Wer mit dem Namen Giacomo Casanova bisher nur den Frauenhelden verband, der den venezianischen Edelmännern im 18. Jahrhundert gleich reihenweise die Hörner aufsetzte, lernt im Buch «Meine Flucht aus den Bleikammern von Venedig» eine neue Seite am Schriftsteller und Libertin kennen: den Abenteurer. Im Jahr 1755 wird der 30-jährige Lebemann zu fünf Jahren Gefängnis in den berüchtigten Bleikammern von Venedig verurteilt.
Das wäre an sich schon schlimm genug für den freiheitsliebenden Casanova. Erschwerend hinzu kommt aber die Ungewissheit. Casanova wird vom Gericht nämlich weder über die Anklagepunkte – Magie, Freimaurerei, Gotteslästerung und Unzucht – aufgeklärt, noch über die Dauer der Haft in Kenntnis gesetzt. So glaubt der Schürzenjäger, der sich natürlich keiner Schuld bewusst ist, wochenlang, dass er bald freigelassen wird.
Nach vier Monaten lässt Casanova aber alle Hoffnung fahren und plant seinen Ausbruch. Obwohl: Wer Geld hat, geniesst in den Bleikammern, die sich unter dem Dach des Dogenpalastes befinden, einige Privilegien. Casanova lässt sich seine eigenen Möbel in die Zelle bringen, und gut verköstigt wird er ebenfalls. Dennoch leidet er sehr unter den Temperaturen. Im Sommer wird es unter dem mit Bleiplatten bedeckten Dach siedend heiss und im Winter eiskalt, weshalb die Vorstellung eines längeren Aufenthalts dort keine Option für Casanova ist.
Für die Entwicklung seines Fluchtplans benutzt er den geistig minderbemittelten Wärter Lorenzo. Dieser versorgt ihn unbewusst mit dem Werkzeug, das Casanova benötigt und sorgt mit seinen Botengängen zwischen Casanovas Zelle und jener von Pater Balbi, einem ebenfalls fluchtbereiten Mönch. Verzögert wird das Unternehmen Ausbruch immer wieder von wechselnden Zellengenossen, die bei Casanova einquartiert werden. Schliesslich gelingt aber nach 15 Monaten die Flucht über das Dach des Dogenpalastes. Dennoch wird Casanova durch die Freiheit nicht glücklich. Er muss Venedig verlassen und startet eine Odyssee durch Europa.
Dass die Authentizität von Casanovas Flucht immer wieder angezweifelt wurde, ist nachvollziehbar. Sehr viele glückliche Umstände haben den Ausbruch begünstigt – verdächtig viele. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, also rund hundert Jahre nach der Veröffentlichung von Casanovas Geschichte, dieser sei aus dem Gefängnis freigekauft worden und die Geschichte nur als Deckmantel für den edlen Spender erfunden worden. Der Autor selbst weist jegliche Fiktion von sich. «Ich erkläre hiermit, dass ich stets nur geschrieben habe nach dem Grundsatz, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu schreiben», betont Casanova schon zu Beginn des Buches.

Das Plakat des Kinofilms «Casanova» mit Heath Ledger (2005) deutet die zwei Gesichter des Frauenhelden an.
Ungeachtet des Wahrheitsgehalts der Erzählung bietet «Meine Flucht aus den Bleikammern von Venedig» gute Unterhaltung, wenn auch die Beschreibungen etwas zu ausführlich ausgefallen sind. Offensichtlich hingegen ist eine gute Portion Arroganz und Selbstverliebtheit bei Casanova. Mit einem verächtlichen Unterton schreibt Casanova über die «Gäste» in seiner Zelle schreibt und auch über Pater Balbi, ohne den er die fünf Jahre hätte absitzen müssen. Immer wieder betont er seine geistige Überlegenheit, seine Geschicklichkeit und sein gutes Aussehen. Ganz Einzelgänger, benutzt er seine Mitmenschen, um sein Ziel zu erreichen. Der berühmte Charmeur scheint ein kleiner Narzisst und Opportunist gewesen zu sein.
Giacomo Casanova: «Meine Flucht aus den Bleikammern von Venedig». Aus dem Französischen von Ulrich Friedrich Müller und Kristian Wachinger. Verlag C.H. Beck textura, München 2012. 176 S., ca. Fr. 24.50.
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