Wie lächerlich ist Kunst?

Ewa Hess am Mittwoch den 31. Mai 2017

Am Sonntag haben wir alle gehört, dass die Kunstszene-Satire «The Square» die Goldene Palme in Cannes gewonnen hat, und schon meinen wir, den Film vor unserem geistigen Auge abrollen zu können: narzisstische Kuratoren, präpotente Künstler und stinkreiche Mäzene, die auf jeden Scheiss der beiden Erstgenannten reinfallen. Das stellte ich mir zumindest so vor, als ich von diesem Palmarès hörte, und ich spürte Unmut in mir aufsteigen.

Denn da die meisten Filme über Kunst oder Künstler (und es gibt ihrer sehr viele, allein diesen Frühling kamen mindestens 12 ins Kino) sich durch eine stossende Unkenntnis der Kunst und ihrer Prämissen auszeichnen, wäre es doch wirklich ein Skandal, wenn ein grob gestrickter Unfug, der sich gefällig an jene anbiedert, die Kunst einfach nur lächerlich finden, in Cannes die Goldene Palme davontragen würde. Denn Cannes, meine Damen und Herren, das ist nicht irgendein Filmfestival, sondern die Hochburg der europäischen Raffinesse. Das ist jenes Festival, in dem die französische Liebe zur spielerischen Intellektualität sich mit der französischen Tradition des gefühlvollen Ausdrucks paart und dafür sorgt, dass das Herz und der Kopf nicht auseinanderdriften.

In allem etwas extrem: Regisseur Ruben Östlund beim Fototermin nach der Preisverleihung in Cannes. Foto: Anne-Christine Poujoulat (AFP)

Darum rief ich meinen Kollegen, den Filmkritiker Matthias Lerf, an – er stand noch in der Check-in-Schlange in Nizza, um nach dem Festival nach Hause zu fliegen – und fragte, was es denn mit diesem «schwedischen Quadrat» auf sich hatte. Er konnte mich einigermassen beruhigen, dass der Film keineswegs eine primitive Kunstverulkung sei, alle würden darin ihr Fett abbekommen. Und es gehe – ganz ernst – um Fragen der sozialen Verantwortung darin. Das Kunstwerk, von dem im Film die Rede ist, gebe es übrigens in echt irgendwo, sagte Matthias noch.

Und: ja. Das gibt es. Und es heisst «The Square». Es handelt sich dabei um eine Installation, welche der Regisseur des soeben preisgekrönten Films, Ruben Östlund, und sein Freund, Professor Kalle Boman, gemeinsam entworfen und in drei skandinavischen Städten auch tatsächlich verwirklicht haben. Es gibt ihn also, den «Square». Auf Schwedisch heisst er «Rutan», zuerst wurde er im Museum Vandalorum im schwedischen Städtchen Värnamo verwirklicht.

Ruben Östlund und sein Freund Kalle Boman inmitten ihres Kunstwerks in Värnamo. Bild: Vandalorum

Der Regisseur Ruben Östlund («Force majeure») und der Produzent Kalle Boman sind in Schweden natürlich gut bekannt. Bei dem Projekt «Rutan» haben sie erstmals eine Kunstinstallation entworfen. Es ging darin um die Fähigkeit der Menschen, einander zu vertrauen, Hilfe zu akzeptieren. Es ging um soziale Verantwortung – aber nicht als eine von Firmen-PR ausgelutschte Floskel, sondern um die echte, ehrliche Ausgestaltung davon. Als sie das Geviert erstmals in 2015 in Värnamo einrichteten, hatten die beiden Filmemacher bereits ihren späteren Cannes-Film im Kopf.

Das Konzept des Quadrats: Ein Ort, an dem man füreinander sorgt. Bild: zvg

Das Konzept des «Square» ist ziemlich klar: In der Stadt wird auf einem öffentlichen Platz ein Viereck eingerichtet, das so einfach funktionieren soll wie ein Zebrastreifen. Innerhalb des Vierecks haben alle die gleichen Rechte und Pflichten. Wer Hilfe braucht, steht hinein. Die Passanten sind aufgefordert, dem Viereck-Mensch zu helfen oder zumindest zu versuchen, ihm Hilfe angedeihen zu lassen. Die Installation war begleitet von einer Ausstellung im Museum Vandalorum, das recht idyllisch aussieht und offensichtlich gut besucht ist.

Kunst- und Designcenter Vandalorum in Värnamo, Schweden. Bild: visitsmaland

An der Ausstellung 2015 gab es diverse Interaktionen mit den Besuchern. Eine ging so: Man fragte einen Besucher, ob er den anderen Menschen traue. Die meisten sagten natürlich ja – und hatten Pech. Denn darauf wurden ihnen das Handy und die Börse abgenommen und auf eine unbewachte Bank gelegt. Anschliessend liess man sie die Ausstellung schauen. Natürlich machten sich die Besucher Sorgen um ihre Sachen, und jeder Gedanke an das diebstahlgefährdete Portemonnaie und das Telefon brachte ihnen die kleine Lüge zu Bewusstsein – denn trauten sie den Menschen wirklich?

Vielleicht ein Einfall zu viel? Der obligate Kunstwitz von der Putzequipe, die Kunst aufräumt, weil sie sie für Dreck hält, fehlt nicht in «The Square». Bild: zvg

Im Film, sagt Matthias, wimmelt es von Einfällen wie diesen, und manche weisen ins Nichts – das hat unseren Filmkritiker zunächst verwirrt, und dann hat es ihm sogar gefallen, weil der Film dadurch nicht so steril wirkt. Immerhin hat die Geschichte über die Verwicklungen des Soziallebens die Cannes-Jury unter Vorsitz von Pedro Almodovar so weit überzeugt, dass es für den Film die erste Goldene Palme für Schweden gab. Und das will etwas heissen, schliesslich gab es Cannes bereits, als Ingmar Bergman seine Meisterwerke schuf.

Das sogenannte Konformitätsexperiment von Asch, bei der ersten Durchführung 1951. Bild: Wikipedia

Ich habe inzwischen ein Interview mit Ruben Östlund auf Arte gesehen, in dem er erzählt, dass es seine Mutter war, die die Faszination für solche kruden sozialen Experimente bei ihm geweckt hat. Diese war nämlich Lehrerin in Schweden und machte mit ihren Knirpsen das sogenannte Solomon Asch Conformity Experiment. 1951 vom Psychologen Solomon Asch erstmals veröffentlicht, zeigt der Versuch, wie Gruppendruck eine Person beeinflussen kann. Das Experiment geht so: Man zeigt einer Gruppe Jugendlicher eine Linie, die dann mit drei weiteren Linien verglichen werden soll. Die Probanden sollen entscheiden, welche der drei Linien gleich lang wie die erste ist.

Es zeigt sich: Das Augenmass des Einzelnen ist an sich intakt. Also sagen die Probanden zunächst, wie es wirklich ist. Doch dann stellt sich heraus, dass die meisten aus der Gruppe anders entschieden haben. Der Trick dabei: Die restlichen Gruppenmitglieder sind Komplizen des Untersuchungsleiters. Und siehe da – der Proband schwenkt um. Anstatt den eigenen Augen traut er dem Urteil der Mehrheit.

Die Schauspielerin Elisabeth Moss (die Texterin Peggy aus der populären TV-Serie «Mad Men») darf sich im Film mit dem Protagonisten (Claes Bang) um ein gebrauchtes Kondom streiten. Bild: zvg

Wie lächerlich also ist die zeitgenössische Kunst? Die richtige Antwort ist: sehr – und gar nicht. Die Goldene Palme in Cannes bekam der Schwede jedenfalls nicht, weil er sich über die Kunst lustig machte. Sondern dafür, dass er inmitten dieser Absurdität, die sich Wirklichkeit nennt, nach den Spuren der authentischen Menschlichkeit suchte.

Zwei Amis in Venedig

Ewa Hess am Mittwoch den 24. Mai 2017

Ist es Zufall? Zwei Ausstellungen amerikanischer Künstler am Rande der Biennale in Venedig beschäftigen mich nachhaltiger als Christine Macels «Viva Arte Viva», also die Hauptausstellung der Biennale. Es sind Schauen von Philip Guston und Paul McCarthy.

Es sind kaum vergleichbare Ausstellungen – Gustons wunderbare Gemälde betrachtet man in den Sälen der Accademia, spazierend zwischen Säulen, mit Durchblicken auf Tintoretto und Tiepolo. McCarthys neue Arbeit ist ein Werk der Virtual Reality. Das heisst, dass man, um es zu erleben, in eine Zelle tritt, den VR-Helm anzieht und sofort dem Werk ausgeliefert ist. Trotz der Verschiedenheit der beiden Schauen stossen sie beide ein Nachdenken über die jüngste amerikanische Geschichte an – über die USA überhaupt.

Was: «Philip Guston and the Poets», Gallerie dell’accademia, Dorsoduro, bis 3. September
Paul McCarthy, Christian Lemmerz in «New Media» (Virtual Reality Art), Fondazione Giorgio Cini, Isola San Giorgio Maggiore, bis 27. August

Philip Gustons schlafender Maler und Paul McCarthys oversexte Wildwest-Girls. (Courtesy of the artist, Hauser & Wirth, Xavier Hufkens, and Khora Contemporary)

Guston und McCarthy. Zwei Prinzipien: das Feine und das Grobe. Der eine ein Feingeist mit Vorliebe für Dichtung, Verehrer der italienischen Renaissance, ein abstrakter Expressionist, aber ohne Pollocks Rage, und einer, der im Spätwerk zu einer fast kindlichen, wunderbar lyrischen Figuration zurückfindet. Der andere ist der Wilde von der Westküste. Gewalt, Macht, Körper, Sexualität, Lust und Aggression durchschütteln seine Videos wie ein konstantes Erdbeben. Seine Skulpturen – Eruptionen aus der Tiefe des kollektiven Unterbewusstseins.

Intensive Gemälde Gustons in den Sälen der Accademia. (Bild: artnet)

Ich pilgerte zuerst zu Guston. Die Schau des spanischen Kurators Kosme de Barañano ist grösser und repräsentativer, als es der Titel ankündigt. In den schönen Sälen kommen Gustons Rot- und Blautöne fantastisch zur Geltung – man sieht ganze Fluchten von Bildern! (Es sind 50 Gemälde und 25 Zeichnungen). Es kommt einem so vor, als ob man nie genug Guston-Bilder sehen könnte. Eine Intensität umgibt diese Leinwände, die durch ihre Häufung nicht nervöser, sondern ruhiger wird. Diese Bilder sind Nahrung, die unseren Hunger nach «gemalt» stillen.

Philip Guston in Rom – im Dialog mit der Antike. (Bild: courtesy gallerie dell’accademia)

Was mich vor allem überrascht und begeistert hat: Gustons Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte. Es gibt in der Ausstellung Fotos, die den Maler bei seinen Studien der Antike neben den grossen Füssen und Händen zeigen, die für uns das römische und hellenische Erbe symbolisieren. Dadurch bekommen seine eigenen Gemälde von Händen und Füssen eine etwas andere Bedeutung. Man versteht: Diese sehnigen Hände, diese dicken Füsse versöhnen die europäische Tradition mit der amerikanischen Direktheit.

Philip Guston, «The Line» (1978) und «Rome» (1971)

 

Giovanni Bellinis Madonna mit Kind (1470) und Philip Gustons «Young Mother» (1944) (Bild: Lorenzo Palmieri, ©The Estate of Philip Guston, courtesy of the Estate, Gallerie dell’Accademia, und Hauser & Wirth.)

Mich hat auch ein anderes Werk in der Ausstellung berührt, in dem man den Maler und seine Frau, die Dichterin Musa McKim, einfach schlafend im Bett sieht. Es ist ein Werk von gemalter Vertrautheit und Liebe, wie ein Gedicht, schwer und leicht zugleich. In einer anderen Zeichnung findet sich ein kleines Gedicht wieder, das in wenigen Bildern einen Abend in Rom erzählt, an dem der Maler von einer Mücke geweckt wird und durch die Strassen irrt. Das ist Guston: melancholischer Amerikaner mit Sinn für leise Poesie.

Philip Guston, «In Bed» (1977)

Guston, «Awakened by a Mosquito» (1972)

Und dann fährt man mit dem Vaporetto auf die Insel San Giorgio Maggiore, wo Venedig zu Höchstform aufläuft und sich als eine Mischung von Hafenidylle und grossartiger Klosterarchitektur zeigt. Dort haben die dänische Faurschou Foundation und die venezianische Fondazione Giorgio Cini die Kräfte vereint, um einen kleinen Ausblick auf die mögliche Zukunft der Kunst zu geben, also auf Werke in Form von Virtual Reality (lesen Sie zu VR auch den Beitrag unseres Gastautors Claudio Bucher). Es gibt dort auf der Insel auch noch zwei andere tolle Ausstellungen, von Alighiero Boetti und Michelangelo Pistoletto, und wenn Sie schon mal dort sind, müssen Sie diese beiden Grössen der italienischen Kunst auch besuchen!

Die Insel San Giorgio Maggiore mit dem von Napoleon säkularisierten Benediktinerkloster, dank der Stiftung des italienischen Industriellen Vittorio Cini restauriert und als Kulturstätte betrieben.

Jetzt geht es aber um die Amis. Und ich komme grad zur Sache: Die Erfahrung, sich jäh mit Paul McCarthys entfesselten Gestalten in einem virtuellen Raum zu befinden, hat mich beinahe umgehauen. Das hängt natürlich zum Teil mit dem bereits beschriebenen VR-Effekt zusammen, dass man sofort nach dem Anziehen des Helms den Boden unter den Füssen zu verlieren meint. Ich hatte Tasche, Notizblock, Handy in der Hand und streute das alles um mich herum in einem Versuch, das Gleichgewicht zu wahren. Man ist jäh blind und weiss nicht, was mit einem geschieht.

Paul McCarthy, Coach Stage Stage Coach, Experiment Mary and Eve (2017) (Courtesy the artist, Khora Contemporary, Hauser & Wirth)

Man ist mitten im Kunstwerk! In einem grell erleuchteten, mit einem gemusterten Teppich ausgelegten Raum schweben seltsame Damen, sie steigen aufeinander, kämpfen, missbrauchen einander, zum Teil sind sie nur halb vorhanden. Sie sind neben, unter, über einem. Manchmal fliegen sie einem mitten durchs Gesicht. Sie sind laut – sie stöhnen und schreien «Fuck you!». Mit der Zeit merkt man, dass sie alle Replikantinnen sind – es sind eigentlich nur zwei Figuren, eine ältere Brünette im roten Satinkleid und eine jüngere Blonde mit blauem Folklorekleid, die sich endlos vervielfachen.

McCarthys Replikantinnen, Figuren aus seinem geplanten Westernfilm «Stage Coach Coach Stage»

So weit ich es übersehe, ist McCarthy in seiner Generation (er ist 71 Jahre alt) der einzige Pionier der neuen Medien, und das passt gut zu ihm. Für sein oppressives Universum ist eine Veranstaltung wie dieser VR-Loop ideal. Seltsam anziehend ist die Teilnahme an seiner zombiehaften Orgie, und gleichzeitig unendlich abstossend. Dieser spezifische McCarthy-Ekel, seine verliebte Wut auf den amerikanischen Lebensstil, seine Ideale und Ikonen (hier etwa die Frauen aus den Westernfilmen) kommen einem in diesem Werk verdammt nahe. Am Schluss reisst man sich den Helm vom Kopf und versucht sich zu sammeln, während man seine sieben Sachen einsammelt.

Und dann fängt das Nachdenken an: What happened? Und ich meine nicht nur dort, in der VR-Koje auf der venezianischen Insel, unter der Bilderhaube des medial induzierten psychotischen Anfalls. Aber auch – was ist mit unserer Welt, mit der amerikanischen Kunst geschehen?

Philip Guston war 66 Jahre alt, als er 1980 starb, er ist fast vierzig Jahre älter als Paul McCarthy. Nach dem Besuch der beiden Ausstellungen kommt es einem vor, als ob man dem älteren Künstler zusieht, wie er von seinen lyrischen, traditionsverbundenen Idealen leicht melancholisch für immer Abschied nimmt. Danach trifft einen die neuere Zeit mitten ins Gesicht, wenn McCarthys Emotionen eskalieren. Dieser Künstler begehrt gegen die Gewalt und Lüge auf und merkt gleichzeitig, dass sie zu seinem Lebenselixier geworden sind.

Paul McCarthy, Coach Stage Stage Coach, Experiment Mary and Eve (2017) (Courtesy the artist, Khora Contemporary, Hauser & Wirth)

Und man denkt: Eigentlich ist auch diese kraftvolle Wut ein Privileg der Vergangenheit. Der US-Künstler Jordan Wolfson, der in dem Jahr geboren wurde, als Philip Guston starb, und der jetzt 37 Jahre alt ist, hat vor wenigen Monaten an der Whitney Biennale in New York ein VR-Werk vorgestellt, in dem ein Mensch dem anderen den Schädel zerdeppert (das Opfer war eine sehr real aussehende Puppe). Doch Wolfsons Werk war alles andere als wütend. Seine Position ist die eines Kindes, das der Fliege zuschaut, während er ihr die Flügel ausreisst. Von neugieriger Melancholie über heilige Wut zum wissenschaftlich verklärten Sadismus. What a journey we made!