es wird nicht gesäubert!

  • Hans Saurenmann sagt:

    Creis 4/5 gehoeren zusammen am Helvetia Platz hat man seinen Unmut herausgelassen, vor 50 Jahren sind wir Freitag/Samstag in die Ziegel Huette gelaufen und haben uns ausgetobt, wobei einfach die Maedchen von Schwamendingen Federnfuehrend und wissend waren. Das Bild scheint hinter der Schule/Beckerallee und eines unsere Trendbeizen zu sein, wo die ausserroedler von Glaris und GR ihr Dilema ersaeufen mussten, wir haben dort gegessen gut und waehrschaft, gab praktiesch keine Reibereien, die Langstrasse war einfach zu teuer fue uns Jugentlichen. In die Schule ging ich an der Diener Str.. von dort mit dem Velo nach Glattbrugg, zwei mal hin und zwei mal retour, gearbeitet haben wir jeden Tag ohne Lohn, aber es gab ein ZVieri. Die Disney Clowns sehe ich praktische jeden Tag und die sind ein Landplage hier in Cape Canaveral, die meisten sind Schwul- oder Lesbish.
    Es Gruessli us em Cape en Stadt Buebe jetzt 69 Jahre alt.

  • Danny Kinda sagt:

    „Ein gutes Dutzend Erwachsene folgt den jungen Frauen an diesem sonnigen Abend.“
    Das muss aber schon lange her sein denn einen sonnigen Abend gab es das letzte mal etwa vor zwei Jahren..

  • Jan Novotny sagt:

    Wie es sich für einen richtigen Szenie gehört, MUSS ich mich zu diesem Thema auch melden. Ich habe nämlich mein Büro an der Langstrasse, ja richtig, mitten im K4. Ja, ihr hört richtig, ich bin selbständig. Hallo Mädchen, habt ihr das gehört? Mein Bier (Turbinenbräu, etwas anderes geht nicht), trinke ich im Casablanca. bzw. davor. Als Raucher eben. Dafür bei jedem Wetter. Hat den Nebeneffekt, dass man mich sieht. Im Sommer gehe ich über Mittag auch ins Kanzlei (das kann bei mir als SELBSTÄNDIGEM auch zwischen 15 und 17 sein), ja, ich bin offen für alles. Und wenn es ganz heiss ist, einfach in den Oberen Letten. Muss schon der Obere sein, der Untere ist nicht mein Ding. So, das wärs. Noch Fragen? Danke Folks für die Aufmerksamkeit oder: thanks for the read.

  • Johann Gutermut sagt:

    Mein Gottchen aber auch, Stadtentwicklung ist nun mal dynamisch und das ist gut. Wie sehr werden sich die Altstetter in ein paar Jahren über die hohen Mieten nerven? @ Mascha & Co.: Was ist euer Wunsch? Eine Gated Community für Künstler und Unkomplizierte? Klingt kompliziert. Ach, und noch was: Wenn du das Phänomen „Gentrifizierung“ ansprichst, dann bleibt dazu zu sagen, dass jene Gruppe, die du als Leidtragende darstellst, diejenigen sind, welche den ganzen Prozess erst auslösen.
    Johann Gutermut Ende.

  • Herbert Berger sagt:

    Selber im Chreis Vier aufgewachsen, gehen mir die Szenie- und Edel-Chreis-4-Zuzüger gehörig auf die Nerven. Vor allem, weil „dank“ ihnen die Mietpreise so hoch steigen, dass die Eingeborenen es sich nicht mehr leisten können, in ihrer Heimat zu leben und deshalb in die Agglo verdrängt werden.

    • sie haben so recht ich bin auch aufgewachsen an der badernerstrasse und wenn ich in die schweiz komme und mochte gerne sehen wo ich aufgewachsen bin ,das ist ja ein schreck und ich schame mich wie die schweiz sich nicht zum guten verandert hat.ich fuhle mich sehr um die veranderung in der schweiz.
      ich liebe die schweiz komme jedes jahr um familie besuche zu machen,aber jetzt bleibe ich lieber zuhause den die schweiz ist die groesste entauschung,weil sich alles so schlimm verandert hat.und naturlich der dollar wollen die banken auch nicht mehr.
      zu viele auslander wo kein intresse haben an der schweiz.
      bin froh habe viele videos von der schonnen schweiz ,das ist das schonste die erinnerungen von der fruher zeiten.nun wuensche ich ihnen alles gute .

  • Die Pickeltouren sind super, unbedingt zu empfehlen! Letztes Jahr habe ich z.B. an die Tour über Kaffee teilgenommen, hier den Bericht dazu: http://bonsbaisersdezurich.blogspot.ch/2011/10/les-pickeltours-des-tours-par-les.html

  • Lia sagt:

    hab lang im K4 gewohnt, gleich neben dem Rolandkino, und mich regelmässig mit den Prostituierten unten unterhalten und was getrunken. Hatte nie Probleme, auch nicht mit Freiern – wenn eine 17jährige mit Hotpants da rumläuft, muss sie sich wirklich nicht wundern, dass sie auch für eine Prostituierte gehalten wird.

    • Hitz sagt:

      Ja, diese 17-jährigen mit ihren Hotpants! Müssen sich aber über gar nichts wundern! Gopferdelli!
      Wieso können die nicht einfach in Burkas rumlaufen, dann wären die armen Freier nicht gezwungen, ihnen nachzupfeifen.

  • M sagt:

    Genau das ist ja das Problem. Einige (wie ich) sind in diesem Quartier aufgewachsen. Und andere (hier sogenannt zugezogene) sind einfach Szenis und Landeier, die demonstrativ was erleben müssen. Die unbeding ach-so cool sein müssen. Die unbedingt im verruchten, lebendigen Quartier leben müssen. Leben die Anderen Quartiere nicht? Nein, weil die Personen nicht an den offenen Fenster ihrer coolen Szeniwohnungen „Party machen“.
    Willkommen in der Welt.
    Und.
    Get a Life.

    • P sagt:

      Ganz ehrlich – ich kann dieses getue von, ich bin da aufgewachsen die andern bösen sind nur zugezogen, nicht mehr hören. Jeder ist mal irgendwo zugezogen, ob seine Eltern, die Grosseltern oder man selber. Ich lebe auch seit einigen Jahren an der Langstrasse und vo den sogenannten Szenis ist zwischen Sonntag und Donnerstag nicht viel zu sehen. Lebt doch einfach euer leben und lasst die andern ihres leben.

  • Mascha sagt:

    Das Langstrassenquartier ist es, was Zürich zumindest etwas Grossstadtflair gibt. Ich wohne neben der Langstrasse und bin in Örlikon grossgeworden und hatte noch nie irgendwelche Belästigungen oder Probleme, an beiden Orten. Dass es Leute gibt, die unser Quartier als Ghetto bezeichnen, grenzt für mich schon beinahe an einen Affront gegenüber Menschen, die in echten Ghettos leben. Verglichen damit sind die Zürcher „Problemquartiere“ wie Kreis 4 oder Seebach Puppenhäuser, haben wir Schweizer doch das grosse Privileg, in einem Land leben zu dürfen, dass zu den reichsten und sichersten der Welt zählt.

    Als ungleich viel problematischer sehe ich die Gentrysiereung der Stadt, insbesondere im Kreis 5: So urban und hochglanzpoliert die Gegend um den Primetower jetzt ist, so steril wird das ganze Quartier zunehmend. In meiner unmittelbaren Umgebung (Josefstrasse/Heinrichstrasse) wird ein Haus nach dem anderen saniert und für DINK-Benutzung ausgebaut (Paradebeispiel Löwenbräuareal! Wunderschöne Wohnungen, auf jeden Fall, nur für wen?) – und es ist nun mal nicht die globale DINK-Cappuccino-Community, die ein Quartier mit Individualität und Leben füllt.

    Meine grosse Befürchtung ist, dass mein heiss geliebtes Zürich von einem kunterbunten Nebeneinander von vielem letztlich zu einer Stadt für Investmentbanker, Unternehmensberater und Anwälten wird und dadurch vor allem eines: Langweilig.

    • Simon sagt:

      Genauso ist es Mascha. Auch ich bin in Zürich im Kreis 6 aufgewachsen und stelle genau das gleiche fest. Es ziehen nur noch Spiesser und Langweiler nach Zürich. Sie wollen „urban“ (ich hasse dieses Wort!) leben aber um 22.01 rufen sie die Bullen an, wenn in der Beiz unten noch Betrieb ist. Eine Stadt bekommt keinen Flair durch Reiche und Anständige, sondern durch Subkulturen, Trash und Substanz. Das gibt zwar auch Dreck, Lärm, versprayte Wände und Gestank. Aber es muss sein. Alles andere ist tote Materie. So wie Singapore oder so. Wir müssen irgendwie zusammenhalten und das Zeug aufrecht erhalten, was die Stadt ausmacht. Man kann nicht alles säubern, denn das Flair wird gleich mitentsorgt. Und das ist Mist.

    • Kat sagt:

      Gentrifizierung heisst das. Wenn man schon mit Fremdwörtern um sich schmeisst, dann richtig schreiben… danke!

  • Daniel sagt:

    Ich bin schon des öfteren zu jeder Tages oder Nachtzeit im Kreis 4 gewesen und so schlimm wie der von den Medien immer dargestellt wird finde ich den gar nicht. Im gegenteil! Wieviele Verbrechen und Überfälle passieren in der Stadt Zürich? Sicher einige, aber es wird immer vom „Chreis Cheib“ in den Medien berichtet, wie schlimm der ist und so! Aber an anderen Orten fehlt den Journalisten die Infos um darüber zu schreiben, oder was auch immer!

    • alexander sagt:

      Hallo
      Habe 40 Jahre im Kreis 4 Gearbeitet, in der Gastronomie. War sooo Schön. möchte keine Zeit missen.
      Es ist doch so woo gibt es so viele Nationen die einfach und Friedlich zu sammen leben. ich kann nicht verstehen warum immer nur der Kreis Cheib kritisiert wird. im Kreiss eins werden viel mehr Verbrechen Getätigt. nur darf man darüber nicht sprechen. Weil da Geht es um Millionen die eigentlich dem Bürger gehörten. Aber was solls es sind immer die Kleinen. Dann kommen so Architektinnen und sagen sie Wollern den Kreis nicht verändert, aber Sie Bauen um und Bauen um dafür werden die Zinsen so hoch dass ein normaler diese Wohnungen gar nicht mehr Mieten können.. So wirde es Natürlich ein ganz Neue Mieterschaft geben. Nein man will nichts Verändern. Einfach die Preise erhöhen und schon ist es anderst.

  • dusan sagt:

    Der letzte Absatz bringt das gesamte Dilemma auf den Punkt. Ich bin im K4 aufgewachsen und habe es geliebt. Es war schlicht eine ganz normale Jugend, die ich hatte. Anfang 90er waren dort eben nur Alkis, Nutten und Freier. Die haben nie jemandem was gemacht. Dann wurde der Letten geschlossen, und das Quartier wurde mit Junkies überflutet. Sogar das hat man irgendwie akzeptiert, ja man hatte sich irgendwann auch daran gewöhnt. Das die Langstrasse in den letzten Jahren zum Disneyland für „Akademiker“ (bin ja selbst einer) aus der Region geworden ist, wird zunehmend zum Problem. Der K4 war eben eigentlich nie der Partykreis, nun wird er als solcher aber usurpiert. Auf Reklamationen heissts dann, „sei nicht so spiessieg“ oder „dann zieh eben weg, wir brauchen unseren Freiraum“. Übrigens: Ja, jeder träumt davon, aus dem K4 rauszukommen. Man kann zwar nicht von Ghetto sprechen, aber Ansätze dafür sind vorhanden… Danke für den guten Artikel!

    • Sara sagt:

      bin ebenfalls im C4 aufgewachsen (Jahrgang 81) und will hier NICHT weg! Ich liebe den Kreis 4, überlasse aber gerne den Wohnraum im nächsten Umkreis der Langstrasse ab Helvetiaplatz bis zum Kreis 5 den Disney-Akademikern 😉 ansonsten kann ich deine Erzählungen nur unterstreichen.

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