Überlebensgross: Sigur Rós in der St. Jakobshalle.
Knapp anderthalb Dekaden ist es nun bereits her, dass sich Sigur Rós mit ihrem zweiten Album «Ágætis byrjun» dazu aufgemacht haben, um die Jahrtausendwende die Bühnen dieser Welt mit ihrer faszinierenden Kombination aus Post-Rock und ätherischem Kammerpop zu verzaubern. Den Überraschungseffekt hat die Band aus dem «fernen Island», die ihre Auftritte gerne hinter halbtransparenten Vorhängen absolviert, deren Lyrics grösstenteils in einer erfundenen Sprache namens «vonlenska» (zu Deutsch in etwa «hoffnungsländisch») gesungen werden und deren Leadsänger seine E-Gitarre fast ausschliesslich mit einem Geigenbogen anspielt, dank unzähligen Alben, Konzertfilmen sowie Live-DVDs, die seither erschienen sind, mittlerweile zwar nicht mehr auf ihrer Seite und trotzdem wirkt sie auch weiterhin so undurchdringlich wie kaum eine andere Band, die eine solch ähnlich grosse Popularität geniesst.
Gestern Sonntagabend legte die Band um Sänger Jón Þór Birgisson auf ihrer aktuellen Welttournee einen schweizexklusiven Halt in der Basler St. Jakobshalle ein und bewies dabei, dass sie auch trotz regelmässigen Platzierungen in den oberen Regionen sämtlicher Charts rund um den Globus noch immer nichts von ihrer Originalität eingebüsst hat.
Dabei besucht die Band aus Reykjavik die Joggelihalle an einem interessanten Punkt in ihrer Karriere: Irgendwann während den letzten zwölf Monaten ist Multiinstrumentalist Kjartan Sveinsson, seit 1998 integraler Teil der Band, aus der Band ausgestiegen, womit Sigur Rós – zumindest im Studio – zu einem Trio geschrumpft sind. Dazu kommt, dass nach jahrelangem und schier grenzenlosem Kritikerlob die letztjährige Veröffentlichung von «Valtari» für erste Risse in der zuvor fast makellosen Fassade der Band sorgte. Dass das erste Studioalbum der Band nach einer vierjährigen Veröffentlichungspause – Live-Alben nicht mit eingerechnet – anstatt an die poppigen Klänge seines Vorgängers «Með suð í eyrum við spilum endalaust» anzuknüpfen, ein beinahe perkussionsloses Ambient-Werk ohne wirkliche Höhepunkte wurde, löste vielerorts Erstaunen aus – wohl auch, weil Sänger Jónsi bereits 2009 mit seinem Lebenspartner Alex Somers und ihrem gemeinsamen Album «Riceboy Sleeps» ähnliche Pfade weitaus erfolgreicher beschritt.
Ist «Valtari» also tatsächlich der erste Fehlschlag in der Karriere der Isländer? Die Band beantwortet uns diese Frage gleich selbst: Mit Ausnahme von «Varúð» befindet sich nämlich kein einziges Stück von jenem Album in der Setlist des Konzerts. Wenn Bands ihr aktuelles Album bereits wenige Monate nach dessen Veröffentlichung an Konzerten komplett ignorieren, verheisst das auf alle Fälle meist nichts Gutes.
Sowieso nutzte die nun veränderte Besetzung der Band die zweite Hälfte des letzten Jahres nebst kontinuierlichem Touren vor allem auch dazu, um neues Material einzustudieren. Jenes neue Material, welches die Band zusammen mit einer komplett neuen Bühnenproduktion bis im Sommer auf zwei neuen Etappen der aktuellen Welttournee nun uraufführt, wurde vom Trio als Anti-«Valtari» angekündigt. Das «neue und aggressive Material», welches während den letzten Monaten entstand, soll Teil eines zukünftigen Albums werden, welches übrigens noch dieses Jahr erscheinen soll.
Eine erste Kostprobe auf das anscheinend «aggressive Material» folgt erwartungsgemäss gleich zu Beginn des Konzerts: «Yfirborð», ein Stück welches leise beginnt und in der zweiten Hälfte ausbricht (die Merkmale eines typischen Post-Rock-Songs), kann sich jedoch noch nicht mit anderen Grosstaten der Band messen. Viel eher fügt es sich dem anfänglich sehr gemächlichen Tempo des Konzerts ein, aufgrund dessen es der Band während der ersten halben Stunde eher schwer fällt, das Publikum auf seine Seite zu bringen. Selbst bei so zuverlässigen Tricks, wie beispielsweise jenem Moment, als zur Klimax des dritten Stückes «Ný batteri» der halbtransparente Vorhang fällt, auf welchem vor und zu Beginn des Konzerts Visuals projiziert wurden, bleibt der gewünschte Effekt vorerst noch aus. Wenigstens klingt Jón Þór Birgisson Stimme auch heute wieder gewohnt ausserweltlich und die grosse, absenkbare Leinwand hinter der Band, welche dank den ober- und unterhalb montierten Scheinwerfern an einen Filmstreifen erinnert, unternimmt ebenfalls alles, um das Konzert in seine Gänge zu bekommen.
Eine knappe halbe Stunde später, als die Band mit «Brennisteinn» einen weiteren, sehr perkussionslastigen neuen Song präsentiert, der mit einer wundervoll knarzenden, auf dem Piano gespielten Basslinie besticht, taut das Publikum dann merklich auf. Und als kurz darauf dann die ersten Töne von «Sæglópur» erklingen, einer der grösseren «Hits» des Trios – wenn man denn im Zusammenhang mit dieser Band überhaupt von Hits sprechen kann -, haben Sigur Rós die Gunst des Publikums endgültig gewonnen.
In der zweiten Hälfte ihres Hauptsets lassen Sigur Rós dann keine Gelegenheit aus, um jede anwesende Person daran zu erinnern, wieso die Band trotz Musik abseits konventioneller Strukturen der Popmusik weltweit mittel- bis grosse Hallen füllen kann: «Olsen Olsen» mit seinen überwältigenden Bläsern beispielsweise, klingt auch heute wieder so triumphal wie eh und je, die sanften Pianoklänge von «Hoppípolla» lassen jedes Liebespärchen im weiten Rund sichtbar enger zusammenrücken und «Svefn-g-englar», auf dieser Tour jeweils das erste Stück des Zugabenblocks, bleibt auch weiterhin das Vorzeigemodell für majestätische Leichtfüssigkeit.
Während die Abwesenheit von «Valtari»-Tracks für die meisten Konzertbesucher wohl ziemlich leicht zu verschmerzen ist, fällt das gänzliche Fernbleiben von Material des Vorgängeralbums «Með suð í eyrum við spilum endalaust» allerdings schwerer ins Gewicht. Auf vergangenen Touren gehörten Songs jenes Albums, allen voran die herrliche Uptempo-Nummer «Gobbledigook», die an diesem Abend schmerzlich vermisst wurde, meistens zu den Höhepunkten von Konzerten der Band aus Reykjavik – vor allem, weil sie einen angenehm leichten Gegenpol zur sonst meist strengen und bedeutungsschwangeren Musik der Isländer bildeten. So würde es Sigur Rós wohl nicht schaden, mit einem kompakteren Set – die Spielzeit beträgt fast genau 120 Minuten, wohl etwas zu viel des Guten – den Spannungsbogen ihrer Konzerte ein bisschen zu straffen, eines haben sie aber auch an diesem Sonntagabend wieder aufs Neue bewiesen: Post-Rock Bands mag es vielleicht wie Sand am Meer geben, Sigur Rós jedoch bleiben absolut einzigartig.
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