Der Fang des Jahres

Ewa Hess am Mittwoch den 13. Dezember 2017

Liebe Freundinnen und Freunde von Private View – das wars also, das Superkunstjahr 2017. Nach diesem Beitrag verabschiedet sich eure Berichterstatterin in verlängerte Weihnachtsferien und wünscht allerseits fröhliches Jingle Bells. Es war das Jahr der Gegensätze und der Paradoxien: Grosse Schauen wie die Documenta oder die Biennale kämpften gegen den kulturellen Zentralismus (contradictio in adjecto?), und während die Auktionspreise verrückt spielten, griff ein akutes Galeriesterben um sich.

Links: Andreas Marti, der Spiritus Rector vom Dienstgebäude. Rechts: Ein Werk aus «Catch of the Year», nämlich «Interferenz, blue-to-purple-b.» des Schweizer Kunstduos huber.huber, ein mit Autolack überzogener Stein, wirklich wunderschön. (Kann man auch kaufen: 4000 Franken.)

Am Ende des Jahres gedenke ich des produktivsten Sektors der Kunstszene, der sogenannten «artist run artist spaces»; also jener Orte, in welchen sich Künstler im solidarischen Schulterschluss zusammenraufen, indem sie eine Stätte kreieren, wo sie ausstellen, diskutieren, Positionen ausprobieren können. In der Schweiz gibt es doch einen schönen Fächer solcher Offspaces; man kann sie auf der Website offoff.ch aufstöbern (nur Zürcher: artspaceguide.ch, nur Basler: arolandforanoliver.net) und sich dort erst mal virtuell umschauen, bevor man auf die Entdeckungstour in der wirklichen Welt geht. Ohne das Letztere wird man eh nichts begreifen, weil die Artist Run Spaces haben es verständlicherweise nicht so mit Kommunikation und Werbung – für Events gibt man sich eher spontan ein Zeichen, als dass man aufwendig die Werbetrommel rühren würde.

Catch of the Year: Links eine Kopfsteinpflasterinstallation von Juliette Uzor, rechts eine Zusammenarbeit von Walter Pfeiffer und Urs August Steiner.

Auch muss man darauf vorbereitet sein, an so einem Ort als Aussenstehender einen schweren Stand zu haben, das heisst, wenn man ihn überhaupt erst findet, denn eine gewisse mysteriöse Aura und erschwerte Auffindbarkeit gehören zu einem Offspace wie Butter aufs Brot. (Ich weiss noch, wie ich mal verzweifelt Taylor Macklin suchte, den Offspace, der gerade den Kadist-Preis der Kunsthalle bekam, und vergeblich alle Menschen anrief, die mir vielleicht hätten weiterhelfen können, dabei war ich bereits im Gebäude drin – es war nun mal sehr verwinkelt. Ich habe es dann am Ende gefunden … den Bericht von damals lesen Sie hier nach.)

Catch of the Year: Benjamin Eggers Schimpansen-Mal-Projekt. (Aus einer Gruppe von sechzehn Affen erwies sich nur die 56-jährige Blacky als eine berufene Malerin, links ihre kraftvolle abstrakte Komposition.)

Offspaces sind eher kurzlebig. Wenn sie erwachsen werden, gehen sie entweder zu oder verwandeln sich in kommerzielle Galerien. Beides trifft aber auf das Artspace Dienstgebäude nicht zu. Es nennt sich zwar Artspace und fing als ein Offspace an, in einem provisorisch zur Verfügung gestellten, nicht mehr benutzten Dienstgebäude der SBB (daher der Name), das mitten in der Gentrification-Baustelle bei der Eisenbahnunterführung der Langstrasse lag. Das war vor bald zehn Jahren, und Andreas Marti, einer der damaligen Initianten, hat das Artspace in eine Institution eigener Art verwandelt. Das Dienstgebäude ist 2011 in ein ehemaliges Bürohaus an der Töpferstrasse 26 im Binz-Quartier umgezogen und ist seither kontinuierlich gewachsen (an Bedeutung, nicht an Raum). Es agiert irgendwo zwischen Offspace, Galerie, Kleinstkunsthalle, als Impulsgeber und Kristallisationspunkt einer Kunstszene.

Blick in die Ausstellung mit der grossartigen Neonzeichnung des Basler Kunstduos Jahic/Roethlisberger, rechts ein Gemälde von Kevin Aeschbacher.

Andreas Marti ist Künstler, Ausstellungsmacher, Motivator. Mit einem minimalen Budget (von etwa 40’000 Franken jährlich) hat er im aufstrebenden Binz-Quartier durchaus so etwas wie ein «alternatives Löwenbräu» etabliert. Es sind nur drei grosse Räume im zweiten Stock eines postindustriellen Bürobaus, doch das genügt, um der jungen (und auch der ganz normal alten) Szene ein Zuhause zu bieten. «Diese beiden Räume heissen PS 1 und PS 2, und unseren Projektraum nennen wir PS 3» – sagt Marti und grinst, die Namen erinnern schliesslich an die berühmte Dépendance des New Yorker MoMA in Queens, das PS 1, das zurzeit vom deutschen Starkurator Klaus Biesenbach bestellt wird.

Links ein Holzobjekt von Patricia Bucher (sie war auch in der «Auswahl 16» im Kunsthaus Aarau zu sehen), rechts eine Gemäldeserie der Zürcher Exzentrikerin Stella, «Du sprichst mit gespaltener Zunge und ich weiss es».

Dienstgebäude mag weniger spektakulär als MoMA sein, doch es ist schon beachtlich, was hier auf die Beine gestellt wird. «Old dogs, new tricks» nennt sich etwa eine Reihe, in der ein junger und ein etablierter Künstler gemeinsam eine Schau gestalten. Vor wenigen Monaten waren das der grosse Schweizer Fotograf Walter Pfeiffer und der junge Urs August Steiner. Eine Kollaboration des alten und des jungen Hundes hängt auch jetzt im PS 1 – sie heisst «Smoke Gets in your Eyes» (Bild oben) und ist für 650 Franken zu haben. Denn ja, das Dienstgebäude verkauft Werke. Anders als Galerien, die 50/50 mit dem Künstler teilen, gibt das Dienstgebäude einen grösseren Anteil des Preises an die Künstler weiter. Ansonsten finanziert es sich von den Beiträgen Dritter (unter anderen Kanton, Stadt, Pro Helvetia, Migros, diverse Stiftungen und Sponsoren). Auch der Getränkeverkauf an den Vernissagen bringt etwas ein.

Rechts Vinzenz Meyners «Portable Hole» aus u. a. Schuhbändeln, rechts die Stadt Asmara (die modernistische Hauptstadt von Eritrea), von der Künstlerin Aida Kidane aus Silikon gegossen.

Die Kaufmöglichkeit macht die schon zum 9. Mal stattfindende Vorweihnachtsausstellung «Catch of the Year» umso interessentar. Es ist nämlich bereits eine von einem Kenner gefilterte Auswahl von exzellenter Kunst, im Kontrast zu einer Messe eine wichtige Qualität. 100 Künstler, 100 Werke, die Künstler wählen das eigene Werk aus, Marti wählt die Künstler. «Es sind zum Teil Freunde oder Kunstschaffende, die ich schon lange beobachte und gut finde, aber vor allem auch Neuentdeckungen des Jahres.» Klingt unkompliziert und ergibt dennoch als Ausstellung nicht ein Sammelsurium, sondern eher ein angenehm locker geschäumtes Kunst-Soufflé.

Links: Valentina Pini, «Broken Legs», rechts: Rico Scagliola & Michael Meier, «Bundle of Joy».

Mir hat sehr viel in der Ausstellung ausgezeichnet gefallen, und einiges war eine wahre Entdeckung: Impressionen in den Bildern. Ich dachte an eine Diskussion, die ich vor wenigen Tagen in Berlin moderierte, es ging um neue Galerieformen. Maike Cruse, die Chefin des Berliner Galerienweekends, die auch auf dem Podium sass, äusserte ihre Skepsis, ob eine Galerie überhaupt neu erfunden werden sollte. Künstler würden immer Räume brauchen, um ihre Kunst zu inszenieren, sagte sie. Das Gleiche sagt mir an diesem nasskalten Dezembertag Andreas Marti. Und ich denke: Noch mehr als einen Ausstellungsraum brauchen Künstler ein geistiges Zuhause. Wie dieses Dienstgebäude.

Die Kunst-Taliban kommen!

Ewa Hess am Mittwoch den 6. Dezember 2017

Das Jahr 2017 kündigte sich als das «Superkunstjahr» an. Jetzt sind die Grossereignisse hinter uns: die Documenta (alle fünf Jahre), die Biennale (alle zwei Jahre), die Skulpturprojekte Münster (alle zehn Jahre) – und? An allen Ecken und Enden der Kunstwelt hat es geknarzt und geknirscht.

Dabei ist die Kunst, vor allem die schwierige zeitgenössische Sparte, durchaus die Gewinnerin der gegenwärtigen Wertekrise. Ihr Markt ist stark, die Werke sind begehrt. Die angesagten Künstler führen Wartelisten. Gerade dadurch gerät sie unter einen Generalverdacht.

Was so gierig gekauft wird, geht die Argumentation, ist moralisch zweifelhaft. Die hohen Preise, die für Kunst bezahlt werden, scheinen sie zu einem eitlen Luxusgut zu degradieren wie Uhren, Jachten und SUVs. Ausgerechnet die Avantgarde-Kunst gilt jäh als frivol, servil, irrelevant und moralisch angreifbar. Hofkunst der Reichen!

Unter diesen Vorzeichen traten die Kuratoren der grossen Schauen zu einer Ehrenrettung der Kunst an und wollten unbedingt beweisen, dass die Kunst noch kritisch, existenziell und unbequem sein kann. Dennoch wird das Superkunstjahr 2017 als das Krisenjahr der Grossausstellungen in die Geschichte eingehen.

Der Künstler Daniel Chluba (links) und Gleichgesinnte protestierten schon 2014 gegen den Grössenwahnsinn der Documenta. (Bild via Wirwollennichtzurdocumenta14.de)

«Der Himmel hängt so voll von diesen Biestern, Biennalen, Triennalen, Festivals, dass man die Sonne kaum noch durchsieht», schrieben in einem offenen Brief Künstler bereits 2014 an den Documenta-Kurator Adam Szymczyk, und äusserten ihre Unlust, an einem weiteren Grossereignis teilzunehmen. Die Documenta bemühte sich daraufhin redlich, alles andere als Salonkunst zu zeigen – und verkam zu einem seltsamen Jahrmarkt des politischen Aktivismus, der am Ende gerade künstlerisch nicht überzeugte. Die Biennale unter der Leitung der Französin Christine Macel wollte hingegen vor allem die Kunst und nur die Kunst feiern – und versank im Wirrwarr wohlmeinender, doch am Ende harmloser Gesten.

Proteste gegen die Installation des israelischen Künstlers Omar Fast in Chinatown (Bild assamnews)

Die interessanteste Überlegung zu dieser 2017-Misere hörte ich vor wenigen Tagen anlässlich der Kunstkonferenz der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» in Berlin. Wolfgang Ullrich, ein Kunstwissenschafter mit originellen Ideen, sprach dort über einen Rollenwechsel in der Kunstwelt. Und entlarvte ausgerechnet die überpolitisierte «Kuratoren-Kunst» als einen Angriff auf die Souveränität der Sparte.

Ullrich stellte gerade in den westlichen Ländern eine Tendenz fest, gewisse Kunstwerke «in offener Feindschaft und ohne Kompromissbereitschaft» an den Pranger zu stellen. Das Verblüffende daran ist, dass es eben nicht Wutbürger oder Populisten sind, die zu moralisch motivierten Kunst-Taliban mutieren, sondern gerade Intellektuelle und Feuilletonisten.

Blackfacing verboten? Cindy Sherman stellt in ihren Film Stills von 1976 «Bus Riders» nach. (Bilder Storify, ©artist)

Tatsächlich gab es 2017 mehrere Fälle solcher Moralzensur, die für Schlagzeilen sorgten. Cindy Sherman etwa wurde angegriffen, weil in ihren frühen Film Stills von 1976 angeblich die Rollen der Schwarzen klischierter ausgefallen sein sollten als die anderen Rollen, welche die Künstlerin in ihrer bekannten Manier als Fotosujets nachstellt. Unter dem Hashtag #cindygate wurde dazu aufgerufen, diese Werke, die mittlerweile zu den Klassikern der zeitgenössischen Kunst gehören, kurzerhand zu zerstören.

Dana Schutz’ Werk «Open Casket»: War der Shitstorm umso stärker, weil die Künstlerin ihre Werke gut verkauft? (Bild artnetnes)

Die Malerin Dana Schutz wurde angefeindet, weil sie die Ermordung eines schwarzen Jugendlichen darstellte – und das angeblich gar nicht tun durfte, weil ihr dazu als Weisse die Kompetenz fehle. Jimmie Durham wird von den Cherokees gehasst, weil er laut seiner Stammgenossen nicht Cherokee genug ist, um sich als solcher zu bezeichnen. Marina Abramovic soll sich in ihren Memoiren achtlos über die Ureinwohner Australiens geäussert haben, und der Israeli Omar Fast erlebte einen gewaltigen Shitstorm, weil er in Chinatown einen Raum als ein ärmliches Chinatown Environment installierte: Poverty-porn!

«Still Life with Spirit and Xitle» (2007), ein Werk von Jimmie Durham (Bild phaidon)

In dieser Situation, erzählte Ullrich den in Berlin versammelten Kunstkoryphäen, kann ausgerechnet der als unmoralisch verschriene Markt eine kunstfreundliche Gegenposition verkörpern. Weil eben: amoralisch. Also auch nicht moralinsauer. Den Fesseln der politisch korrekten Zensur unzugänglich. «Markt und Kunst», so das verblüffende Fazit, seien in ihrem innersten Wesen verwandt, weil sie eben vom Abenteuer lebten, «in dem die sonst geltenden Konventionen zumindest entkräftet, wenn nicht gänzlich suspendiert werden».

Wolfgang Ullrich an der Kunstkonferenz in Berlin (Bild ewh)

Ich persönlich würde dabei nicht so weit wie Ullrich gehen, der bereits einen schmerzhaften Riss ortet, der die Kunstwelt bald auseinanderreissen könnte: Hier Kuratorenkunst, dort die Exzesse des Marktes. Als ewige Optimistin bleibe ich zuversichtlich, dass sowohl die neuen Taliban, denen die Kritik des Neoliberalismus und der Minderheitenschutz über jedes kunstimmanente Kriterium gehen, als auch die Marktstrategen, die kaltblütig den aufgewärmten Leonardo inmitten der zeitgenössischen Kunst als ein Event verkaufen, eine kurzfristige Erscheinung bleiben. Eine Laune unserer Zeit, die auf der Suche nach einer neuen Identität so etwas wie ein zweites Mittelalter durchmacht. Inklusive heiliger Inquisition und des irrationalen Reliquienhandels.