Archiv für die Kategorie ‘Bücher’

Genialer Klugscheisser

Fabian Kern am Dienstag den 7. August 2012

Einsteins GehirnKlugscheisser sind nicht sehr beliebt. Auch nicht, wenn sie Genies sind. Das geht Albert Pottkämper nicht anders, auch wenn er durchaus treffend festhält: «Klugscheisserei ist immer Klugscheisserei für den, der keine Ahnung hat.» Das 14-jährige Universalgenie ist in der Schule chronisch unterfordert und bewirbt sich deshalb für eine Assistentenstelle an der Universität. Durch das plötzliche Ableben des Professors, der ein Engagement des halbwüchsigen Intelligenzbolzens durchaus in Betracht gezogen hätte, wird daraus nichts. Immerhin nimmt Albert aber durch die Empfehlung des Akademikers an einer TV-Talkshow teil, was den Beginn einer unglaublichen Odyssee rund um den Globus markiert. Albert schafft es aufs Titelblatt des Time Magazine, ins Weisse Haus und sogar zur Audienz beim Papst. Und das, obwohl er eigentlich nur seine ältere Schwester Anja, die mit einem alternden Schlagerstar durchgebrannt ist, zurück nach Hause holen sollte. Doch was Albert am meisten beschäftigt: Ist er der Sohn von Albert Einstein?

Peter Schmidt

Der deutsche Autor: Peter Schmidt.

«Durchgeknallt!» So bezeichnet sich das Buch «Einsteins Gehirn» selbst im Klappentext. Das kann man durchaus so stehen lassen. Denn was in Peter Schmidts Roman einem 14-Jährigen – Genie hin oder her – alles gelingen will, das geht auf keine Kuhhaut. Andererseits – wer weiss  schon, wie es ist, als Universalgenie durchs Leben zu gehen? Sein umfassendes Wissen in allen, aber wirklich allen Fachgebieten öffnet Albert auf der ganzen Welt Tür und Tor. Nicht einmal sein teils exzessiver Alkohol- und Drogenkonsum vermag ihn auf das geistige Niveau von Normalsterblichen zurückzuholen. Schade nur für den Leser, dass sich Klugscheisser Albert bei seinen wissenschaftlichen und philosophischen Ergüssen nicht etwas mehr zurückhält. Dadurch ergeben sich einige Längen in der sonst flotten Handlung. Nur, das Buch als Kriminalroman zu bezeichnen, ist doch etwas gar gewagt. Denn das ist es beim besten Willen nicht. Aber eine kurzweilige Lügengeschichte allemal.

Peter Schmidt: «Einsteins Gehirn». Gmeiner Verlag, Messkirch 2012. 308 S., ca. Fr. 18.–.

Unblutiger American Psycho aus Basler Feder

Fabian Kern am Montag den 6. August 2012

Logans PartyDaniel hat keinen Nachnamen. Das ist auch nicht nötig, denn er hat keine genaue Vorstellung davon, wer er ist, geschweige denn davon, was er will. Zwischen verschiedensten Drogen – natürlicher und synthetischer Herkunft – und mehr oder weniger losen Frauengeschichten lässt sich Daniel auf der Oberfläche der 80er- und 90er-Jahre dahintreiben. Nicht einmal sein Job hat wirklich einen Sinn. Der erfolgreiche und deshalb stinkreiche Geschäftsmann Logan füttert den Freelancer mit so überflüssigen Aufträgen wie dem Entwurf eines Konzepts für seine Party durch. Doch nicht einmal diese Aufgabe vermag der koksende Daniel zu erfüllen. Lieber treibt er sich auf der Suche nach seinem verschwundenen Freund Tony in London herum, verzettelt sich dabei aber völlig.

Martin Hennig

Geboren in Basel: Autor Martin Hennig (Jg. 1951).

«Ich mag nicht allein sein, aber festlegen will ich mich auch nicht», sagt eine von Daniels ständig wechselnden Liebschaften stellvertretend für ihn – weil er sich das aus Mangel an Selbstreflexion selbst nicht eingestehen würde. Ein bisschen erinnert der Protagonist des gebürtigen Baslers Martin Hennig an den gelangweilten Patrick Bateman aus dem Buch «American Psycho» von Bret Easton Ellis, das ebenfalls auf die Oberflächlichkeit der 90er-Jahre anspielt. Einfach ohne die blutigen Konsequenzen.

Martin Hennig: «Logans Party». Margarete Berg Verlag, Wesseling 2012. 191 S., ca. Fr. 25.–.

Magier in der Manege

Fabian Kern am Montag den 18. Juni 2012

Der NachtzirkusEs gibt Bücher, durch die hetzt man. Entweder, weil sie so spannend sind, oder weil man schon viel zu lange mit einer Story verbracht hat, und die Geschichte endlich abschliessen will. Und dann gibt es aber auch noch die seltene Spezies von Büchern, bei denen sich das Lesen so gut anfühlt, dass man gar nicht möchte, dass die Geschichte zu Ende geht. Quasi nach dem Motto «Der Weg ist das Ziel». «Der Nachtzirkus» gehört in diese exklusive Kategorie. Die in den USA gefeierte Jungautorin Erin Morgenstern entführt den Leser in eine Welt, die mit keinem realen Zirkus vergleichbar ist.

Der «Cirque des Rêves», der 1886 ohne Ankündigung wie von Zauberhand erscheint und nur nachts die Tore öffnet, zieht Jung und Alt in seinen Bann. Ob in Europa oder an der amerikanischen Ostküste – die Leute sind fasziniert vom bunten Reigen an Artisten, Hellsehern, Zauberern und wundersamen Attraktionen. Jedes Zelt birgt ein Geheimnis, das die Menschen frei erkunden dürfen. Was sie aber nicht wissen: Die Effekte sind keine ausgeklügelten Tricks, sondern echt. Und was selbst die meisten Angehörigen des Nachtzirkus nicht wissen: Die schwarz-weiss gestreiften Zelte dienen als Schauplatz für ein Duell der Magier. Die übersinnlichen Talente Celia und Marco wurden von Kindesbeinen an dafür ausgebildet, gegeneinander in einem Zweikampf auf Leben und Tod anzutreten. Nur um das Ego ihrer Mentoren zu befriedigen. Im Falle von Celia ist es sogar ihr eigener Vater, der sie in den Kampf schickt. Doch noch bevor die beiden jungen Zauberer erkennen, dass sie Gegner sind, verlieben sie sich ineinander.

Erin Morgenstern

Erin Morgenstern hat mit ihrem Debütroman den Leser-Geschmack getroffen. (Foto: Kelly Davidson)

Die Fantasie der Autorin ist beachtlich. Sie schafft mit dem Nachtzirkus eine Traumwelt, in der man sich verlieren und den Alltag für ein paar Stunden vergessen kann – als Besucher desselben genauso wie als Leser des Buchs. Man riecht beinahe die verlockenden Düfte der süssen Jahrmarkt-Köstlichkeiten. Wohl deshalb ist Erin Morgensterns Debütroman so erfolgreich, dass bereits die Verfilmung geplant ist. 2013 soll der Film in die Kinos kommen. Regisseur und Cast sind zwar noch offen, aber als Produzent steht mit David Heyman («Harry Potter») ein Mann mit grosser Fantasy-Erfahrung zur Verfügung. Drehbuchautorin Moira Buffini («Jane Eyre») wird den Stoff für die Leinwand adaptieren und hoffentlich das Duell der Zauberer noch etwas zuspitzen, denn dessen Dramatik kommt im Roman nicht ganz zum Tragen.

Aber auch wenn der Spannungsbogen nicht ganz bis zum Ende aufrechterhalten wird, ist der «Nachtzirkus» ein Buch zum Liebhaben und Träumen. Und wenn es wirklich einen solchen «Cirque des Rêves» gäbe, er wäre noch heute eine Attraktion.

Erin Morgenstern: «Der Nachtzirkus». Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit. Ullstein, Berlin 2012. 464 S., ca. Fr. 34.-.

Neugier besiegt Vernunft

Fabian Kern am Montag den 11. Juni 2012

Das SeilEin Seil bringt das behütete Dorfleben durcheinander. Plötzlich liegt es da und führt in den Wald hinein. Doch wie weit, und wer hat es zu welchem Zweck da hingelegt? Eine erste Erkundung des Seils bringt einen Verletzten, aber keine Erklärung. Deshalb macht sich die Mehrzahl der Männer auf die Reise zur Erkundung des Geheimnisses. Die Suche nach dem Ursprung, zuerst einfach nur willkommene Abwechslung zum grauen Arbeitsalltag, wird immer mehr zur heiligen Mission, der alles untergeordnet wird. Unter dem Kommando des Lehrers Rauk lassen sich die Bauern völlig vom Seil vereinnahmen. Sie werfen alle Prinzipien über Bord, werden zu gewalttätigen Plünderern und setzen die Existenz ihres Dorfes aufs Spiel. Anstatt die Ernte einzubringen, ziehen die Männer lieber durch den Wald und schlafen im Freien, alles unter dem Vorwand der unglückseligen Mission. Die braven Bauern verlieren durch die Suche nach dem Unbekannten ihre Unschuld.

Stefan aus dem Siepen

Starke Sprache, schwacher Plot: Stefan aus dem Siepen. (Bild: dtv)

Bewusst sind weder Ort noch Zeit definiert. Die Geschichte ist eine Parabel auf Religion, Politik oder Wissenschaft und könnte sich irgendwann irgendwo abspielen. Das Seil steht für den Reiz des Unbekannten, der die Bauern erkennen lässt, in welch engem Radius sie bisher ihr Leben verbrachten – geografisch wie geistig. Die Neugier besiegt die Vernunft und wird zur Obsession. Schliesslich hat sie die Menschheit dahin gebracht, wo wir heute stehen. Im positiven wie im negativen Sinn. Das Problem am sprachlich starken Buch von Stefan aus dem Siepen ist denn auch weniger die Idee als vielmehr der vorhersehbare Plot, der leider wenig Überraschendes bietet.

Stefan aus dem Siepen: «Das Seil». DTV Premium, München 2012. 180 Seiten, ca. Fr. 20.-.

Wenn das Denken in der Hose stattfindet

Fabian Kern am Montag den 14. Mai 2012

Vergiss Venedig

«Vergiss Venedig» ist im Buchhandel erhältlich.

Wer das Cover von «Vergiss Venedig» ganz genau betrachtet, erkennt, wer der Protagonist des Romans von Marcus P. Nester ist: des Mannes bestes Stück. Konkret dasjenige von André Kiefer, welcher ihm auch gleich komplett das Denken überlässt. Der Zürcher Filmjournalist begegnet auf seiner alljährlichen Flugreise zu den Filmfestspielen von Venedig der Liebe seines Lebens, die ihn in eine heftige Midlife Crisis stürzt. Barbara Benning, der heisseste deutsche Kinostar der Gegenwart, verdreht dem kleinmütigen Enddreissiger derart den Kopf, dass er sich nicht nur auf eine wilde Affäre einlässt, sondern sich sogar dazu entschliesst, seine hochschwangere Frau und seine kleine Tochter zu verlassen sowie seinen sicheren Job beim Schweizer Fernsehen in den Wind zu schlagen.

Marcus P. Nester

Der Autor: Marcus P. Nester.

Die Tatsache, dass der Basler Autor Marcus P. Nester, dessen Fachwissen als Einkäufer von Spielfilmen beim Schweizer Fernsehen den Roman sehr interessant macht, seinen Antihelden bewusst nicht als Sympathieträger darstellt, hilft dem Leser. So kann man genüsslich mitverfolgen, wie sich Kiefer ins Elend reitet. Buchstäblich. Wie dumm kann ein Mann sein? Obwohl – wem ist das schon passiert, dass er die Chance hatte, mit einem absoluten Filmstar eine Affäre zu haben? Würde «mann» widerstehen? Aber solange man das nicht erlebt hat, darf man getrost über André Kiefer schnöden. Am Treffendsten wird die Hauptfigur in einem kurzen Dialog mit einer Freundin analysiert: «Herrgott Rita, hältst du mich wirklich auch für ein Machoschwein?» «Nein, das nicht. Aber für einen schwanzgesteuerten Spätpubertierenden in seiner ersten Midlife-Crisis.»

Marcus P. Nester: «Vergiss Venedig». Margarete Berg Verlag, Wesseling 2012. 247 Seiten, ca. Fr. 25.-

Vorsicht vor der schlaffen Forelle

Fabian Kern am Montag den 7. Mai 2012
Wie ich sehe, was du fühlst

«Wie ich sehe, was du fühlst» ist ab sofort im Buchhandel erhältlich.

Wie toll wäre es, wenn man dem nervigen Verkäufer sagen könnte: «Sie lügen! Ich habe gesehen, wie sich Ihre Pupillen erweitert haben, als Sie mir gesagt haben, die Hose steht mir.» Hoch erhobenen Hauptes könnte man unter dem spontanen Beifall der anderen Kunden am verdutzten Geck vorbei aus dem Laden marschieren und sich über das gesparte Geld freuen. Heroische Aktionen wie diese habe ich mir von der Lektüre des Buchs «Wie ich sehe, was du fühlst» von Jan Sentürk erhofft. Doch leider fällt das Ergebnis nicht so spektakulär aus, dass man es gleich mit Dr. Cal Lightman, dem von Tim Roth dargestellten Protagonisten aus der Serie «Lie to Me», aufnehmen kann.

«Man kann nicht nicht kommunizieren», lautet ein berühmter Leitsatz in der Kommunikationswissenschaft aus der Feder von Paul Watzlawick. Auch wenn wir nichts tun, teilen wir uns unserer Umwelt mit. Mimik, Gestik, Körperhaltung oder die Art, wie wir schauen – wir sind für das geschulte Auge ein offenes Buch. Einen solchen Kennerblick hat Jan Sentürk. Der deutsche Körpersprache-Coach verrät in seinem Buch einige Hinweise, wie man das Verhalten anderer deuten kann. Die spannendsten Erkenntnisse für den Alltag bietet der mittlere Teil des Buchs. Sentürk erklärt den Unterschied zwischen echtem und unechtem Lachen und erklärt, warum die «schlaffe Forelle» der unsympathischste Händedruck ist. Zudem gibt der Autor wertvolle Tipps für jene Männer, die das Mysterium Frau noch nicht aufgeschlüsselt haben. Zum Beispiel ist das «ausgestellte» Handgelenk der Frauen beim Rauchen ein Zeichen für Interesse am Kontakt.

Tim Roth als Dr. Cal Lightman

Am Gesicht von Tim Roth aka Dr. Cal Lightman wird Glücksempfinden erklärt.

Dennoch ist das Buch in erster Linie ein Ratgeber fürs Berufsleben. Wer oft vor Leuten spricht, im Verkauf arbeitet oder sich auf ein Bewerbungsgespräch vorbereitet, dem ist dieses Werk sicher hilfreich. Zum Experten à la «Lie to me» wird man dadurch aber noch lange nicht. Schade eigentlich.

Jan Sentürk: «Wie ich sehe, was du fühlst». Piper Verlag, München 2012. 189 Seiten, Fr. 13.90.

Zeit heilt nicht alle Wunden

Fabian Kern am Montag den 23. April 2012
Schattenfrauen

Die in Basel lebende Autorin Reinhild Solf präsentiert ihren zweiten Roman.

Liese Spahn glaubt, ihre einjährige Stasi-Haft in einem Frauengefängnis mit allen Erniedrigungen und Misshandlungen überwunden zu haben. Als sie aber als 67-Jährige im Jahr 2009 nach Jahrzehnten sechs Jugendfreundinnen auf der Insel Rügen wieder trifft, wo sie vor 45 Jahren ein Ferienlager der Freien Deutschen Jugend verbrachten, kommen die schlimmen Erinnerungen ans Gefängnis wieder hoch. Und auch innerhalb der Gruppe gibt es offene Rechnungen.

Anfangs besteht ein Graben zwischen den drei in der DDR gebliebenen und den vier in den Westen geflüchteten Frauen. Nach und nach wird dieser aber verwischt und abgelöst von versteckter und offener Feindschaft aufgrund von vor langer Zeit begangenen aber nie vergessenen persönlichen Gemeinheiten. Es wird gelogen und geschwiegen, bis die Verräterin isoliert ist. Bis zur Eskalation.

Die in Basel wohnhafte Schauspielerin und Schriftstellerin Reinhild Solf weckt mit ihrem zweiten Roman Betroffenheit. Mit einer klaren, direkten, schnörkellosen Sprache packt sie den Leser und führt ihn auf das unvermeidliche fatale Ende zu. Ein Stück deutsch-deutscher Geschichte mit spannendem Plot und emotionaler Dichte.

Reinhild Solf: «Schattenfrauen». LangenMüller Verlag, München 2012. 187 S., Fr. 23.50.

Im Tal der Rache

Fabian Kern am Dienstag den 10. April 2012

Frische Bergluft tut gut. Sie kann einem vom Alltag ermüdeten Gehirn helfen, die Prioritäten neu zu ordnen. Und beispielsweise zu befinden, dass man ohne den untreuen Ehepartner besser dran ist. Oder dass der Busfahrer genug lange genervt und einen ausgedehnten Mittagsschlaf verdient hat, aus dem er nicht mehr erwacht. Vielleicht löst aber die Reise in eine der beliebtesten Feriendestinationen Österreichs auch ganz speziell Rachegefühle aus. Denn eines lernen wir über das «Mords-Zillertal»: Keine Tat bleibt ungesühnt. Da kann es schon mal passieren, dass sich ein verliebter Hüttenwart sich mit dem Küchenmesser von seiner herrischen Mama emanzipiert oder ein Schweizer Auftragskiller einen singenden Fernsehkoch aus Frankfurt beim Bergsteigen in den Dolomiten für seine Seitensprünge bestraft. Die Zillertaler selbst sind aber auch ein besonderer Menschenschlag. «In Tirol, da geht die Frau nicht nach dem Mann nach Hause», belehrt ein selbstgerechter Macho seine tote Gattin. Aber Vorsicht: Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein. Sonst blüht einem vielleicht das frühzeitige Ableben vor der wunderschönen Kulisse des Zillertals.

Freunde des gepflegten Alpenkrimis lernen in 14 Kurzgeschichten vielleicht den einen oder anderen neuen Autoren kennen.

Jeff Maxian/Erich Weidinger (Hrsg.): «Mords-Zillertal». Gmeiner-Verlag, Messkirch 2012, 270 S., zirka Fr. 15.-.

Die andere Seite von Casanova

Fabian Kern am Montag den 26. März 2012

Meine Flucht aus den Bleikammern von VenedigWer mit dem Namen Giacomo Casanova bisher nur den Frauenhelden verband, der den venezianischen Edelmännern im 18. Jahrhundert gleich reihenweise die Hörner aufsetzte, lernt im Buch «Meine Flucht aus den Bleikammern von Venedig» eine neue Seite am Schriftsteller und Libertin kennen: den Abenteurer. Im Jahr 1755 wird der 30-jährige Lebemann zu fünf Jahren Gefängnis in den berüchtigten Bleikammern von Venedig verurteilt.

Das wäre an sich schon schlimm genug für den freiheitsliebenden Casanova. Erschwerend hinzu kommt aber die Ungewissheit. Casanova wird vom Gericht nämlich weder über die Anklagepunkte – Magie, Freimaurerei, Gotteslästerung und Unzucht – aufgeklärt, noch über die Dauer der Haft in Kenntnis gesetzt. So glaubt der Schürzenjäger, der sich natürlich keiner Schuld bewusst ist, wochenlang, dass er bald freigelassen wird.

Nach vier Monaten lässt Casanova aber alle Hoffnung fahren und plant seinen Ausbruch. Obwohl: Wer Geld hat, geniesst in den Bleikammern, die sich unter dem Dach des Dogenpalastes befinden, einige Privilegien. Casanova lässt sich seine eigenen Möbel in die Zelle bringen, und gut verköstigt wird er ebenfalls. Dennoch leidet er sehr unter den Temperaturen. Im Sommer wird es unter dem mit Bleiplatten bedeckten Dach siedend heiss und im Winter eiskalt, weshalb die Vorstellung eines längeren Aufenthalts dort keine Option für Casanova ist.

Wer die Zellen der Bleikammern sieht, versteht Casanovas Freiheitsdrang. (Bild: Wolfgang Fischbach)

Für die Entwicklung seines Fluchtplans benutzt er den geistig minderbemittelten Wärter Lorenzo. Dieser versorgt ihn unbewusst mit dem Werkzeug, das Casanova benötigt und sorgt mit seinen Botengängen zwischen Casanovas Zelle und jener von Pater Balbi, einem ebenfalls fluchtbereiten Mönch. Verzögert wird das Unternehmen Ausbruch immer wieder von wechselnden Zellengenossen, die bei Casanova einquartiert werden. Schliesslich gelingt aber nach 15 Monaten die Flucht über das Dach des Dogenpalastes. Dennoch wird Casanova durch die Freiheit nicht glücklich. Er muss Venedig verlassen und startet eine Odyssee durch Europa.

Dass die Authentizität von Casanovas Flucht immer wieder angezweifelt wurde, ist nachvollziehbar. Sehr viele glückliche Umstände haben den Ausbruch begünstigt – verdächtig viele. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, also rund hundert Jahre nach der Veröffentlichung von Casanovas Geschichte, dieser sei aus dem Gefängnis freigekauft worden und die Geschichte nur als Deckmantel für den edlen Spender erfunden worden. Der Autor selbst weist jegliche Fiktion von sich. «Ich erkläre hiermit, dass ich stets nur geschrieben habe nach dem Grundsatz, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu schreiben», betont Casanova schon zu Beginn des Buches.

Casanova

Das Plakat des Kinofilms «Casanova» mit Heath Ledger (2005) deutet die zwei Gesichter des Frauenhelden an.

Ungeachtet des Wahrheitsgehalts der Erzählung bietet «Meine Flucht aus den Bleikammern von Venedig» gute Unterhaltung, wenn auch die Beschreibungen etwas zu ausführlich ausgefallen sind. Offensichtlich hingegen ist eine gute Portion Arroganz und Selbstverliebtheit bei Casanova. Mit einem verächtlichen Unterton schreibt Casanova über die «Gäste» in seiner Zelle schreibt und auch über Pater Balbi, ohne den er die fünf Jahre hätte absitzen müssen. Immer wieder betont er seine geistige Überlegenheit, seine Geschicklichkeit und sein gutes Aussehen. Ganz Einzelgänger, benutzt er seine Mitmenschen, um sein Ziel zu erreichen. Der berühmte Charmeur scheint ein kleiner Narzisst und Opportunist gewesen zu sein.

Giacomo Casanova: «Meine Flucht aus den Bleikammern von Venedig». Aus dem Französischen von Ulrich Friedrich Müller und Kristian Wachinger. Verlag C.H. Beck textura, München 2012. 176 S., ca. Fr. 24.50.

Dr. Laurie und Mister House

Fabian Kern am Donnerstag den 1. März 2012
Titelbild von «Hugh Laurie – Die inoffizielle Biografie des Dr. House»

Anthony Bunkos Buch ist ab sofort erhältlich. (Bilder: Schwarzkopf & Schwarzkopf)

Wann kommt Dr. House? Gut die Hälfte des Buchs «Hugh Laurie – Die inoffizielle Biografie des ‹Dr. House›» habe ich durch und immer noch hält mich das Vorwort bei der Stange. Die Beschreibung, wie Hugh Laurie in schmutzigen Kleidern mit Dreitagebart in Afrika ein Castingvideo von sich aufzeichnet, das ihm die Rolle seines Lebens verschaffen sollte, ist stark. So stark, dass ich mich durch die bewegte Laufbahn des britischen Schauspielers vor seiner Amerika-Karriere kämpfe. Doch die Ausdauer lohnt sich, denn in den ersten zwei Dritteln erfahre ich sehr viel über die englische TV-Geschichte der Neuzeit, insbesondere auf dem Comedy-Sektor. Als Erklärung für jene, die Lauries Mitwirken in der englischen Kultserie «Blackadder» mit Rowan Atkinson nicht kennen: Er ist eigentlich ein Komiker.

Hugh Laurie ist Dr. House

Weltweite Popularität: Hugh Laurie alias Dr. House.

Macht Sinn, denn ohne Humor wäre die Figur des Dr. Gregory House wohl auch nicht zu ertragen. Sein Zynismus würde zu Bösartigkeit und das eigensinnige medizinische Genie seine letzten Sympathien verspielen. Das Faszinierende an diesem TV-Arzt, das wohl auch für die überwältigenden Einschaltquoten in den USA verantwortlich ist, ist schliesslich die Ambivalenz seines Charakters. Normalerweise liebt oder hasst man eine Figur. Dr. House schafft es, beide Extreme der Gefühlsskala gleichzeitig zu bedienen. «Hughs komisches Timing gibt der Serie die nötige Kraft», sagt Produzent David Shore über seinen wichtigsten Angestellten. Und auch Laurie selbst liebt die Mischung «von Hell und Dunkel» an seiner Rolle. Und stellt Gemeinsamkeiten zwischen sich und Dr. House fest: «Wir betrachten beide die Welt kritisch.»

Dr. House bei der Arbeit

Als Dr. House ist Hugh Laurie ein Segen für seine Patienten und eine Pein für seine Untergebenen.

So ist Hugh Laurie auch im gereiften Alter von 53 Jahren und trotz herausragender Kritiken über sein Schauspiel in britischen Comedies wie «Blackadder» oder «A bit of Fry and Laurie» an der Seite seines besten Freunds Stephen Fry, in Kinofilmen wie «Peter’s Friends» (1992), «Sense and Sensibility» (1995) «101 Dalmatiner (1996) oder «Stuart Little» (1999) oder in mittlerweile 150 Folgen als Dr. House immer noch überrascht über seinen Erfolg. «Habe ich das verdient?», fragt sich Laurie immer wieder und weigert sich, die Beliebtheit der Serie auf sein Mitwirken zu reduzieren. «House, M.D.», wie der Originaltitel lautet, war 2008 immerhin die meistgesehene TV-Serie der Welt.

Auftritt mit Gitarre in einer TV-Show

Hugh Laurie ist nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Musiker talentiert.

Er habe zu keiner Zeit seines Lebens einen Plan gehabt, meint Laurie bescheiden. Vielleicht ist der schlaksige Brite mit den markanten blauen Augen auch einfach mit zu vielen Talenten gesegnet. Vor seiner Karriere war Laurie wie sein Vater erfolgreicher Ruderer, neben der Schauspielerei spielt der dreifache Familienvater als Musiker – er spielt Gitarre und Klavier – in einer Band.
Autor Anthony Bunko stellt mit Hugh Laurie einen vielschichtigen Menschen vor, der sich vor allem durch eines auszeichnet: Bescheidenheit. Ganz anders also als Dr. House – oder doch nicht? Denn auch Gregory House spielt eigentlich nur eine Rolle, um die eigene Verletzlichkeit zu überspielen. Das Verhältnis zwischen Laurie und House ist fast ein wenig wie jenes von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Nur, dass in diesem Fall der Doktor der «Böse» ist.

Anthony Bunko: «Hugh Laurie – Die inoffizielle Biografie des ‹Dr. House›». Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2012. 264 Seiten, ca. Fr. 28.90. Ab 1. März in den Schweizer Buchhandlungen erhältlich.