Das wahre Leben schreibt die krassesten Geschichten. Im Positiven wie im Negativen. Eine Woche nach der Verfilmung von Jordan Belforts skandalöser Autobiografie «The Wolf of Wall Street» kommt nun eine völlig andere filmische Umsetzung eines Buches in unsere Kinos – jene von Martin Sixsmiths «The Lost Child of Philomena Lee». Es ist eine Geschichte, die jeden sofort reinzieht und absolut erschütternde Ereignisse aus einer Zeit offenbart, die noch gar nicht so lange her ist. Und sich nicht etwa in einem Drittwelt-Land abspielte, sondern in Westeuropa: Irland. In einem erzkatholischen Irland.
Im Jahr 1952 war Philomena Lee Teenager. Mit allen Hormonen und Sehnsüchten wie jedes andere Mädchen ihres Alters. Deshalb lässt sie sich von einem feschen Jungen verzaubern. Weil vorehelicher Sex absolut Tabu war und somit Verhütung kein Thema, wird das arme Mädchen schwanger. Von ihrer Familie verstossen findet Philomena in einem Kloster Unterschlupf und schenkt einem Jungen das Leben. Doch in einem katholischen Kloster werden einem befleckten Teenager keine Mutterfreuden zugestanden. Der kleine Anthony wird zur Adoption freigegeben, Philomena kann sich noch nicht einmal von ihm verabschieden. Als letzte Erinnerung bleibt ihr, wie ihr Sohn durch die Heckscheibe eines davonfahrenden Autos schaut – einfach nur herzzerreissend. Von christlicher Nächstenliebe keine Spur.
50 Jahre bewahrt Philomena, mit nichts als einem kleinen Foto ihres geliebten Sohnes in den Händen, das Schweigen über Anthony und glaubt die Version des Klosters, alle Unterlagen über die Kinder seien bei einem Brand vernichtet worden. Weil der Schmerz aber nicht kleiner geworden ist, erzählt sie das Ganze ihrer Tochter, welche sie davon überzeugt, die Presse einzuschalten – zumindest einen Journalisten: Martin Sixsmith. Der langjährige TV-Mann wurde soeben von der BBC geschasst und ist nicht eben motiviert, eine aus seiner Sicht minderwertige People-Story zu schreiben. Doch der Zyniker lässt sich von der herzensguten Frau erweichen, ihr bei der Suche nach ihrem Sohn zu helfen. Das ungleiche Gespann macht sich auf eine ungewöhnliche, für beide sehr lehrreiche Reise.
An so einem Schicksal kann eine Mutter schon einmal zugrunde gehen. Wie Philomena aber trotz der Jahrzehnte der Ungewissheit und des Leidens ihre Lebensfreude nicht verloren hat, ist so bewundernswert wie schwer nachvollziehbar. Als Darstellerin der Titelfigur hätte Regisseur Stephen Frears keine passendere Schauspielerin finden können als die wunderbare Judi Dench. Die Grande Dame des englischen Kinos bewegt sich als Philomena stilsicher auf dem schmalen Grat zwischen Traurigkeit und Optimismus, ohne dabei ins Rührselige abzugleiten. Ihr Gegenpart Steve Coogan als Martin Sixsmith erinnert in seinem gelangweilten Zynismus an Hugh Grant in dessen besten Rollen. Die Dialoge zwischen den beiden sorgen für die gut verteilten lustigen Momente in einem melancholischen Film über ein tieftrauriges Thema. Kein Wunder, ist Frears’ gelungener Spagat in vier Kategorien für einen Oscar nominiert, darunter die wichtigen Sparten «Bester Film» und «Beste Hauptdarstellerin».
Zum Schluss seien aber noch all jene potenziellen Zuschauer gewarnt, die selbst Kinder haben: Für «Philomena» gilt unbedingte Taschentuch-Pflicht. Da bleibt kein Auge trocken. Nicht, dass hier Propaganda für Teenager-Schwangerschaften gemacht werden soll, aber wir können froh sein, dass solch düstere Zeiten vorbei sind.
«Philomena» läuft ab 23. Januar 2014 im kult.kino atelier in Basel.
Weitere Filmstarts in Basel am 23. Januar: 12 Years A Slave, Homefront, I, Frankenstein, Amazonia, The Captain and His Pirate, Erbarmen.
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