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Aktualität und Überraschung

Miriam Meckel am Montag den 21. Oktober 2013

Die Bilanz zum #Sesseltausch von Miriam Meckel.

Am Anfang war die Konferenz. Und die Konferenz war in Solothurn. Und Solothurn war der Anfang eines ungewöhnlichen Experiments namens «Sesseltausch». Bei dem Treffen von Medienwissenschaftlern und -schaffenden Ende April schlug Res Strehle vor, eine Woche lang die Rollen zu tauschen – und so haben wir es in der vergangenen Woche gemacht. Er hat meine Vorlesungen und Sprechstunden an der Universität St. Gallen abgehalten, ich war Gast-Chefredaktorin beim «Tages-Anzeiger».

Die Woche hat das gehalten, was der Journalismus verspricht: Aktualität und Überraschung. Vor etwa zwanzig Jahren hatte ich einmal als Journalistin gearbeitet: beim Fernsehen. Einem anderen Medium und vor allem, bevor das Internet alles veränderte. Der Journalismus ist in der Folge sehr schnell geworden, so schnell, dass ich manchmal im Laufschritt durch den Newsroom gestürmt bin, um die nächste Konferenz nicht zu verpassen. Ich habe es durchaus genossen, jeden Abend meinen Schreibtisch fast freiräumen zu können – die Ablage ist in den Papierkorb gewandert, real und virtuell. In meinem Unileben arbeite ich zuweilen jahrelang an einem Thema oder Projekt. Die Unterlagen stapeln sich schwer und mahnend.

Das redaktionelle Leben erschien mir im Gegensatz dazu als ein langer, unruhiger Fluss von Updates. Inmitten der derzeitigen Veränderungen werden die Grenzen zwischen gedruckter Zeitung und Website, zwischen Aktualität und Hintergrund, zwischen Form und Inhalt, Eindruck und Ausdruck ständig neu ausgehandelt. Es gibt keine Patentlösungen für Medien in digitalen Zeiten, und Veränderung ist für alle immer anstrengend.

Für mich stellen sich einige Fragen nach dieser Woche anders, manche, mit denen ich auch in Lehre und Forschung an der Universität befasst bin, sogar ganz neu. Das Wertvolle sind in erster Linie ja nicht die Antworten, die man erhält, wenn man anders auf die Welt schaut. Es sind die neuen Fragen, die wirklich etwas verändern können. Ich habe aus dem «Sesseltausch» viele Fragen und Anregungen mitgenommen, die mich weiter beschäftigen werden.

Eine davon lautet: Wie abhängig sind wir eigentlich inzwischen vom Netz? Als am Dienstagabend gegen 18 Uhr das System bei Tamedia ausfiel, erwartete niemand, wirklich niemand, dass dies acht Stunden anhalten würde. Die Zeitung am Tag danach war schlanker. Und die Erkenntnis war allen in die Knochen gefahren, dass alle Welt vom Netz abhängt.

Die Erfahrungen waren spannend und reichhaltig, nicht zuletzt wegen all der Unterstützung, die ich erfahren habe. Der «Sesseltausch» hat sich gelohnt. Warum, hat der Philosoph Paul Tillich einst so formuliert: «Das Dasein auf der Grenze, die Grenzsituation, ist voller Spannung und Bewegung. Kein Stehen, sondern ein Überschreiten und Zurückkehren, (…) ein Hin und Her, dessen Ziel es ist, ein Drittes jenseits der begrenzten Gebiete zu schaffen, etwas, auf dem man für eine Zeit stehen kann, ohne in einem fest Begrenzten eingeschlossen zu sein.» Das Dritte ist der Ausblick durch Einblick. Natürlich kann man nicht auf ewig auf der Grenze verweilen. Man muss sich letztlich für die eine oder andere Seite entscheiden. Der Grenzgang verläuft immer auf einem schmalen Grat. Aber der bietet eine Aussicht, die es nirgends sonst gibt.

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