TA-Chefredaktor Res Strehle über seine Erfahrung mit dem #Sesseltausch.
Man kann es nur empfehlen. Eine Woche auf einem anderen Sessel zu sitzen und von einem anderen Team umgeben zu sein. Das hält fit, auch wenn die Befindlichkeit meines Rückens nach einer Woche Gesprächen im klassisch schwarzen Mobiliar von Miriam Meckels Büro Zweifel aufkommen lässt, ob Le Corbusier seine Sessel tatsächlich auch für Körpergrössen über 1,80 entworfen hat.
Es war für mich eine Zeitreise in die Vergangenheit und Zukunft zugleich: Zurück, weil ich in St. Gallen studiert und doktoriert habe, die Olma und der St. Galler Dialekt mir folglich nicht fremd sind, die Uni auch nicht, und doch scheint sich da in den vergangenen dreissig Jahren einiges getan zu haben: dreimal mehr Studierende, deutlich mehr Englisch als St. Galler Dialekt, alles bunter irgendwie und mehr Bars inzwischen als studentische Verbindungslokale in der Stadt.
Ich habe viel Interessantes gehört in diesen Tagen von den Studierenden, Dozierenden und den Mitarbeitern des Instituts für Kommunikationsmanagement. Ihre Forschungsprojekte und Pläne für Start-ups, dazu viele grundsätzliche Fragen, die uns Praktiker auch brennend interessieren. Etwa jene, ob sich durch die digitale Revolution die Internetnutzer aktiver an Politik, Wirtschaft, Gesundheit und Bildung beteiligen. Die Vorlesung ging gut über die Bühne, ich sprach über das Zusammenwachsen von Print und Online, die Studierenden legten mit Zwischenfragen den Finger auf die wunden Punkte. Tags darauf dann das Seminar zum Thema Mensch-Maschine, Arbeitsgruppen gingen der Frage nach, ob sich die radikal düsteren Zukunftsvisionen von Aldous Huxley und George Orwell bewahrheitet haben, dazu diskutierten wir die ebenfalls eher düstere Zukunftsthese von Miriam Meckel, wonach sich die menschliche Individualität und Spontaneität in den neuen Medien langsam auflösen (sie fand bei den Studierenden viel Zustimmung). Und schliesslich ging es in einem weiteren Seminar zusammen mit Vincent Kaufmann wie früher um Foucaults These des Zerfalls von Institutionen und Autorität und die Dominanz der Bilder – Theoriedebatten, die im journalistischen Alltag wenig Platz haben.
Daneben während der ganzen Woche der Blick von aussen aufs eigene Medium, auch das tut gut. Die anderen Akzente zu sehen, die Miriam Meckel setzte. Dass sie am Dienstag ausgerechnet in einer Produktion mit stundenlangem Ausfall der IT herausgefordert wurde, war nicht vorgesehen. Ihre souveräne Bewältigung zusammen mit anderen Heldinnen und Helden in dieser Nacht spricht für ihre Krisenerprobtheit. Ich fieberte aus der Distanz telefonierend, simsend und twitternd mit und kann Ottmar Hitzfelds Aussage nun bestätigen, dass ein Nervenspiel auf der Tribüne schwerer zu ertragen ist als auf dem Spielfeld. Auch die Samstagsausgabe setzte mit dem Schwerpunkt auf das digitale Leben inhaltlich und formal starke Akzente, probte auch das Konzept der Samstagsausgabe als Wochenzeitung.Die Erfahrung dieser Woche sei allen Kolleginnen und Kollegen in Medien und Medienwissenschaft wärmstens empfohlen. Sie erweitert den Horizont im besten Sinne und ist dazu geeignet, die Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis zu verkleinern. Kurzbilanz: Noch besser als erhofft.
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Grosses Kompliment! Habe den originellen Seitenwechsel von (natürlich verkürzt) “Praxis” und “Theorie” mit Interesse verfolgt und fand die Artikel sehr anregend. Machen Sie weiter mit solchen innovativen Experimenten, die Perspektiven öffnen und Wegbereiter für neue Lösungen sein können.