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Im Spannungsfeld zwischen Euphorie und Entsetzen

Joel Gernet am Donnerstag den 12. Juni 2014

Die brasilianischen WM-Ausschreitungen erreichen Basel: Die Multimedia-Ausstellung «Copa>Demo>Video>Stream» illustriert die Zerreissprobe des Landes. Zu sehen am Public Viewing im Basler Hinterhof.

Der Kontrast könnte kaum grösser sein: Neben den wackligen Strassenkampf-Szenen aus Brasiliens Favelas wird eine WM-Werbung von Coca-Cola an die Backsteinwand projiziert. Man sieht, wie der Getränkemulti junge Menschen in ärmlichen Gegenden mit Cola und WM-Tickets beglückt. Der Slogan: «One World, One Game». Die Unterzeile: «Everybody’s invited». «Die Werbung ist insofern ehrlich, als dass hier der Sponsor sagt, wer eingeladen ist», findet Beni Wyss, Kurator der Ausstellung «Copa>Demo>Video>Stream». Er hat die Multimedia-Installation für das Sportmuseum Schweiz im Basler Hinterhof realisiert. Heute Donnerstagabend ist Eröffnung im Rahmen des Kultur-Public-Viewings im Untergeschoss des Clubs Hinterhof.

«Wir wollen Sportkultur niederschwellig am Ort des Geschehens präsentieren – hier kann man sich bequem mit einem unbequemen Thema beschäftigen», erklärt Wyss. «Ausgangspunkt war die kritische Auseinandersetzung mit der WM – ohne zu werten.» Der Kontrast zwischen Strassenkampf, Fussball-Euphorie und Kommerz ist gewollt. Die Ausstellung thematisiert jenes Spannungsfeld, dass sich auftut zwischen den unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen Perspektiven auf eine Fussball-Weltmeisterschaft.

12. Juni bis 13. Juli. Hinterhof, Münchensteinerstr. 81, Basel.

12. Juni bis 13. Juli. Hinterhof, Münchensteinerstr. 81, Basel.

Da sieht man etwa eine junge Journalistin mit blutunterlaufenem Auge. Sie wurde an einer Demonstration von einem brasilianischen Polizisten mit Gummischrot beschossen. Oder eine verzweifelte Ärztin, die sich in Anbetracht der Millionen-Ausgaben für neue Fussballtempel über die unhaltbaren Zustände in ihrem Spital beschwert. Ihr wird ein FIFA-Funktionär entgegengesetzt, der jegliche Mitverantwortung an den sozialen Unruhen abstreitet.

Man sieht aber auch FIFA-Präsident Sepp Blatter und die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff voller Zuversicht bei der WM-Auslosung, euphorische Kinder beim Fussballspielen, brasilianische Musik und Lebensfreude. «Es ist keine Ausstellung über die Schattenseiten der WM, sondern ein kritischer Blick auf die verschiedenen Perspektiven zu diesem Grossanlass», stellt Wyss klar. «Wir sind keine WM-Gegner.»

Gezeigt werden insgesamt zehn Filme, allesamt zusammengestellt mit Videomaterial aus dem Internet. «Kameras sind heute allgegenwärtig und schaffen Sichtbarkeit für alle – sowohl für Sepp Blatter als auch für die Demonstranten auf der Strasse», erklärt Kurator Wyss. «Da gibt es eine komplett neue Gegenöffentlichkeit.» Neben den offiziellen Spots von Veranstalter und Sponsoren hat man deshalb auch aus dem fast grenzenlosen Fundus an Handy-Videos aus der Bevölkerung geschöpft. Um dabei nicht komplett die Übersicht zu verlieren, arbeitete das Sportmuseum Hand in Hand mit den Nichtregierungs-Organisationen Terre des Hommes Schweiz und ANCOP, dem brasilianischen Netzwerk der Bürgerkomitees.

So erreichen die Demos aus Brasilien also via Beamer auch Basel. Es ist ein Transfer von der brasilianischen Realität in die Virtualität des Internets – und zurück in die Realität am Public Viewing im Hinterhof. Die Ausstellung markiert auch die Eroberung des Untergeschosses im ehemaligen Safruits-Früchtelager. «Die Ironie der Vorgeschichte ist, dass vor dieser Ausstellung ein Clochard zwangsumgesiedelt werden musste», schildert Wyss in Anlehnung an die umstrittenen Zwangsumsiedlungen in Brasilien. Der Obdachlose habe während Monaten in den fensterlosen Gemäuern gelebt – in friedlicher Nachbarschaft zu den Hinterhof-Betreibern. Warum der Clochard vom Gebäudeinhaber Basel-Stadt weggewiesen wurde, weiss Wyss allerdings nicht.

Es ist das dritte Mal, dass das auf dem Dreispitz beheimatete Sportmuseum Schweiz mit dem Hinterhof für das Public Viewing eines Fussball-Grossanlasses zusammenspannt. Dass der Event dabei von einer Ausstellung flankiert wird, ist hingegen neu. «Wir haben nicht den Anspruch, Brasilien nach Basel zu holen, aber wir wollen dennoch mit den Ausstellungen unseres Mobilen Museums am Ort des Geschehens zu sein», erklärt Wyss.

Der aktuelle Blick nach Brasilien – die beiden Flughäfen in Rio de Janeiro werden zur Zeit bestreikt – lässt erahnen, dass dass die Ausstellung «Copa>Demo>Video>Stream» auch nach dem Anpfiff der WM nicht an Aktualität verlieren wird. Im Gegenteil: Die brasilianische Zerreissprobe könnte auch nach der Weltmeisterschaft weiter gehen – 2016 führt das Land die Olympischen Spiele durch.

Copa>Demo>Video>Stream – Eine Video-Ausstellung über Brasilien und die Fussball-WM. 12. Juni bis 13. Juli 2014. Hinterhof, Münchensteinerstrasse 81, Basel. Vernissage: Donnerstag, 12. Juni, 20 Uhr.

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2 Kommentare zu “Im Spannungsfeld zwischen Euphorie und Entsetzen”

  1. Goran sagt:

    Eben: Treffender Ausdruck: Zerreissprobe! Therapiemoeglichkeit: Karnevalnacht bei Britannia Arms!

  2. apocalypse 2012 moon god sagt:

    Wenn kein Mensch mehr Fussball gucken würde, wären Blatter und die FIFA innert 1 Woche tot und die armen Menschen in Brasilien endlich mit guter Bildung etc. versorgt. Dann müssten sie auch nicht mehr demonstrieren.

    Der Konsument hätte die grösste Macht — wenn er nur nicht so dumm wäre…

    Und die Welt würde endlich mehr Hirn (statt Fuss) ballen…

    Solange es Fussball gibt, wird es keine wirkliche Zivilisation geben…