Die Diebe und die Nacht

Ewa Hess am Mittwoch den 22. November 2017

Nein, es war keine Vollmondnacht. Und doch war die Stimmung im Löwenbräu von einer fiebrigen Aufregung unterfüttert. Selbst Habitués stolperten schon am frühen Abend wie trunken von Saal zu Saal und von Stockwerk zu Stockwerk – an diesem Freitag (17.11.) war so viel los wie selten: «Extra Bodies» im Migrosmuseum! «Theft is Vision» im Luma-Westbau! Und natürlich: «The Night», der jährliche Kunsthalle-Fundraiser! Der asketische Bau glich direkt einem Überraschungsei, oder soll man eher sagen einem Adventskalender? In jedem Stock war eine andere Attraktion versteckt.

 

Kunsthalle feiert – The Night

«Geht es hier zu ‹Theft›?», fragte ich in das Grüppchen am ersten Treppenabsatz hinein.

Seit ich hier in der Kunsthalle mal mit Sturtevant gesprochen habe, der inzwischen verstorbenen mysteriösen Nachahmungskünstlerin, macht mich das Konzept der Appropriation neugierig, also die Technik des konzeptuellen Klauens in der Kunst. Nicht ganz einfach, damit umzugehen. Sturtevant etwa hat mir gegenüber behauptet, dass ihre Arbeit gar nicht Appropriation sei. Andy Warhol hat ihr (der Legende nach) persönlich die Schablonen seiner Blumen-Siebdrucke vorbeigebracht. Der Schweizer Fotograf Hannes Schmid hingegen findet es nicht lustig, dass der US-Künstler Richard Prince seinen für Werbezwecke kreierten Marlboro-Cowboy klaut. Also mal sehen.

Aber offensichtlich war ich zunächst mal nicht im richtigen Stock gelandet: «This is Swiss Institute», rief mir jemand zu. Ich blickte auf, und vor der Türe stand der Direktor des New Yorker Schweizer Fensters, Simon Castets. Simon, ein Franzose, der sich in New York komplett eingeschweizert hat, ist überall ein gern gesehener Gast, ein unermüdlicher Botschafter seines SI. Er winkte mich freundlich, doch keinen Widerspruch duldend, in die Ausstellung herein.

Ich wusste gar nicht, dass das Swiss Institute gerade auch im Löwenbräu gastierte, aber es ergab Sinn. Denn das Swiss Institute ist heimatlos, seit es sein altes Haus an der Wooster Street in New York verlassen hatte und auf die Fertigstellung des neuen an der St Marks Street wartet. Deshalb gibt die Institution zurzeit lauter Gastspiele, genannt SI Offside.

Das alte SI-Haus an der Wooster Street (links) und das neue an der St Marks. Fotos: artnet, selldorf

 

Die SI-Ausstellung von Cooper Jacoby (er ist 28 Jahre alt und lebt in L.A.) war, wie es sich gehört für die wegweisende Institution, so richtig «cutting edge». Mit simplen Mitteln wie Warteschleifenmusik, flackernden Leuchtröhren und zu Monstern umgeformten Notstromaggregaten kreiert der Youngster eine starke Stimmung. Ich musste an Rem Koolhaas denken, der letztes Jahr am Art Summit in Verbier erzählte, dass die künftigen Museen von Maschinen für Maschinen gebaut werden. Der spukhafte Notstrom-Algorithmus Jacobys ist die passende Kunst dazu – sozusagen das «intelligente Haus» auf LSD.

«Disgorgers» oder zu Monstern umgeformte Notstromaggregate von Cooper Jacoby. (Bilder ewh)

Aber jetzt zu «Theft is Vision»: Die Schau ist ein Wurf. Die Innenarchtektin Petra Blaisse (das hat auch wieder etwas mit Rem Koolhaas zu tun, sie ist nämlich seine Lebensgefährtin) hat in den grossen Westbau-Saal eine Galerienflucht eingebaut, mithilfe von federleichten Wänden aus Metallstäben, mit durchsichtiger Schrumpffolie bezogen. Das sieht nicht nur genial aus, sondern passt auch zum Thema. Bei den Werken, die andere Kunstwerke nachäffen, sieht man ähnlich «halb durch» – auf das Werk eines anderen.

«Theft is Vision»: Beeindruckende Schrumpffolie-Architektur, Werke des Briten Dan Mitchell.

Fredi Fischli und Nils Olsen, das bewährte gta-Kuratorenduo, haben hier für den Westbau der Stiftung Luma von Maja Hoffmann eine sehr kluge Schau zusammengestellt, die erst noch brillant aussieht. Der Ausstellungstitel «Diebstahl ist Vision» verkörpert schon mal die These, dass gezielter Diebstahl sehr oft am Anfang der Kreation steht (auf Deutsch würde man das mit dem Sprichwort «gut geklaut ist halb gewonnen» wiedergeben).

Das Vorbild und die Travestie: Hans von Marées, «Die Lebensalter» von 1877 und Mathieu Maloufs Nachbildung aus Kunstharz, 2015.

Mir hat besonders gut die Travestie Mathieu Maloufs gefallen, der einen alten deutschen Ölschinken mit einer Kunstharz-Skulpturengruppe nachstellt. Wenn ich das richtig sehe, sind die Figuren im Zuge des Aneignungsprozesses sogar doppelgeschlechtlich geworden. Da lassen auch die britischen Brüder Jake und Dinos Chapman mit ihrer «Zygotic Acceleration« grüssen. Köstlich.

Denim-Bild von Valentina Liemur (links), die Fontana-Wand von der Seite.

Auch die Fontana-Wand ist ganz stark, in der sich verschiedene Künstlerinnen und Künstler an Leinwand-Schlitzwerken von Lucio Fontana abarbeiten. Da gibt es bewundernde Versionen, etwa von Sylvie Fleury, ironisierende, etwa von Maurizio Cattelan (der ein Zorro-Zeichen schlitzt) oder Verbeugungen vor dem Meister, wie die Denim-Fantasien der Künstlerin Valentina Liemur.

Dann war aber schon Zeit für «The Night» der Kunsthalle. Aus den Räumen drangen ein violettes Licht und der Klang von Champagnerkelchen. Nur die Karomuster-Bahnen an den Wänden erinnern an die laufende Ausstellung «My Plastic Bag» der US-Künstlerin Cheryl Donegan (55). Die Künstlerin ist auch da, bei bester Laune. Sie hat das ästhetische Motto des Abends herausgegeben: «A Touch of Gingham!» (Gingham, erfahren wir alle bei dieser Gelegenheit, nennt sich das kleinkarierte Muster, welches sowohl auf Oxford-Hemden wie auf Küchentüchern vorkommt).

Vollmond-Stimmung in der zum Festsaal umfunktionierten Kunsthalle.

Das muntere Organisationskomitee von «The Night» führt durch den Abend. Dazu gehören nebst dem Kunsthalle-Direktor Daniel Baumann noch drei Damen: Chantal Blatzheim (Kulturkommunikatorin, Sammlerin), Sandra Nedvetskaia (ehemals Christie’s Russland, Khora Foundation) und Martina Vondruska (Modelabel Brand of Sisters). Ein Tischplatz kostet 1000 Franken, der Saal ist voll, und bei der darauffolgenden Versteigerung der gespendeten Werke kommen 110’000 Franken zusammen. Schöner Erfolg!

Künstlerin Donegan in Gingham, Organisations-Komitee der «Nacht»: Direktor Baumann, Damentrio Nedvetskaia, Vondruska, Blatzheim (alle in Donegan-Strampelanzügen).

Um alles transparent zu machen: Ich durfte am Tisch der Galeristin Eva Presenhuber dazusitzen, die als eine pflichtbewusste Bürgerin ihrer Stadt die Kunsthalle mit dem Kauf eines ganzen Tisches unterstützte. Das ist ein gutes Zeichen, denn die für Zürich wichtige Galerie, die viele Schweizer Künstler im Programm führt, hat eine Dependance in New York eröffnet. Gut zu wissen, dass sie sich Zürich nach wie vor verbunden fühlt.

Überraschenderweise trat ein Ballett-Duo auf. Das fanden manche seltsam, denn an einem Kunsthalle-Fest hätte man eher eine schräge Performance erwartet. Doch das Schräge gibt es erst am kommenden Freitag, an der Performance-Nacht der Kunsthalle – fürs Publikum zugänglich. Die wunderbaren Tänzer haben zum Abend gut gepasst – ich fand das Interlude überraschend poetisch.

Elena Vostrotina und Jan Casier tanzen, Sandra Nedvetskaia schwingt den Hammer.

Lauter gute Nachrichten also: Die Kunstmanagerin Sandra Nedvetskaia, die zusammen mit ihrem Mann, dem Star-Auktionator Andreas Rumbler (aktuell ist er Chairman von Christie’s Switzerland) in Zürich lebt, ist selbst eine höllisch geschickte Hammerschwingerin. Sie hat der Kunsthalle für nur sieben Werke (Warren, Eisenman, Das Institut, Kippenberger, Madison, Wekua und ein Plakat von Wade Guyton) immerhin 110’000 Franken ersteigert. Top Lot: Martin Kippenbergers Buntstift-Zeichnung von 1992. Sie ging für 32’000 Franken weg.

Einen Preis gab es auch: Bice Curiger, aus Los Angeles angereist, übergab ihn dem Off-Space Taylor Macklin (links). Rechts eine der Künstlerinnen, die Taylor Macklin betreiben, Michèle Graf.

Der grosse Abwesende des Abends war indes der Verleger Michael Ringier, immerhin seit einem Jahr Präsident der Kunsthalle und bedeutender Kunstsammler. Man rätselte über den Grund seines Wegbleibens – und fragte sich, ob ihm die Affäre um seine langjährige Sammlungsberaterin und ehemalige Kunsthalle-Direktorin Beatrix Ruf etwa zusetzt.

Wie es sich herausstellt, hat die Sache einen viel entspannteren Hintergrund: Michael Ringier weilte mit seiner Frau Ellen, einer Juristin und Herausgeberin des Elternmagazins «Fritz und Fränzi», auf einer vierwöchigen Südamerika-Reise.

 

Louvre trifft Orwell am Golf

Ewa Hess am Mittwoch den 15. November 2017

Der Louvre Abu Dhabi ist eröffnet – und in den internationalen Besprechungen des Events mischt sich Bewunderung mit Skepsis. Offensichtlich hat der französische Architekt Jean Nouvel auf einer künstlichen Insel des Wüstenstaates etwas Grossartiges geschaffen: Einen musealen Komplex von grosser Schönheit und enormer Anziehungskraft. Und doch … Ist das neue Museum wirklich das, was es zu sein vorgibt, nämlich ein Zeichen der kulturellen Verschmelzung der Welten? Der Slogan der Eröffnungsausstellung suggeriert es zumindest, er heisst «See humanity in a different light», «Sieh die Menschheit in einem anderen Licht». Der Osten, der Westen, der Süden, der Norden – wir können einander verstehen. Alles eine Frage des Blickwinkels.

Jean Nouvel zeigt ein Model seines geplanten Baus dem Scheich Sultan bin Tahnoon Al Nahyan. (Bild via Archilovers.com)

Das klingt zunächst nach einer wunderbaren Idee, die zu verbreiten es sich lohnt und die zu Recht mit schönster Kunst seit Menschenangedenken propagiert wird. Doch es gibt auch eine andere Lesart von Nouvels filigran geklöppeltem Stahldach (180 Meter Durchmesser, 7000 Tonnen Stahl): dass etwa die nationale Ölindustrie der Vereinigten Arabischen Emirate ein kulturell verbrämtes Symbol ihres globalen Machtanspruchs errichtet hat.

Die Frage folgt darauf: Macht sich ein Architekt, der solches möglich macht, zum «Handlanger der Repräsentationsbedürfnisse eines undemokratischen Regimes» (FAZ)? Hat Frankreich, das dem Emirat für eine Milliarde Euro erlaubt, den Namen Louvre mindestens 30 Jahre lang zu vermarkten und Leihgaben aus 13 französischen Museen zu zeigen, tatsächlich die «Seele des Louvre verkauft», wie es in den französischen Medien seit dem Zustandekommen des Deals so oft hiess?

Grossartig, doch nicht einem demokratischen System entsprungen: Pyramiden, Basilius-Kathedrale. (Bilder via Pinterest)

Vielleicht, auch wenn es so etwas wie «mildernde Umstände» gibt: Einerseits haben viele grossen Gebäude der Welt einen ähnlichen Hintergrund. Von den ägyptischen Pyramiden bis zur Basilius-Kathedrale in Moskau: Grossartige Bauten sind selten dem demokratischen Gedanken entwachsen. Zudem konnte bisher kaum eine erfolgreiche kulturelle Institution der Versuchung widerstehen, ihr Know-how in einem der neuen reichen Staaten gewinnbringend zu versilbern. Etwa das Londoner Victoria and Albert im chinesischen Shenzhen, oder die New Yorker Universität, die seit 2010 Studenten in Abu Dhabi ausbildet.

Ein ganzes Museumsdorf unter einem gigantischen Dach: Jean Nouvels Weltwunder-Bau in Abu Dhabi. (Bild @Abu Dhabi Tourism & Culture Authority)

Unter der lichtdurchlässigen Kuppel ergiesst sich ein «Lichtregen». @bcc

Es ist andererseits eine bekannte Tatsache, dass der Umgang Abu Dhabis mit Rechten wie freier Meinungsäusserung, Minderheitengleichstellung oder Frauenbeteiligung nach wie vor auf einem unbefriedigenden Niveau dümpelt. Dass Frauen aus den herrschenden Königsfamilien oder Töchter von hohen Funktionären eine Karriere als Kuratorinnen und Kunstkäuferinnen machen können, ändert eigentlich nichts an der Tatsache, dass den meisten anderen Frauen kein Weg der Entfaltung offensteht.

Im Louvre Abu Dhabi ist im Übrigen ein Franzose der oberste Boss, er heisst Manuel Rabaté (41), er ist ein hochkarätiger Museumsfunktionär, früher CEO der Agence France-Muséums. Seine Stellvertreterin hingegen gehört zum oben erwähnten Typus: Hissa Al Dhaheri, hoch gebildete Tochter einer angesehenen Business-Familie, mit Diplomen von der Zayed University in Abu Dhabi und der Exeter-Uni in England.

Direktor Manuel Rabaté, Stellvertreterin Hissa Al Dhaheri. (Bild: ©Abu Dhabi Tourism & Culture Authority)

Die ganz grossen Zweifel, muss ich sagen, beschleichen mich persönlich erst, wenn ich die zur Eröffnung des Museums bereitgestellten Werbematerialien sehe. Da ist eine Ästhetik am Werk, die nach Entlarvung schreit. Zum Beispiel das unten eingeklinkte Filmchen der obersten touristischen Behörde, welche die Kulturinsel Saadiyat beaufsichtigt. Schauen Sie sich das an – schöne, verklärte Menschen aller Rassen, die durch eine künstliche Welt mit einem Lächeln auf den Lippen schreiten, als ob sie unter der Einwirkung stark sedierender Drogen stünden.

Dieses Bildersprache kenne ich gut – aus dystopischen Horrorfilmen! Aktuell ist gerade «Blade Runner 2049» im Kino. Würde diese Sequenz aus einem ähnlichen Kinofilm stammen, könnte man sicher sein, dass unter dem künstlichen Paradies irgendwo eine russige, dunkle Welt zum Vorschein kommt, in der sich schlecht gehaltene Arbeitssklaven von Insektenbrei ernähren.

Das «beschützende» Dach wirkt auch bedrohlich: Als ob sich ein UFO aus «Independence Day» oder zumindest eine dunkle Wolke auf dem Museum niedergelassen hätte. Rechts sieht man die Silhouette des Architekten. (Bilder: AP, AFP)

Das Schlimme ist: Diese andere, schlechtere Welt existiert tatsächlich in Abu Dhabi. Seit an den vielen neuen Projekten auf der Insel gebaut wird (Nebst Louvre waren da noch die New York University, Gehrys Guggenheim und Zaha Hadids Performative Arts Center, die beiden letzteren aufs Eis gelegt), jagen sich die Nachrichten von der misslichen Lage der meist aus Pakistan und Indien stammenden Bauarbeiter. Sie werden von zwielichtigen Agenten in ihren Heimatländern angeworben (durch das sogenannte Kafala-System), bei der Ankunft wird ihnen der Pass abgenommen, ihre Arbeitsstunden spotten allen Sicherheitsbedenken (es gab schon Unfalltote), die Unterkünfte sind dürftig.

Arbeiterunterkünfte an der Baustelle der New York University Abu Dhabi vor vier Jahren (links) und im Vorzeige-Arbeiterdorf auf der Saadiyat-Insel. (Bilder: The National)

Abu Dhabi hat zwar auf die Protestaktionen von Aktivisten wie dem US-Soziologen Andrew Ross und der Organisation Gulf Labor Artists Coalition reagiert und das geltende Arbeitsrecht verbessert. Im Prinzip sind jetzt die Honorare für Anwerbung verboten, und auf der Insel Saadiyat ist ein Arbeiterdorf errichtet worden, das ein Minimum an menschenwürdiger Lebensführung sichert. Und doch – Kafala existiert trotzdem weiter, die Arbeitsstunden sind immer noch zu lang, und Proteste enden oft in einer sofortigen Ausweisung aller Störefriede.

Protest gegen menschenunwürdige Arbeitsbedingungen der Bauarbeiter in Abu Dhabi – Gulf Labor Artist Coalition während der Biennale in Venedig. (Bild: GLAC)

Für die Eröffnung wurden Künstler aus allen Ländern um Auftragsarbeiten gebeten: Jenny Holzer hat Schöpfungsmythen in die Wände gemeisselt, Giuseppe Penone einen Baum errichtet, Ai Weiwei einen Kristallturm entworfen. In den Sälen des Museums geht es um die Verbrüderung der Völker. In zwölf Galerien erzählen sie die Geschichte der Menschheit, von den Anfängen, der Gründung der ersten Dörfer etwa 4000 vor Christus, bis heute. Die Bibel, der Koran, die Thora liegen friedlich nebeneinander und zeugen von der Verwandtschaft der Religionen. Sie sollen eine Öffnung demonstrieren.

Doch Öffnung? Wie ein Hohn wirkt dazu das Inzident, das der Crew des Westschweizer Fernsehens während der Berichterstattung über die Louvre-Eröffnung widerfuhr. Der Journalist Serge Enderlin und sein Kameramann Jon Bjorgvisson wurden verhaftet, weil sie einen Markt in der Nähe des Museums filmten. Zehn Stunden Verhör ohne Kontakt zur Aussenwelt folgten. (Die beiden sind jetzt wieder in der Schweiz zurück). Dabei waren sie korrekt akkreditiert.

Römische, asiatische, afrikanische Köpfe: Sind wir alle Brüder und Schwestern? (Bild: Louvre Abu Dhabi)

«Soft power» nennen die Diplomaten am Golf die Aufrüstung der kulturellen Kompetenz der Gegend. So sagt etwa Zaki Anwar Nusseibeh, ein aus Palästina stammender Golf-Diplomat, dass es «nicht mehr genügt, militärische und ökonomische Macht auszubauen». Es sei ebenso wichtig, zu zeigen, dass man fähig sei, die gleichen Werte zu teilen. Wie richtig! Wie heisst schon wieder der Slogan des Museums? Es wäre tatsächlich an der Zeit, die Menschlichkeit am Golf in einem neuen Licht erstrahlen zu lassen.

Die Sache mit der Macht

Ewa Hess am Mittwoch den 8. November 2017

Listen, höre ich seit einigen Jahren, sind soooo Nineties! Darum wohl werden diverse Kunstlisten nicht mehr so stark beachtet. Es gibt ihrer viele, zum Beispiel die wichtigsten Sammler weltweit, die aussichtsreichsten jungen Künstler, die einflussreichsten Kuratoren etc. etc. Nur diese eine Liste, Art Power 100, hat sich halten können und hat sogar seit ihrer ersten Ausgabe 2002 noch an Bedeutung gewonnen. Soeben ist die 2017 Power 100 veröffentlicht worden – und hat ein erhebliches Rauschen quer durch die Kanäle verursacht. Warum?

Die Herrscher über den Weltgeist: v.l.n.r. Donna Haraway, Pierre Huyghe, Hito Steyerl. Fotos: Asunow, Interview, Dismagazine

Das könnte am Namen liegen – die Machtliste. Die Macht ist auch in transparenteren Welten als derjenigen der Kunst an sich etwas Geheimnisvolles. Warum ist jemand mächtig? Worin äussert sich seine Macht? Wie hat diese Person sie erworben? In der Kunst sind diese Fragen besonders spannend, denn niemand versteht so richtig, wie dieses System funktioniert. Es geht ums Geld, aber dann doch nicht, denn die Werke, die gekauft und verkauft werden, entfalten ihre Kostbarkeit durch einen geheimnisvollen Mechanismus. Sie sind anziehend, komplex, schön oder hässlich, aktuell oder allgemeingültig. Warum ist jemand mächtig in der Welt der Kunst? Geht es um die Herrschaft über die Seelen oder über die Portemonnaies?

Ein Werk Hito Steyerls. Foto: publicseminar.org

Gerade diese Dichotomie hat die Liste der Zeitschrift «Art Review» besonders gut in den Griff bekommen, und deshalb – so geht meine Behauptung – ist diese Liste dazu geeignet, den Kampf zwischen Geld und Geist, der innerhalb der Kunstwelt tobt, auf eine 100-Punkte-Formel zu bringen. Ich sage hier Kampf, aber vielleicht ist es eher eine Symbiose. Das Geld kauft den Geist, und der Geist bleibt trotzdem der Herrscher. Zumindest im Idealfall.

Ein Werk Pierre Huyghes, das an der Documenta 13 (das war die vorletzte, 2012) für Aufsehen sorgte: Eine Skulptur mit Bienenstock am Kopf. Foto: Documenta

Die aktuelle Liste, wir haben es schon überall lesen können, bringt einen Paradigmenwechsel mit sich. Auf den drei ersten Positionen stehen die Namen von zwei engagierten Künstlern und einer feministischen Philosophin. Alle drei Namen: Hito Steyerl, Pierre Huyghe und Donna Haraway, stehen für die «helle» Seite der Macht, wenn der schnöde Mammon die dunkle sein sollte. Oliver Basciano, einer der Herausgeber der seit 1949 in London erscheinenden Zeitschrift «Art Review», welche die Liste erstellt, kommentiert diese «Erschütterung der Macht» so: «Das ist auch eine Rückversicherung, dass es verschiedene Mächte in der Kunstwelt gibt», sagt er. «Die eine Macht ist sicher das Geld, aber es gibt auch die intellektuelle, aktivistische und politische Macht.»

Das oberste Powertrio 2014 bestand noch aus einem Superkurator und drei Galerie-Giganten: v.l.n.r. Nicholas Serota, Iwan und Manuela Wirth, David Zwirner. Fotos: «Telegraph», «Independent», Artnet

Hito Steyerl lässt sich zum Beispiel von keiner Galerie vertreten, ihre an Computergames erinnernden Videos und Installationen sind nicht selten gesellschaftskritisch. Sie denkt aber mit ihrer Arbeit über das Verhältnis von Mensch und Maschine nach, ein Thema, das mit der Erstarkung der Robotik sicher unsere Zukunft prägen wird. Pierre Huyghe hat in seiner Arbeit an der Aussstellung «Skulptur Projekt Münster» in einer verlassenen Eissporthalle ei­ne Mondlandschaft entstehen lassen und sie mit Pfauen, Bienen und Krebszellen belebt. Das Verhältnis des Menschen zu den Tieren, zu seiner Umwelt – das sind oft Themen, welche seine Sensibilität beschäftigen. Auch die von Donna Haraway, der 73-jährigen US-Philosophin, die Genderforschung betreibt.

Wirklich weniger einflussreich? Gerhard Richter und eins seiner abstrakten Bilder. Fotos: Artnet, Pinterest

«Es gibt weiter die wichtigen und grossen Galeristen auf der Liste, und auch grosse Sammler sind noch da», sagt Basciano und schüttelt wissend den Kopf, wenn er darauf angesprochen wird, dass der deutsche Maler Gerhard Richter nicht mehr auf der Liste vorkommt – hm, er sei vielleicht weniger einflussreich geworden. Aber Moment, wie kommt diese Liste eigentlich zustande? Wer sind die strengen Juroren, welche über Macht oder Ohnmacht in der Kunstwelt urteilen, und aufgrund welcher Kriterien?

Die «Art Review» und ihre «mächtigen» Redaktoren Mark Rappolt und Oliver Basciano. Fotos: Artnet, Pinterest

Schaut man genauer nach, staunt man – die Liste wird von 20 Menschen bestimmt, die anonym bleiben. Die Zeitschrift legt Wert darauf, dass die Juroren nicht miteinander sprechen und aus verschiedenen Weltteilen stammen. Mehr wird über ihre Identität nicht verraten. Allerdings – und das ist doch bemerkenswert – werden sie jedes Jahr neu von der Redaktion der «Art Review» ausgewählt. Und gewisse Redaktionsmitglieder sitzen auch in der Jury.

Nun ist die «Art Review» bestimmt eine sehr honorige Zeitschrift. Gegründet in den Nachkriegsjahren, hat sie in ihrer langen Existenz sowohl gute Standards wie auch eine gute Durchmischung zwischen akademischen Beiträgen und Künstlerporträts behalten. Ihre gegenwärtigen Chefredaktoren, Mark Rappolt und David Terrien, sind weltweit angesehene Experten. Und doch … Manchmal erscheint einem die Liste doch etwas mehr ein politisches Statement zu sein als eine möglichst wirklichkeitsgetreue Zustandsbeschreibung. Zum Beispiel damals, als die Zeitschrift Ai Weiwei auf die Spitze hob und dafür einen Rüffel von der chinesischen Regierung einkassierte.

Der Geist regiert: Werke von Pierre Huyghe (links) und Hito Steyerl. Fotos: Documenta, Biennale

Wishfull thinking, vielleicht, Kollegen? Wenn man die Jury auswählt, kann man schon auch gewisse Weichen stellen, schliesslich weiss man ungefähr, wer was denkt. Und sprechen die Juroren nicht miteinander, so werden sie doch alle mit ihrem Verbindungsmann bei der Redaktion reden. Lasst mich mal raten: Basciano? Aber mir soll es wirklich recht sein. Und ich bete es der «Art Review» nach: Die Erschütterung der Macht hat stattgefunden. Der Geist regiert.