Logo

«Nach dem Mauerfall ist Graffiti explodiert in Berlin»

Joel Gernet am Freitag den 4. März 2011

Was für Basel die kunterbunte Bahnhofseinfahrt, ist für Graffiti-Deutschland Berlin. Wenn nicht für Europa. Seit vielen Jahren gilt die deutsche Hauptstadt als eine der führenden Graffiti-Städte weltweit. Und das nicht nur wegen der farbenfrohen, detaillierten Graffitis im legalen Rahmen, sondern – vor allem – auch wegen den plakativen, dreisten und oft brachialen illegalen Werken der Street- und Trainbomber.

Trainwriter in BerlinUnd genau um diese «Zug-Bomber» geht es im Berliner Dokumentarfilm «Unlike U – Trainwriting in Berlin», der heute Freitag, 4. März, im kult.kino.club gezeigt wird – und zwar um 23 Uhr, wie sich das für nachtaktive Wesen gehört. Das «Bomben» hat im Graffiti-Kontext selbstverständlich nichts mit Al-Quaida-Attentaten wie in Madrid oder London zu tun, auch wenn sich die verschärften Sicherheitsmassnahmen rund um Bahnhöfe und Abstellgleise auch auf die Eisenbahnfreunde in der Graffitiszene auswirken, wie sich im Film zeigt: Da werden Überwachungskameras und Bahnarbeiter ausgetrickst, Absperrungen aufgebrochen und Fahr- sowie Lagepläne bis ins letzte Detail analysiert. Das war nicht immer so: «Wir haben damals Parties gefeiert in den Zugdepots», erinnert sich Wesp, der seit 1988 ungefragt Züge lackiert.

Dass in «Unlike U» über zwei Dutzend Berliner Sprayer in ausführlichen – zum Teil sehr persönlichen – Interviews über ihr Hobby ausserhalb jeglicher gesellschaftlicher Regeln reden, ist die grosse Stärke des Films. Es sind diese Einblicke, die «Unlike U» unterscheiden von den vielen anderen Filmen über illegales Graffiti, in denen eine Bombing-Aktion an die nächste gereiht wird – und in denen sich über Kurz oder Lang der «Porno-Effekt» einstellt (alles wird gleichförmig, nur die krassesten Szenen stechen noch heraus).

Realisiert wurde der Dokumentarfilm von den Berliner Regisseuren Björn Birg (29) und Henrik Regel (31)*, der im Schlaglicht-Interview auf eine intensive Produktionszeit zurückblickt.

Henrik Regel, was hat Sie dazu bewegt, einen Film über Trainbombing in Berlin zu machen? Fast jedes andere Thema wäre wohl leichter umzusetzen gewesen.
Das stimmt sicherlich. Wir wollten allerdings etwas Besonderes machen. Einige Leute aus unserem erweiterten Umfeld stecken da seit Jahrzehnten drin und wir fanden es interessant, die extreme Lebensweise zu beleuchten.

War es schwierig, Sprayer zu finden, die sich vor der Kamera äussern wollten?
Ja, definitiv. Sie haben ja eigentlich nur Nachteile dadurch. Wir haben uns aber oft mit ihnen getroffen, unsere Ideen für den Film erzählt und so langsam Vertrauen aufgebaut. Das hat aber eine Weile gedauert…

Gab es den einen Moment, in dem Ihr sagtet: «Ja, jetzt ziehen wir das Ding durch»?
Nachdem wir in den ersten Interviews gemerkt haben, wie offen manche auch von den Schattenseiten erzählen, haben wir gemerkt, dass es sehr interessant werden kann. Unsere Befürchtung war anfangs, dass die Jungs sich dazu nicht äussern und eher die «coole Writer-Fassade» aufrecht erhalten wollen.

Wieviel Arbeit steckt in «Unlike U»?
Einige Jahre Vorbereitung und drei Jahre sehr intensive Arbeit. Insgesamt waren wir etwa sieben Jahre mit dem Projekt beschäftigt.

Wie kamt Ihr an das Filmmaterial, das teilweise viele Jahre alt ist?
Nachdem wir immer tiefer in die Szene eintauchen konnten, haben uns auch immer mehr Leute verschiedenstes Material zugespielt. Oftmals war die Qualität leider für unsere Zwecke zu schlecht – es war aber gottseidank auch genug schönes Material dabei.

Wie finanziert man einen Film über Zerstörung im öffentlichen Raum? Gelder vom Staat sind bei diesem Thema ja kaum zu erwarten.
Wir haben alles aus eigener Tasche finanziert, Erspartes ausgegeben und bescheiden gelebt. Staatliche Förderungen oder ähnliches haben wir nicht beantragt.

Gab es Augenblicke, in denen Ihr an Eure Grenzen kamt?
Es gab viele Momente, in denen wir einen langen Atem beweisen mussten. Das Projekt und die Umsetzung wäre nichts für ungeduldige Menschen gewesen.

Zu sehen gibt es neben den Interviews vor allem Adrenalin-geschwängerte Action-Szenen. Gab es auch emotionale Momente bei den Dreharbeiten?
Ja, es gab auch solche Momente bei den Dreharbeiten. Vor allem das Interview mit Philipp, dem Bruder des bekannten Sprayers RUZD (R.I.P.), der sich im August 2002 das Leben nahm, war sehr emotional.

Habt Ihr speziell darauf geachtet, dass das illegale Sprayen nicht verherrlicht wird?
Wir wollten uns auf keine Seite stellen und das Ganze unkommentiert zeigen.

The Last RideWas ist das Besondere an der Graffiti-Stadt Berlin, «dem New York von Europa», wie es von gewissen Leuten auch genannt wird?
Die Berliner haben immer schon sehr viel Wert auf die Entwicklung ihres Graffiti-Styles gelegt. Durch die Historie mit dem Mauerfall et cetera haben die Berliner viele Umstände vorgefunden, die das Sprühen begünstigt haben. Vor allem nach dem Mauerfall Anfang der 90er Jahre ist Graffiti explodiert in Berlin.

Wie hat sich die Graffiti-Szene in Berlin im Lauf der Jahre verändert?
Früher gab es zum Beispiel noch Treffpunkte wie den Writers-Corner an der U-Bahn-Station Friedrichstrasse, den man auch im Film sieht. Heutzutage trifft man sich eher im Internet. Es gibt nicht die eine Szene, sondern ganz viele verschiedene.

Wie reagieren die Leute ausserhalb der Szene auf «Unlike U»?
Der Film löst bei den meisten Leuten erstmal Interesse aus. Die Reaktionen sind bisher eigentlich durchweg positiv. Die Leute meinen, dass sie nach dem Film die Sprüher und ihre Motive besser nachvollziehen können. Auch wenn sie nicht gutheissen, was sie machen.

Im Film geht Ihr der Frage nach, was einen Trainwriter dazu treibt, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen und Zeit, Geld, Nerven und Freundschaften zu riskieren ohne Gegenleistung – ausser dem Ruhm einiger weniger Gleichgesinnter. Könnt Ihr die Frage jetzt beantworten? Was ist der Antrieb der Jungs?
Selbstverwirklichung, Freiheit, Selbstbestimmung, Ruhm, Aufmerksamkeit, Freundschaft Adrenalin, Action, das Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei und die Kreativität ausleben zu können.

* Regisseur Henrik Regel bewegte sich um die Jahrtausendwende im Umfeld der legendären Rapcrew Beatfabrik, später war er mit Rapper Prinz Pi unterwegs. Als Filmer kennt man Regel vor allem auch wegen der erfolgreichen DVD-Serie «Rap City Berlin».

Unlike U – Trainwriting in Berlin
Nocturne am Freitag, 4. März 2011

23.00 Uhr im kult.kino club.
In Anwesenheit der Filmemacher Henrik Regel & Björn Birg.

« Zur Übersicht

8 Kommentare zu “«Nach dem Mauerfall ist Graffiti explodiert in Berlin»”

  1. Kim Dällenbach sagt:

    Schmierereien empfinde ich als Vandalismus. Kunstwerke (wie das dahingeschiedene Jimmy Hendrix-Portrait zwischen St. Jakob und Zeughaus) hingegen schätze ich als Kunst und als Verschönerung der Stadt.
    Die triste Betonwelt verträgt viel Farbe. Ich bin der Ansicht, dass man das von offizieller Seite noch mehr unterstützen sollte und auch gezielt Wände freigibt (besonders die bereits verschmierten im öffentlichen Raum).
    Wenn den Sprayern mehr Raum gegeben wird, brauchen sie sich auch nicht zu verstecken oder sich in Gefahr zu bringen, nur um ein bisschen zu provozieren oder sich zu veräussern.
    Wettbewerbe, öffentliche Ausschreibungen, einen Sprayer-Tag, ein Tag der offenen Tür oder sowas wäre doch klasse!
    Das böte Raum für Aufklärung – und die ist auf beiden Seiten (in der Sprayerszene und in der übrigen Bevölkerung) durchaus nötig.

    Die Einfahrt in den Bahnhof, das Schänzli und der bereits genannte Tunnel beim St. Jakob sind wunderbar. Und noch nie hat mich ein Sprayer doof angemacht. Die sind ganz okay. Ganz im Gegensatz zu den aufdringlichen Missionaren der Beton-erbauern in ihren Anzügen.

  2. stephan weber sagt:

    Grafitty ist schon deshalb keine Kunst, weil sie die Kunst und den Gestaltungeswillen anderer mit Füssen tritt. Sie tritt auch die Wahrnehmung und das ästhetische Empfinden der Betrachter mit Füssen. Daher kann bei einer solchen Dokumentation allenfalls ein Psychogram herauskommen.

  3. Peter Berger sagt:

    Grafitty ist eine Beschädigung und Verunzierung fremden Eigentums mit hoher Wertverminderung des Objekts und der Nachbarschaft. Besonders dann wenn es sich nur um Buchstabenmarkierungen handelt. Weshalb nicht Besitzer vorher anfragen und wirkliche Bilder malen?

  4. Balthasar Gilgen sagt:

    Wenn ich durch die Stadt gehe hat mich niemand gefragt, ob ich die Auto-Werbung sehen will, ob ich die halbnackte Shampoo-Werbe-Frau sehen will, ob mich Herr MediaMarkt fragen soll, ob ich nicht blöd sei. Es wird von uns erwartet, die kommerzielle Verschmutzung des Stadbildes zu dulden. Und genau diese Bevormundung “tritt auch die Wahrnehmung und das ästhetische Empfinden der Betrachter mit Füssen”, Herr Weber. Auch legitimiert sie auf der anderen Seite (bis zu einem bestimmten grad) Graffiti.
    Der grösste Beweis, dass Basel eine Kulturstadt ist, sind nicht nur das Kunstmuseum und Herr Beyeler, sondern die Bahnhofeinfahrt.

  5. Manfred Fischer sagt:

    @ Peter Berger versuchen wir seit Jaaahahaaaahaaaareeeeeeenn aber die reagieren nur mit Verachtung. Wir kriegen einfach keine Wände.

    Herr Berger nennen sie mir Wände in Berlin wo Jugendliche legal malen dürfen.
    Nun sie brauchen nicht antworten denn ich kenne ihre Antwort schon, sie werden mir sagen es gibt solche Wände nicht.

    Herr Peter Berger es gibt die Hochkultur mit Oper Theater usw. und es gibt die Strassenkultur beide sollten sich ergänzen.
    Die Hochkultur hat ein Problem sie verliert den Zugang zur Jugend. Sehr wenige jugendliche besuchen die Opern oder ein Theater wenn sie nicht müssen. Noch was .. sie verlieren den Zugang zu den jungen Menschen die sich in dieser Szene bewegen, weil sie ihre eigene Sprache entwickelt hat, ihren eigenen Ehrenkodex.. auch wenn sie jetzt lachen sollten,
    bedenken sie solche Jugendlichen werden abwandern in die illegalität zu den Rockerbanden, zu den Fundamentalisten oder zu den Rechtsradikalen

    das ist keine Panikmache das ist real und passiert jeden Tag in Berlin

    also Herr Peter Berger was ist ihr Lösungsansatz, wollen sie alle einsperren oder demnächst Panzer verwenden bei der Jagd nach Sprühern. Die Hubschrauber sind ja schon im Einsatz und es ist ja bekannt. In Berlin ist durch die rabiate Verfolgung eines writers eine unbeteilligte Person von der Berliner Polizei zu Tode gekommen. Soll das der Lösungsansatz sein?

    Der Verfolgungsdruck ist enorm, deswegen kann man sich für ein Kunstwerk nicht viel Zeit nehmen. Meistens benutzt man dann daher 2 Farben chrom und schwarz – das nennt man “bombing”.
    Das ist schade denn könnte man die Wand legal nutzen, könnten die Jugendlichen, “fame” Bekanntheitsgrad auch mit Qualität anstatt Quantität erlangen

    Das sind doch keine islamistischen Terroristen meine Güte noch nicht, sie sehen sich selber als Künstler und durch das malen verschönern sie ihr Lebensumfeld und gestalten es mit. Siewollen nicht in vorgesetzten sterillen oder mit Werbebannern zugeknallten Siedlungen dahinwegetieren.

    Ich sag mal so diese Werbung die man überall vorgesetz bekommt die nervt mich pers. mehr als manche schönen Bilder der Jugendlichen.

    Gruß
    Fischer

  6. Udu sagt:

    @Peter Berger :
    Wenn man sich über Graffiti aufregt, sollte man es wenigstens richtig schreiben können.
    Ob die Graffiti eine Beschädigung fremden Eigentums sind, kann durch die Betrachtung eines Schriftzuges oder Bildes gar nicht festgestellt werden; denn die Lack- u. Markerbeschriftungen, bzw. Anhaftungen lassen sich in den meisten Fällen rückstandslos und ohne Substanzverlust beseitigen.
    Ob etwas eine Zier oder „Unzier“ ist, liegt im Auge des jeweiligen Betrachters. Weshalb durch den Geschmack einzelner Graffitigegner eine hohe Wertminderung entsteht, bleibt mir verborgen. So mancher Hausbesitzer würde sich freuen, wenn sich Banksy an seinem Objekt verewigen würde.
    Es gibt Flächen, die illegal besprüht wurden und trotzdem künstlerisch wertvoll gestaltet sind, so dass man sie für Auftragsarbeiten hält. Andererseits gibt es Flächen, wo Jugendliche legal sprühen dürfen, die zeitweilig so aussehen, als wären sie gegen den Willen des Eigentümers „verunstaltet“ worden.
    Entscheidender ist doch, wer hat das Recht, den öffentlichen Raum zu gestalten. Dürfen es nur die, die die politische oder wirtschaftliche Macht haben? Warum stellt Berlin nicht legale Flächen zur Verfügung, wo Jugendliche, Heranwachsende oder kunstbegeisterte Personen experimentieren und sich ausleben können? In Berlin werfen Politiker aller Parteien lieber Millionen Euros für hoch betagte Künstler zum Fenster raus, statt Graffiti- Künstlern aus Berlin die Aufgabe zu stellen, ein Graffiti- Festival mit Sprayern der Weltklasse zu organisieren. Das wäre nicht nur preiswerter gewesen, sondern hätte den Rest eines alten Wahrzeichens erheblich aufgewertet und für eine Touristenattraktion gesorgt.
    In Städten, wo es viele, legale Flächen für Sprayer gibt, hat das illegale Sprayen radikal abgenommen. In Städten, wo legale Flächen geschlossen wurden, haben illegale Graffiti radikal zugenommen und deren Qualität jedoch radikal abgenommen.

  7. hans dampf sagt:

    zum glück ist graffiti keine kunst,denn sonst würde es nur einer selbsternannten elite zugänglich sein.
    graffiti würde nur noch in ausgwählten galerien,austellungen o.ä. zu sehen sein.
    und solche veranstaltungen erreichen den normal bürger nicht denn wer geht heutzutage schon in eine galerie oder ins museum?
    niemand ausser “victor-emanuel bart” tragende selbsternannte künstler und gescheiterte möchtergern künstler welche ihr geld als kritiker (der wohl unsinnigste,nutzloseste und eitelste “beruf” neben dem sog. künstler) verdienen.
    nein dann doch lieber graffiti bilder für jedermann ohne eintritt ohne fachwissen seitens des publikums um es zu erfassen.
    es muss nicht erklärt werden jeder kann es kostenfrei sehen wenn er denn möchte.
    und das beste jeder kann es machen ohne studieren zu müssen um sich dann das zweifelhafte etikett des staatlich anerkannten künstlers anzuheften

    während banksy,naegli o.ä. als urbane stadtgerullias gefeiert und verehrt werden und millionen mit ihren bildern verdienen (welche genauso ungefragt angebracht werden wie jedes andere graffiti auch),werden die wahren “künstler” der strasse verachtet werden. obwohl sie genau dasselbe machen,meist sogar noch besser als oben genannte.

    von einem niedrigen geistigen horizont der graffithasser kann man allein schon desshalb ausgehen, weil diese meist mit dem argument kommen das graffiti ja illegal sei und damit einfach hässlich.
    ist das bild legal enstanden kann es noch so hässlich sein es ist automatisch kunst.
    denn etwas was erlaubt ist kann kein vandalismus sein.

    in unserer gesellschaft wird sich ja über meins und deins definiert.
    da wundert es dann auch nicht das cordhosen und filzhut tragende mürrische rentner mit sätzen kommen “früher hätte man sowas erschossen”.
    aber genau die sind es die ihre hunde überall hinscheißen lassen und sich dann über “schmierer” aufregen.

    ja wer weiß vielleicht bekommt ihr hassenden ja irgendtwann die möglichkeit guttenberg zum kaiser zu wählen,dann wird er das ganze schmiererpack zum putzen herranziehen oder direkt die hände abhacken lassen.
    dann habt ihr eure wände wieder welche genauso grau sein werden wie eure geistige haltung.