Nachbrand: 1. Mai
Wir hatten in diesem Jahr einen schlechten Start, der 1. Mai und ich. Der Crashkurs Marxismus, den ich mir am Samstagnachmittag aus purer Neugierde anhören wollte, wurde kurzfristig gestrichen, der Chef bastelte eigenhändig am Programm herum, schob Veranstaltungen umher oder eliminierte sie einfach, der alte Diktator. Also besuchte ich die Fotoausstellung von Florian Aicher, der das Thema «SVP» mit Knetfiguren verarbeitete, was nicht vollumfänglich zu überzeugen vermochte. Ebenfalls schwierig war der Frontalvortrag, an dem ein Student ohne Hilfsmittel 45 Minuten lang über die Schweizer Gewerkschaften berichtete und sich schon nach wenigen Takten im Tausendsten verlor. Der Spannungsbogen glich dem meiner morgendlichen Mundspülung.
Inhalte? Fehlanzeige
Das 1.-Mai-Komitee ist schlecht, wenns ums Verständlichmachen von Inhalten geht, so viel wurde schnell klar, und dies sollte sich im Verlaufe der Festivitäten noch mehrfach bestätigen. Und das ist schade, ist der Tag der Arbeit doch das einzige Volksfest für jene Leute, die link sind und nett.
Nun gut, es blieb Zeit, Distanz zu gewinnen. Der Umzug gestern gestaltete sich dann auch ausgesprochen freundlich, ein wunderbarer Spaziergang durch die Innenstadt, flankiert von allerlei Randgruppen, roten Fahnen, plärrenden Megafonen und schreienden Kindern. Später die Reden am Bürkliplatz: Paul Rechsteiner machte einen guten Einstand, deutlich, pointiert, links.
Wenn die Roten Falken rappen
Die Roten Falken aber rappten etwas holprig politische Slogans. Und die Pfleger sprachen zu eintönig über ihre Anliegen, die sicher wichtig wären, aber sie waren eben schwer verständlich. Also verabschiedete ich mich schleunigst von der Szenerie in Richtung Kasernenareal – und verpasste damit Pedro Lenz, dessen Rede vorzüglich gewesen sein musste.
Im Innenhof der alten Kaserne spielten schon die kernigen Punkbands in der prallen Sonne, das triefende Fett der Merguez auf dem Grill räucherte das halbe Areal zu, und die Grünflächen waren voller essender Gäste. So ist das am 1. Mai. Es ist wunderbar! Ach ja, es gibt noch diese ganzen Flyer, von welchen jeder für sich ein PR-technischer Super-GAU ist: So kryptisch sind sie teilweise und wenig leserlich gestaltet. Dabei stünden vielleicht wichtige Sachen darauf, man weiss es nicht.
Lion King an der Langtrasse
Und die Krawalle? Etwas später an der Langstrasse kamen ein paar Ostschweizer Landpunks nicht umhin, die in den Seitenstrassen stationierten Beamten unaufhörlich anzubrüllen, vor ihnen die Hosen runterzulassen und generell an grosskotzigen Gesten nicht zu sparen. Absurderweise erklang dazu abwechslungsweise Beethoven, das Thema von «Lion King» oder Ennio Morricone. Denn auf einer Dachterrasse an der Langstrasse liessen junge Leute diese Musik in die Gassen herab scheppern. Und das Milieu und linke Wutbürger tanzten gemeinsam dazu. Als weitere besänftigende Massnahme gab es ja noch die Sache mit den Ballonen. Und später versammelte sich eine beachtliche Menschenmenge auf der Bäckeranlage und tanzte bis tief in die Nacht… Doch, es gibt viel erzählen. Und es war schön.
7 Kommentare zu «Nachbrand: 1. Mai»
Die Idee mit den Ballonen finde ich spitze! Auch in New York waren viele kreative Leute auf der Strasse. Ein paar Fotos dazu auf meinem Blog: http://www.captainezwerg.blogspot.com/ Enjoy!
Seit wann ist es Journalisten verboten, etwas zu lesen, was scheisse aussieht? Und die Rede von Pedro Lenz hatte tatsächlich einiges zu bieten:
«Für Deutsch, drücken Sie die Taste 1, für Rückfragen, drücken sie die Taste 3, für Corporate Identity drücken sie die Taste 5, für Fragen im Zusammenhang mit ihrer persönlichen Verzweiflung, drücken Sie sich einen Cheesburger in den Kopf.»
http://www.sgb.ch/uploaded/Verschiedenes/120501_Pedro_Lenz.pdf
Seit Jahrzehnten war dies wohl der friedlichste 1. Mai und endlich waren es auch mal wieder richtig viele Teilnehmer. Das freut mich sehr.
Danke an die friedlichen Teilnehmer, den Künstlern mit ihrer Ballonaktion und auch der Polizei, die dieses Jahr mit dem notwendigen Fingerspitzengefühl agierte. Leupi, als Grüner beweist, dass auch die Polizeiarbeit der Umsicht und weniger des Knüppels bedarf.
Inhaltlich kann sich damit der 1. Mai, sollte es so friedlich weitergehen, auch wieder stärken. Zuerst aber muss die Form wieder stimmen, durch die Krawallbrüder aus vergangenen Jahren ist eben auch der Inhalt stark gefährdet und vernachlässigt worden. Schön, wenn sich wieder ein kreatives Gutmenschentum durchdringt, ein Konsens unter Menschen, ein Fest der Freude und Vielfalt, Gegenseitig anders und doch gemeinsam gewillt.
Ellenbögler, Leistungsfanatiker und Raffgierigen mag es missfallen, dass es partizipative Menschen gibt, die sich und der Welt gegenseitig Gutes wollen. 12’000 waren es scheinbar diesen 1. Mai. Ich hoffe und weiss insgeheim, es sind viel viel mehr Menschen, die daran arbeiten. Nicht nur am Tag der Arbeit.
Ich hoffe nur, dass Herr Sarasin nicht auch an Afro-Pfingsten dabeisein wird, denn er wird die abwesenden CEOs, die PP-Präsentationen, die Projektsteuerungsgruppen u.v.a. schmerzlich vermissen. Die ‚Linken‘ sind also völlig unorganisiert und nur Chaoten scheinen daran Interesse zu haben. Das ist selbstverständlich auch eine Art Ansicht.
Der Text beginnt unfreundlich und endet mit einer Beleidigung. Bin 47 und war lange in der Bäckereianlage gewesen. Alll die Leute von sehr jung bis sehr alt als Meute zu betitteln ist eine Frechheit. Aber was soll’s, irgendwie haben die Medien dieses Jahr wohl „den Auftrag“ den 1.Mai schlecht zu machen. Überall wird nur das Negative herausgestellt. Aber wissen Sie Herr Sarasin, es waren so viele Menschen wie schon lange nicht mehr auf der Strasse. Sie werden sich also noch lange mit uns beschäftigen können/müssen. Hoffentlich bereitet Ihnen dies kein Unbehagen.
Der Text sollte negativ sein? Ein bisschen Kritik sei mir erlaubt. Ansonsten merkt man ja, dass ich den Tag genossen habe. Das mit der Meute, da gebe ich ihnen recht. Ich habs geändert.
Ja, wenn einem nach einem 1sten Mai nur Ballone und friedliches Wurstessen in Erinnerung bleiben, ja dann ist ja alles Gut.
Dieses Land ist eben das lange gesuchte Paradies wo Milch und Honig fliesst (für die Eidgenossen). Wenn wir es jetzt noch schaffen uns gegen die Bösen dieser Welt (alle anderen) abzuschotten (denn das Boot ist mal wieder voll) können wir munter weiter Ballone werfen und Wurst essen bis zur Rente mit…75? Während der Rest der Welt zuschaut wie Ihre Abzocker die gestohlene Kohle auf unsere (ihre?) geheimen Konten bringen, was aber gut ist, wie sonst sollen wir uns Wurst und Ballone leisten (mit Arbeit bis 85?).
Sogar als Agnostiker hoffe ich manchmal auf einen Gott (einen unbarmherzigen allerdings) auf das wenigstens im nächsten Leben etwas Gerechtigkeit hergestellt wird.