Blösse unter dem Hammer

Ewa Hess am Mittwoch den 20. September 2017

Das ist vielleicht eine Überraschung! Thomas Koerfer, der Sammler mit dem sinnlichen Auge, trennt sich von seinen fotografischen Blue Chips. Da ist sich Christie’s ganz sicher. Mit stolz geschwellter Diktion berichtet das Auktionshaus, am 9. November in Paris DAS Werk verkaufen zu dürfen: «Noire et Blanche» von Man Ray, entstanden 1926. Aus der Sammlung von Thomas Koerfer. Tatsächlich scheint ein grosser Teil der Fotografien Koerfers in dieser Versteigerung unter den Hammer zu kommen. Nicht weniger als 74 Lose. Die insgesamt eine schöne Summe einbringen könnten. Allein Man Rays Frau mit Maske wird auf bis anderthalb Millionen Euro geschätzt.

Ein Foto aus Nobuyoshi Arakis Serie «Bondage», ein Teil von Thomas Koerfers Sammlung. (Bild: courtesy Araki)

Die Sammlung Thomas Koerfers ist hierzulande alles andere als unbekannt. 2015 stellte sie das Kunsthaus Zürich unter dem poetischen Titel «Sinnliche Ungewissheit» aus. Da ist ein Verkaufshaus wie Christie’s weniger zimperlich, man nennt den Verkaufsabend etwas zupackender «Stripped bare», was so etwas wie «Entblösst» heisst. Den Titel hat man allerdings dem Buch entliehen, welches 2004 zu Koerfers Sammlung erschien (Hgb: Marianne Karabelnik). Denn die Sammlung Koerfers, zu der nicht nur Fotos, sondern auch ganz viele Kunstwerke gehören (die in der Christie’s Sale im November nicht veräussert werden, oder sollte man sagen: noch nicht veräussert werden?), hat es in sich. Den Sammler interessiert es, wie weit ein Kunstwerk selber zu einem Träger erotischer Spannung werden kann. Eine heisse Sache.

Andy Warhols «Blue Movie», ursprünglicher Titel «Fuck», auch in der Sammlung Koerfer, gelangt im November nicht zum Verkauf bei Christie’s. (Bild: Screenshot)

Wie heiss, zeigt folgende Anekdote: Das Kunsthaus musste damals die Ausstellung hinter verschlossenen Türen inszenieren. Darauf stand: Zutritt ab 16 Jahren. Ich selbst war damals mit einer Gruppe Teenies drin, es gab sehr viel Gekicher. Dabei: Bis die heutigen Teenies verlegen kichern, braucht es bekanntlich einiges. Ich deutete das damals positiv in meiner Kurzbesprechung – dass nur gute Kunst diese fast unerträgliche, nach Übersprungshandlung verlangende Spannung vermitteln kann. Die Pornografie schlägt diese ja tot.

Man Ray (1890–1976), Noire et Blanche, 1926, Schätzpreis: € 1’000’000–1’500’000 (via Christie’s, © Pro Litteris).

Das Man-Ray-Foto, das zu verkaufen Christie’s nun so stolz ist, ist zwar kein gutes Beispiel für diese supersinnliche Qualität. Es ist sublim, leise, dafür exquisit erotisch. Wir sehen den Kopf der berühmten Kiki, der Muse der Künstler von Montparnasse, und ihre Hand, die eine afrikanische Maske hält. 1926 entsprach das Motiv genau dem, was gerade angesagt war: das unergründlich Weibliche und das unergründlich Exotische. Wussten Sie, dass der berühmte Spruch Freuds von der Psyche der Frau als einem «dunklen Kontinent» genau aus dem gleichen Jahr wie das Bild stammt? 1926 nämlich. Nur wenige Jahre zuvor hat der Forschungsreisende Henry Mor­ton Stan­ley den Begriff «dark continent» überhaupt geprägt. Er meinte damit natürlich Afrika.

Kiki de Montparnasse – links in einer zeitgenössischen Fotografie, etwas weniger glamourös den Kopf auf die Tischplatte stützend, rechts in einer weiteren berühmten Inszenierung von Man Ray: «Le violon d’Ingres». (Bilder: L’oeuil de la Photographie, © Pro Litteris)

Kiki de Montparnasse, eigentlich Alice Prin, war selber Künstlerin, Performerin, eine Figur mit Charakter. Auf «Noire et Blanche» erscheint sie vor allem als eine Chiffre – das strahlend weisse Gesicht neben der tiefschwarzen Maske. Ihre Augen sind zu, ihre Haut schimmert, die dünnen Augenbrauen zeigen wie kühne Ornamente nach oben. Ein grossartiges Bild. Dieser Vintage Print gehörte übrigens zuerst Jacques Doucet, einem raffinierten Modedesigner in Paris dieser Jahre. Zusammen mit den Desmoiselles d’Avignon von Picasso. Eine Provenienz, die den alten Fotoabzug zusätzlich adelt.

Diane Arbus’ Zwillinge aus Roselle in New Jersey – der Vintage Print wird auf eine halbe Million Euro geschätzt. (Bild: Christie’s)

Ausser der «Noire et Blanche» verkauft Christie’s noch einige Schätze aus der Fotoschatzkiste Koerfers: die identischen Zwillingsmädchen aus Roselle, New Jersey, von Diane Arbus (geschätzt auf eine halbe Million Euro) und zeitgenössische Werke von Thomas Ruff, Cindy Sherman, Nobuyoshi Araki, Robert Frank, Francesca Woodman oder Paul Outerbridge. Ach, möchte man da sagen. Lauter Meisterwerke – und man ist gerade nicht so supergut bei Kasse.

Warum verkauft Koerfer? Der geschätzte Filmregisseur und Sammler (73) stammt aus einer begüterten Familie. Sein Vermögen wird auf etwas zwischen 100 und 200 Millionen geschätzt. Bestimmt kann sich Thomas Koerfer den einen oder anderen Wunsch erfüllen, ohne die Blue Chips seiner Sammlung zu verscherbeln. Aber vielleicht ist es Familientradition? Sein Vater Jacques, Zigarettenfabrikant, BMW-Teilhaber, Financier und Liebhaber von Kunst der klassischen Moderne, hat die von ihm zusammengebrachte Sammlung von Mondrians, Manets, Van Goghs usw. auch bei Christie’s versteigern lassen. Er wollte nicht, dass sich seine acht Kinder um die Werke streiten. Allerdings hat er den Verkauf testamentarisch verfügt, damit er erst nach seinem Tod geschehe. Die Auktion fand 1990 statt und erbrachte 158 Millionen Dollar.

Thomas Koerfer mit Partnerin und Galeristin Frédérique Hutter (Galerie Katz Contemporary) vor zwei Wochen auf dem Cover einer «NZZ am Sonntag»-Beilage.

Tillmans’ Offenbarungen

Ewa Hess am Mittwoch den 13. September 2017

Es gibt einen Saal in der Ausstellung von Wolfgang Tillmans in der Fondation Beyeler, der mich verblüfft hat. Da sieht man Bilder von offenen Kopiergeräten, aus welchen ein mystisches Licht nach aussen dringt. Im gleichen Saal sieht man auch ein Bild von einem rot und rosa aufglühenden Himmel – interessante Inszenierung. Ich schaute mir diese Saalinstallation kurz vor dem Artist Talk mit Tillmans in Riehen an. In diesem Saal erschienen Kopierer, diese allzu prosaischen Geräte, fast wie Boten einer anderen Welt.

Was: Artist Talk mit Wolfgang Tillmans, organisiert von Fondation Beyeler und UBS
Wann: 7. September 2017
Wo: Fondation Beyeler in Riehen (Die Ausstellung dauert nur noch bis 1. Oktober – don’t miss)

Übersinnliche (und sehr sinnliche) Kleidungsstücke: Wolfgang Tillmans, «Faltenwurf, shiny», 2001, und «Sportflecken», 1996, Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne (Fotos: Maureen Paley, London, David Zwirner, New York)

Und wie das manchmal einfach so, ohne Vorwarnung, passiert, haben diese Kopiererbilder meinen Blick auf das Werk des deutschen Fotokünstlers in eine ganz neue Bahn gelenkt. Ich dachte nämlich bisher an Tillmans als an einen vor allem sozial interessierten Fotografen. Und sah seine Werke als Erzählungen, Geschichten von Menschen und ihren Lebenszusammenhängen. Auch die abstrakten kann man so lesen! Als Spuren des Lebens.

Doch die Kopierer und auch die ganze Anordnung der Ausstellung in Riehen zeigten in eine etwas andere Richtung. Als ob es nicht nur um die Menschen und ihre Welt darin ginge, sondern um etwas mehr. Um was? Vielleicht um eine unsichtbare Aura (Walter Benjamin sprach von einer solchen). Mystiker aller Couleur ahnten eine «Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit» (auch der grosse britische Kunstdeuter John Berger).

Wolfgang Tillmans, dachte ich im Zug auf der Heimreise, ein Mystiker des technologischen Zeitalters? Ein Anti-Benjamin?

Wolfgang Tillmans, «Kopierer», e, 2010, und «Kopierer», a, 2010 (Photo courtesy Tillmans and Fondation Beyeler)

Wir erinnern uns, Walter Benjamin, der deutsche Philosoph im Pariser Exil, schrieb seinen berühmten Aufsatz «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» 1935, da war Faschismus in seiner Heimat so weit erstarkt, dass die visionären Köpfe einen nahenden Krieg für unausweichlich hielten. Benjamin hat in dem Aufsatz die technische Reproduzierbarkeit der Kunstwerke mit dem Aufkommen einer neuen Zeit zusammengedacht.

Die Kernaussage geht dahin (aber ich weiss, den Aufsatz kann man endlos deuten), dass unter den Bedingungen der technischen Produktion von Kunst (also in der Fotografie und im Film) die Aura des Kunstwerks «zertrümmert» werde. Dadurch komme es zu einer Emanzipation der Kunst, die aus ihrer kultischen (oder religiösen) Rolle befreit werde, die ja sowieso nur dienend war. Sie, die Kunst, erleide dadurch zwar einen Prestigeverlust, könne aber fortan für praktische Funktionen wie z. B. die Dokumentation der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der modernen Massen verwendet werden. Der Nachteil dabei: sie wird manipulierbar (siehe die faschistische Ästhetisierung der Politik).

Artist Talks ist ein Programm der Fondation Beyeler und von UBS. Wolfgang Tillmans im Gespräch mit Kuratorin Theodora Vischer. (Foto: Matthias Willi)

Und nun sass ich im unteren Saal der Fondation Beyeler dem grossen, ruhig sprechenden und klar formulierenden Deutschen gegenüber, der von seiner Kuratorin sanft befragt wurde. Von meinem Erlebnis in der Ausstellung oben sensibilisiert, sah und hörte ich auch hier lauter Hinweise auf diese neue Sicht. Tillmans sprach etwa vom «Wunder der fotomechanischen Medien». Keine reproduzierende Klappertechnik klang da heraus, wir waren mitten in einer durchaus kultischen Metaphorik.

Und als ob das des Numinosen nicht genug wäre, doppelte der Künstler nach, mit der während des Fotoprozesses stattfindenden «Verwandlung» – weil das Bild im «richtigen» fotografischen Prozess wie aus dem Nichts auf dem chemisch vorbehandelten Träger erscheint. Ich dachte über die übersinnlich strahlenden Kopierer, über die barocken Faltenwürfe der hundskommunen T-Shirts nach, und auch daran, dass mit dem Wort Verwandlung wir schon ganz nah an der Transsubstantion der katholischen Messe waren, in der sich ja Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu verwandeln.

Weder spontan noch gestellt: Wolfgang Tillmans, Lutz & Alex on beach, 1992

Tatsächlich, wenn man Wolfgang Tillmans so vor sich sieht, kräftig gebaut, mit Turnschuhen und seinem grossen, lachbereiten Mund, dann hat man manchmal Mühe, ihn mit der Behutsamkeit seiner Bilder zusammenzudenken. Im Gespräch mit Frau Vischer kam aber so deutlich wie selten zutage, wie suchend  Tillmans’ Schaffen ist. Stets sich selbst, seinen Objekten und seiner Kamera misstrauend, tastet er sich vorsichtig an Bilder heran, die weder spontan noch beabsichtigt sein sollen.

Bei Porträts, sagte er einmal im Verlauf des Gesprächs, würde er versuchen «die Kamera wegzurechnen». Distanznahme als ein Weg zur höheren Erkenntnis. Da war er wieder, der Anti-Benjamin. Hat doch der Pariser Flüchtling von damals gerade in der «eindringenden» Art der Kamera den Unterschied zu der ruhigen Distanziertheit der früheren Porträt-Maler gesehen.

Wolfgang Tillmans in der Fondation Beyeler. (Foto: Matthias Willi)

Den Fotografien Wolfgang Tillmans kommt von vielen Menschen eine fast schon familiäre Zuneigung entgegen. Was zeichnet aber seine Bilder eigentlich aus? Er ist keiner, der einen ausgeprägten «Stil» hätte. Er fotografiert alles und wechselt souverän zwischen gänzlich abstrakten und sehr konkreten Motiven ab.

«Der Kunstwille ist der grösste Feind des Künstlers», sagt er mit seiner ruhigen Stimme während des Talks und horcht diesen Worten kurz nach. Der Künster ist  also ein Werkzeug einer höherer Macht? Hinter Tillmans  ist seine «Concorde»-Serie an die Wand gepinnt. Das Flugzeug erscheint auf diesen nicht ganz scharfen Blättern wie ein Besucher aus einer anderen Welt am Himmel – und verschwindet. Auch so eine Tillmans-Offenbarung.

Bedrohte Schönheit: Tillmans’ Bild «Ostgut-Freischwimmer» left, 2004

Zum ersten Mal wird mir in dieser Ausstellung und in diesem Talk klar, was dem modernen Fotografen Tillmans mit seinen manchmal atemberaubend schönen und manchmal irritierend chaotischen Bildern gelingt: Er schenkt dem technisch Reproduzierten die Aura des Kunstwerks wieder.

Für diese Interpretation spricht auch die Art, wie er seine Fotografien ausstellt. Mal solide gerahmt, mal als ungeschütztes Blatt an der Wand zitternd. Er habe so viel Respekt vor dem Blatt, gesteht er im Gespräch. Die Schönheit komme bedroht nun mal besser zur Geltung. Doch die Reinheit überlebe in einem Rahmen besser (falls ich mich richtig erinnere, ist sein Wort nicht «Reinheit», sondern «Purheit»).

«Concorde» 1997

Die Concorde-Serie, längst ausverkauft, habe er nie wiederauflegen wollen. Er erzählt die Geschichte ihrer «Verwaschenheit» – er habe aus Spargründen die Fotoflüssigkeiten so lange gebraucht, bis sie ganz erschöpft waren. Die Concorde-Bilder wurden mit solchen «müden» Flüssigkeiten entwickelt, sodass die Schwarztöne lila erschienen.

Dann trägt Tillmans seinen eigenen Text zur Serie vor: Concorde sei ein «supermoderner Anachronismus und ein Bild für den Wunsch, Zeit und Entfernung durch Technologie zu überwinden». Er sagt nicht «den vergeblichen Wunsch», doch dieses Adjektiv schwingt im Satz mit. Sage ich doch, die Benjamin’sche Aura. Wie heisst das im Aufsatz genau? «Einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.» Sie ist wieder da.

Alles Gerüchte – aber was für welche!

Claudia Schmid am Mittwoch den 6. September 2017

Die Berner sind pünktlich! Schon vor 18 Uhr, dem offiziellen Beginn der Vernissage, formiert sich vor der Kunsthalle eine ziemlich lange Schlange, die darauf wartet, dass sich die Türen öffnen. Auf dem Dach – die Wartenden sehen nichts davon – hat die Ausstellung bereits begonnen: Ein Astronaut raucht vor sich hin. Einen Joint? Stärkeres?

Was: Eröffnung der Ausstellungen «Sie sagen, wo Rauch ist, ist auch Feuer» und «Séction Littéraire» in der
Wo: Kunsthalle Bern (zweiter Teil der Ausstellung im Kunsthaus Glarus)
Wann: Freitag, 12. August, Ausstellung bis 1. Oktober

Astronauten-Performance auf dem Dach, Werk von St. Bernard, Rex, 1990. Bilder CS/KHB

Die Astronauten-Performance heisst jedenfalls «High» und führt ins Thema der Ausstellung ein: «Sie sagen, wo Rauch ist, ist auch Feuer», heisst sie, und es soll darin um Gerüchte gehen. Gerüchte etwa, die über Künstler(innen) und deren Identität gestreut werden. So weiss auch niemand, welcher Künstler oder welches Kollektiv hinter dem Astronauten steckt. Man kennt nur den Namen: Puppies Puppies.

Puppies Puppies: Der Künstler ohne Hirn oder das Kunstwerk mit mehreren Namen. Bilder: CS

Von Puppies Puppies stammt auch die Leiche aus Latex, dem Hingucker auf dem Boden des grossen Ausstellungsraums. Der Schädel des Toten ist offen und leer, ohne Hirn. Etwas eklig ist das und rätselhaft, und der gleich mehrfache Werktitel, auf den da angespielt wird, schürt Gerüchte: «Untitled (portrait of the artist with no brain) (portrait of the artist after brain surgery) (Sylar (Zachary Quinto) brutally kills Isaac Mendez) (Heroes tv show prop) (Duane Hanson – murdered artist).» Nicht einmal Valérie Knoll, die 39-jährige Direktorin und Kuratorin der Ausstellung, sagt, sie wisse – trotz Mailkontakten –, wer hinter Puppies Puppies stecke.

Ausstellungsexponat Umfrage: Die anonyme US-Künstlerinnen-Gruppe Guerilla Girls (sie treten immer in Gorilla-Masken auf) kämpft seit 30 Jahren gegen sexistische Sammlungs- und Anstellungspolitik der Kunstmuseen. Bild: KHB (Kunsthalle Bern)

Sie hätte, sagt sie während der Eröffnungsrede, auch mit einer Gorilla-Maske über dem Kopf die Ansprache halten können (womit sie auf die in der Ausstellung vertretene Künstlerinnen-Gruppe Guerilla Girls anspielte), um ihr Ich zum Verschwinden zu bringen, wie das gewisse Künstler täten. Allerdings hätte sie dann Judith Welter, die Direktorin des Kunsthauses Glarus, nicht erkannt. Dass sich die beiden erkannten, um sich gemeinsam an der Eröffnung zu freuen, war an diesem Abend essenziell, denn für die Ausstellung haben sie zusammengespannt. So kann man parallel zur Berner Ausstellung auch in Glarus in die Gerüchteküche eintauchen. Nicht gerade um die Ecke, aber warum nicht?

Macherinnen (links): Judith Welter vom Kunsthaus Glarus (ganz links), Valérie Knoll von der Kunsthalle Bern. Beucher (rechts): Galeristin Isabelle Bortolozzi aus Berlin und Künstler Danny McDonald, der in der Ausstellung vertreten ist. Bilder: CS

Während der Fokus in Bern vor allem auf Künstlerinnen und Künstlern liegt, die ihre Identität hinter Pseudonymen verstecken, konzentriert sich die Ausstellung in Glarus auf Kunstwerke, die ihre Wirkung durch eine gerüchteartige Verbreitung entwickeln. Seltsame Nebenwirkung: Plötzlich ist man selbst ein wenig elektrisiert, was Gerüchte anbelangt. Stimmt es wirklich, dass Sophie Hunger da ist? Tatsächlich, da huscht sie mit einer Kollegin durch die Räume (sie will dann aber nicht fotografiert werden. Und so bleibt die Behauptung, dass sie da war, fast nur ein Gerücht).

Installationsansicht: Guerilla Girls, «It is even worse in Europe», 2016. Bild KHB

Sowieso tauchen an diesem Abend viele Berner Künstler auf – aber weniger bildende Künstler, sondern singende, dichtende, schreibende: Neben Hunger sind auch die Autoren Jürg Halter und Tom Kummer anwesend. Letzterer steht lange rauchend vor der Kunsthalle und erklärt grad einem Gast, dass hier der grosse Kurator Harald Szeemann tätig war. Als ihn der Gast fragend anschaut, erklärt er ihm, WER Szeemann war – oje!

Aussteller und/oder Gäste: Erklärer Tom Kummer und Dichter Jürg Halter (Kutti MC) mit der Berner Museumsdirektorin Nina Zimmer. Bilder: CS

Kummer ist, wie sich herausstellt, nicht nur zum Aufklären da, er hat auch bei der Ausstellung der bald 100-jährigen Kunsthalle mitgewirkt. Er, der mit erfundenen Interviews Medienskandale ausgelöst hat, schrieb für die Ausstellung ein Interview mit einer – wen wunderts – fiktiven Person namens Tracy, die für ihn den Marktwert der in Bern ausstellenden Künstler analysiert.

Migros-Museum-Kurator Raphael Gygax mit Amy und David Bossert, Kunstsammler aus Paris, dem das Bild von Philippe Thomas gehört, das an der Wand hängt. Bilder: CS

Nicht ausstellen tut Peter Fischli, der an diesem Abend mit seinem Grosskind durch die Räume huscht. Fischli ist Teil einer recht grossen Gruppe, die aus Zürich angereist ist, darunter auch Raphael Gygax, der Kurator des Migros-Museums. Auch den Weg nach Bern gefunden hat Isabella Bortolozzi, die bekannte Galeristin aus Berlin, die regelmässig an der Art Basel ausstellt und eine der wenigen Frauen ist, die lange, graue Haare mit Grandezza tragen kann. Sie ist da wegen «ihres» Künstlers Danny McDonald, der an der Ausstellung drei Werke zeigte.

Multimedial und auf verschlungenen Wegen, so entstehen Gerüchte: castillo/corrales, Notorious (Christian Leigh), 2011/2014. Bild: KHB

Eine Künstlerin reiste von weither an die Eröffnung an: Jacqueline de Jong. Eines ihrer Werke ist in Bern zu sehen. Allerdings muss die reizende 80-Jährige aus Amsterdam lange danach suchen. Fündig wird sie im Untergeschoss. Dort geht es nicht mehr um Gerüchte: Die Ausstellung «Séction Littéraire», die am Abend ebenfalls eröffnet wird, zeigt Kunstwerke, die Texte beinhalten, sowie Künstlerliteratur. De Jong schrieb auch viel; sie war Gründerin und Herausgeberin der «Situationist Times», die sie in den Sechzigerjahren herausgab.

Die Grande Dame (links) Jacqueline de Jong in der Kunsthalle, rechts die Kuratorin der «Section Littéraire», Geraldine Tedder. Bilder CS

Darin widmete sie sich unter anderem den Typologien. Es ging um Labyrinthe, Knoten und Ketten. Sie war auch Mitglied der Situationistischen Internationalen, einer Künstlergruppe, die das Leben der Moderne hinterfragte und Kommerz und Konsum ablehnte. In Bern stellt De Jong ein «Köfferchen» aus zusammenklappbaren «Diptychen» aus, die sie mit Bildern und Tagebucheinträgen bemalte, und die sie damals zwischen Paris und Amsterdam, den Städten, in denen sie lebte, hin- und hertransportierte.

Kein Gerücht, sondern eine Legende: «The Situationist Times». Bilder via Pinterest

De Jong war sichtlich bewegt, hier zu sein: 1942 flüchtete sie als Kleinkind mit ihrer Mutter vor den Nazis in die Schweiz und blieb hier während des Krieges. Sie spricht bis heute Schwiizertüütsch, und das ist kein Gerücht.