Eine Kirche in der Adventszeit – das klingt besinnlich. Eine nackte Leiche in der Zürcher Liebfrauenkirche während der Adventszeit ist aber ganz und gar nicht besinnlich, sondern vielmehr entsetzlich. Das ist schlecht für das Opfer, aber gut für den Schweizer Krimileser, denn er lernt einen nicht ganz neuen Ermittler nochmals neu kennen: Vorhang auf für Maxim Charkow, einen im Bünderland aufgewachsenen Halbrussen. Den Chefermittler der Mordkommission Zürich hat Autor Marcus Richmann zwar bereits 2009 eingeführt, «Die Augen der Toten» ist dem breiten Schweizer Krimipublikum aber nicht aufgefallen. Charkow trifft der neuste Fall zum denkbar unglücklichsten Zeitpunkt, denn er hat mit seinem Privatleben schon genug Sorgen. Seine hoffnungsvolle Beziehung steht auf wackligen Beinen, nachdem seine Freundin schon nach wenigen Monaten auf einer Paartherapie besteht.
Damit ist der Ton in «Engelschatten» schon gegeben. Es menschelt sehr in Marcus Richmanns Krimi, was einen sofort in die Geschichte hineinzieht. Charkows junge Assistenten sind nicht im Reinen miteinander, und in Charkows Beziehungskiste mischt sich dessen beste Freundin, die Pathologin Francine ein. Da ist der Tote in der Kirche schon fast zweitrangig. Aber auch da finden sich spannende Ansätze, denn der Ermordete ist Russe und eine grosse Nummer im Rotlicht-Milieu. Ist die Tat also religiös motiviert? Oder steckt jemand aus der katholischen Kirche mit drin? Charkows russische Wurzeln bringen ihn zunächst schnell voran. Als aber während der Ermittlungen noch weitere Menschen ums Leben kommen, führen die Spuren schon bald in Richtung einer in der Schweiz nicht ganz unbekannten Sekte…
Gern wäre man während der ganzen 376 Seiten so nahe an den Schicksalen der Protagonisten geblieben, wie zu Beginn. Der Rache-Krimi gewinnt aber zusehends an Fahrt und einen realen Bezug hinzu. Mit dem Link zu den Sonnentemplern, die durch einen Massenselbstmord im Jahr 1994 im Kanton Freiburg eine dunkle Marke in der Schweizer Geschichte setzten, vermischt Richmann geschickt Realität und Fiktion. Auch wenn das Ende etwas abrupt und konventionell ausfällt, macht «Engelschatten» Lust auf mehr. Mehr von der persönlichen Lebensgeschichte des interessanten Ermittlers Maxim Charkow. Für all jene, die «Die Augen der Toten» noch nicht gelesen haben, die Gelegenheit, das nachzuholen. Für alle anderen heisst es: Warten.
Marcus Richmann: Engelschatten. Kriminalroman. Gmeiner-Verlag. Messkirch, 2013. 376 Seiten, Fr. 17.90.
Wer sich für Maxim Charkows ersten Fall interessiert, hier eine Lesung aus «Die Augen der Toten» von Marcus Richmann:
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Well done, Marcus! Viel Erfolg mit Deinem Roman!