Schneeweisse Männerhälse

Blog-Redaktion am Mittwoch den 22. Februar 2017

Unsere London-Korrespondentin Brigitte Ulmer über die grossen Ausstellungen von Wolfgang Tillmans und David Hockney. Zwischen dem «postmodernen Flaneur» (Tillmans) und der «kanonisierten Glückspille» (Hockney) gibt es erstaunlicherweise Ähnlichkeiten. Wobei beide Bezeichnungen durchaus liebevoll gemeint sind! Aber lesen Sie selbst.

Von Brigitte Ulmer

Was: Wolfgang Tillmans: 2017. Tate Modern. Bis 11. Juni, David Hockney, Tate Britain. Bis 29. Mai.

Hans Ulrich Obrist hat ihm bereits 1995 eine Schau in der Serpentine Gallery ausgerichtet, Mendes Bürgi in der Kunsthalle Zürich im selben Jahr, da war Wolfgang Tillmans gerade 27-jährig, erst seit zwei Jahren einer Kunstschule im eher exotischen Bournemouth (UK) entsprungen, also kaum trocken hinter den Ohren und vor allem als Fotograf für die Kult-Postille «i-D» bekannt. Darin hielt er die Subkulturen zwischen Berlin und London fest. Fast forward 22 Jahre, und wir stehen in der monumentalen Retrospektive mit dem kurzen Titel «2017», und Chris Dercon, ehemaliger Direktor der Tate Modern und jetzt designierter Volksbühnen-Direktor in Berlin, flitzt durch die Säle und nennt Tillmans «Renaissance-Künstler des 21. Jahrhunderts». Im Mai kommt der moderne Leonardo übrigens in die Fondation Beyeler.

Der Künstler und sein Kurator: Ex-Tate-Chef Chris Dercon, Wolfgang Tillmans (ganz rechts). Alle Fotos: B. Ulmer

Von Über-Kuratoren seit Jahren hofiert, ist Tillmans in London dieser Tage erst recht everybody’s darling. Eigentlich ähnlich wie David Hockney, die kanonisierte Glückspille im Künstlerformat, die gerade 80 Jahre alt gewordene Legende (doch davon später). Dass Wolfgang Tillmans, 48 Jahre alt, ehemaliger Clubber, festes Mitglied der Subkulturen Berlins und Londons, Turner-Prize-Träger des Jahres 2000, offensichtlich auch bereits kanonisiert ist, mag erstaunen. Oder auch nicht.

Denn eigentlich hat Tillmans diese Kanonisierung, die laute Reklame, die für ihn gemacht wird, gar nicht nötig. Eigentlich ist sein Werk selbsterklärend. Es ist sehr zugänglich, und benötigt nicht viel kritischen Überbau. Auf den ersten Blick funktioniert seine Schau nämlich ein bisschen wie eine Instagram-Bild-Lawine. Es purzeln Bilder von gewaltiger Schönheit auf die Netzhaut, bei denen man sofort aufs Herzchen drücken wollte, und dann wieder Bilder von bombastischer Banalität, die seltsamerweise – aufgepumpt ins Grossformat – ihre eigene Allüre entfalten.

«Young Man, Jeddah», 2012, «Astro Crusto», 2012, «Collum», 2011 (v.l.): Bilder von betörender Schönheit …

Ein Hummer, über den eine gefrässige Fliege läuft. Die Seitenansicht eines Halses, mit Muskeln, Haaransatz und einem Drei-Viertel-Ohr. Ein schäumender Wasserfall, irgendwo (Iguazú, Argentinien). Man will hineinspringen wie in ein Schaumbad, man will den Hummer betasten, und auch dieser schneeweisse Männerhals, aus dessen Nacken der Beginn eines Bürstenschnitts ersichtlich ist, entfaltet eine ungeheure Sinnlichkeit.

… und von raffinierter Banalität: «Studio Still Life», 2014.

Mir erscheint Tillmans eher wie ein postmoderner Flaneur, der durch die globalisierte Welt streift, und ihr abzulesen versucht, was mit ihr gerade passiert. Die Bilder von Auto-Scheinwerfern: aggressiv wie der neoliberale Kapitalismus. Szenen aus illegalen Clubs: letzte Freiheitszonen in einer ökonomisierten Welt. Die Kamera ist seine Wünschelrute, die da ausschlägt, wo er Aufzeichnungswürdiges findet. Subjektive Weltsichten, Mikro und Makro hart aneinandergeschnitten, Natur und Künstlichkeit, Schönheit und Banalität. Porträts, Strassenszenen, Interieurs, Landschaften, er zieht alle Register.

Der Künstler und seine Klassiker: Tillmans im Porträt von Solve Sundsbo, Tillmans Werk «Outer Ear», 2012, rechts: «Anders pulling splinter from his foot», 2004.

Ein junger Mann in einem brombeerfarbenen Kaftan in Jeddah, der sich an ein gleichfarbiges Auto lehnt. Eine friedliche Marktszene in Äthiopien. Junge Chinesen beim Brettspiel auf den Strassen Shanghais. Port-au-Prince aus der Vogelperspektive. Unkraut, das aus Steinplatten spriesst. Intime Momente zwischen Freunden.

Und immer richtet er die Linse auch auf den Bildproduktions-Prozess. Aufnahmen aus seinem Studio. Ein in seine Einzelteile auseinandergenommenes Photokopiergerät. Mal gross-, mal kleinformatig zu einem Potpourri zusammengestellt, die Wände buchstäblich bis in die Ränder und Ecken vollgehängt – allein die Hängung zeigt, dass Tillmans Hierarchien ausradieren will. Die Kakophonie der Eindrücke lassen sich in fünf Adjektiven zusammenfassen: Ehrlich. Empathisch. Entgrenzend. Egalitär. Ästhetisch.

«Paper Drop Prinzessinnenstrasse», 2014.

So weit, so gut. Die Schau schlägt aber auch wirklich Volten, und zwar da, wo sich Tillmans der realen Welt entzieht. Wo er die Bedingungen der Bildherstellung erforscht, in der Dunkelkammer zum Beispiel. Oder wo er dem Realen eine wundersame Abstraktion herauslöst, ohne sie in Kälte erstarren zu lassen. Die «Paper Drops» zum Beispiel: schlicht und einfach zu einer Tropfenform gerolltes Fotopapier, das zur rätselhaften Eleganz gerinnt. Oder die «Freischwimmer»: Wirbel und Ströme in Flüssigkeit. Alles scheint ineinanderzuzerfliessen. Oder die «Silvers»: Fotopapier durch den Entwickler prozessiert, mit auf Silber basierenden Chemikalien und Pilzen dem Licht ausgesetzt. Bilder von berückender Schönheit.

Wolfgang Tillmans Anti-Brexit-Poster.

Es gibt aber auch den Politaktivisten Tillmans (in England hat er sich mit seiner Anti-Brexit-Poster-Kampagne auf die Politbühne gehievt), und bei allem optischen Power spürt man oft auch eine politische, zeitkritische Unterströmung: Da, wo betörende Landschafts- und Meerbilder auf die Fotos von Flughafen-Sicherheitskontrollen stossen. Da, wo ein russisches Gay-Paar abgelichtet ist oder die Überreste eines Flüchtlingskahns aus Lampedusa.

Port-au-Prince 2010, Flughafendetail, Ausstellungsansicht mit Magazinfotografie.

Sie sprechen von Angst, von Aus- und von Abgrenzung, nicht von Freiheit. Oder in der raumfüllenden Installation «The Truth Study Center»: In simplen Sperrholzvitrinen sind Zeitungsausschnitte, Kopien von Pressebildern, E-Mails und Diagramme ausgelegt, die von Anti-Bush-Demonstrationen, Drogenkriegen, Terrorangst, Studien aus der Hirnforschung berichten. Was ist wahr, was sind Fake-News? Tillmans hat sich diese Frage schon 2005 gestellt. Angst und Schönheit, Grenzen und Entgrenzung, Aktivismus und Weltflucht: Doch, doch, die Ausstellung passt sehr gut zu diesen Zeiten, da wir alle zwischen dem Trump-Dauererregungs-Syndrom und der Flucht ins Schöne hin- und herpendeln.

Fotograf der Fotografen: Besucher in der Tillmans-Schau.

Wahrscheinlich ergeht es andern wie mir: Als ich, mit dem Tillmans-Weltblick geeicht, durch die Gegend laufe, fallen mir plötzlich ganz viele Tillmans-Sujets auf. Die Bushaltestelle mit zwei Küssenden mit Herzballonen an der Hand (es war gerade Valentinstag). Das Unkraut zwischen den Pflastersteinen. Der Haaransatz am Hinterkopf eines vor mir sitzenden Passagiers im Bus.

Weniger erwartet hätte ich das allerdings in der aktuellen Blockbuster-Schau des zweiten everybody’s darling der Londoner Kunstwelt. Gemeint ist der König der britischen Malerei, David Hockney. Seine Schau hat es ja sogar in die Nachrichten in die Schweizer «Tagesschau» gebracht.

 

Hockneys Kalifornien-Apotheose: «Portrait of an Artist (Pool with Two Figures)», 1972. (Courtesy Tate)

Man braucht dazu nur die Themse flussaufwärts zu fahren, zur Mutter-Galerie Tate Britain. Ein bombastisches Fest des Lichts, der Lebens- und vor allem der Schaulust empfängt einen da: «A Bigger Splash», das Bild wirkt wie ein riesiger Schnappschuss mit der Kamera; das abstrahierte Bild der Rasensprenkler – Alltagsszenen im kalifornischen Neverland, mit dem Sehnsuchtsblick des working-class-boy aus Englands armem Norden festgehalten.

Träume des Jungen aus dem Norden: «A Bigger Splash», 1967, «A Lawn Being Sprinkled», 1967, «Domestic Scene, Los Angeles», 1963.

Auch bei ihm immer wieder der Blick nach innen – häusliche Szenen der Intimität, wie die zwei Männer unter der Dusche, Dandys im Schlafzimmer –, Porträts von Freunden und der Eltern. Was es heisst, schon in den 60er-Jahren intime Momente der Gayszene auf Leinwand zu bannen und die eigene Komplizenschaft offen zu zeigen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Dass sich Hockney immer vom Medium Fotografie inspirieren liess, ist offensichtlich. Der empathische Blick auf die Gay Culture, das Zelebrieren der persönlichen Freiheit, das verbindet den Altmeister mit Tillmans.

Und bekanntlich ist das Private ja auch politisch.

«Henry Geldzahler and Christopher Scott», 1969.

Bewegende Bergrituale

Ewa Hess am Mittwoch den 8. Februar 2017

In Gstaad, liebe Leserinnen und Leser, hat es am Wochenende ununterbrochen geschneit. Das hat zu der Veranstaltung, von der ich hier berichten werde, sehr gut gepasst. Denn die Kunstschau «Elevation 1049», die in regelmässigen Abständen im Berner Oberland stattfindet, erweist der Natur Respekt. Sie tut es auf eine sehr moderne Art – doch davon später.

Was: Kunstschau «Elevation 1049 – Avalanche»
Wo: Gstaad und Umgebung
Wann: Eröffnungswochenende 3.–5. Februar, die Schau dauert bis 19. März 2017.

Douglas Gordons und Morgane Tschiembers Performance «As close as you can for as long as it lasts», rechts der schottische Künstler an einem Talk in Gstaad.

Am Anfang brannte es lichterloh. Der Schotte Douglas Gordon, Turner-Preisträger und ein geschätzter Zeremonienmeister unter den zeitgenössischen Künstlern, inszenierte den kleinen runden See unterhalb Saanerslochgrat als eine rituelle Natur-Huldigungsstätte. Auf dem Eis brannte Holzfeuer, eine Audioinstallation mit Wolfsgeheul begleitete die heidnisch anmutende Szene.

«Was ist denn Kunst anderes, als der immerwährende Versuch, um das Feuer herumzutanzen?» fragte uns der Schotte später. Er erzählte, dass er sich von dem kleinen kreisrunden See wie magisch angezogen fühlte. Das hatte auch linguistische Gründe, die Gegend heisst nämlich Saanerslochgrat. Saaners-Loch-Grat. Aha, sagte sich der Schotte: Loch! Die legendenumwobenen Lochs seiner Heimat standen sofort vor seinem geistigen Auge: Loch Ness, Loch Oich und Loch Lochy. Gemeinsam mit seiner bretonischen Freundin Morgane Tschiember entwarf er flugs ein atemberaubendes Mysterienspiel. Angst, Gefahr, Liebe durchlebten die Zuschauer – all diese Gefühle wecken das Feuer, die Wildnis, die Natur. Und kaum irgendwo spürt man die Wildheit der Natur ja deutlicher als in den stolzen Bergen des Berner Oberlands.

Links: Die Mäzenin Maja Hoffmann, deren Luma Foundation die Kunstschau im Schnee finanziert, links von ihr am Bildrand Kuratorin Olympia Scarry. Mitte: Künstler Christian Marclay labt sich an der Suppe mit Markknochen. Rechts: Der Ausstellungskurator Neville Wakefield. (Bilder ewh)

Die Tradition der Winterschau «Elevation 1049» (die Zahl steht für die Höhe über dem Meer in Gstaad) wurde vor zwei Jahren von Maja Hoffmanns Luma Foundation begründet. Unterstützt durch Freunde und Bekannte, die oft in Gstaad sind, beauftragte die kunstliebende Mäzenin das Kuratorenpaar Olympia Scarry und Neville Wakefield mit dem Entwerfen einer Schneeschau, die zu den Schweizer Bergen passt.

Die beiden leben zwar in New York, doch Olympia hat eine ganz besondere Verbindung zu Gstaad: Ihr Grossvater, der Kinderautor Richard Scarry, lebte hier. Und auch ihr Vater, Richard junior, hielt sich gerne im Familienchalet im Berner Oberland auf. Olympia war hier oft als Kind und kennt jede Ecke.

Richard Scarry jr. (links) bläst Alphorn zu Ehren der Ausstellung seiner Tochter Olympia, die Markknochensuppe erfreut sich derweil grossen Zuspruchs.

Der Schau merkt man an, dass hier Ortskundige am Werk sind. Die Organisatoren machen sich einen Spass daraus, die Kunstwerke so in der Landschaft zu platzieren, dass man sie eben nicht bloss bequem «konsumiert». Man soll mit der Landschaft eins werden, um zur Kunst zu kommen. Auch wenn am Eröffnungswochenende die Gletscherlocation wegen eines Schneesturms unerreichbar ist – dort hätte man eine Totem-Skulptur der Gruppe Superflex bewundern und Markknochen-Suppe essen sollen –, kommt der Schneewanderer doch noch ausgiebig zum Zug.

Michaël Borremans’ «gestürzter Mönch» taucht beim Wandern von Schönried nach Gruben unerwartet am Horizont auf, man erkennt erst beim Näherkommen, dass es sich hier um eine riesige Skulptur handelt. (Bilder ewh)

Beim heftigen Schneetreiben brechen vereinzelte Besucher auf, um die angekündigte Skulptur des belgischen Stars Michaël Borremans zu erleben. Beim Wanderweg von Schönried nach Gruben meint man zuerst eine Landwirtschaftsmaschine zu sehen, doch beim Näherkommen wird einem die volle Dimension der Skulptur bewusst: ein 8 Meter grosser Mönch scheint Kopf voran in eine Schneeverwehung gestürzt zu sein.

Es hat etwas Irrwitziges, als ob dieser Riese beim Aufführen eines seltsamen Rituals hier einen peinlichen Unfall erlebt hätte. Die nackten Füsse rudern lächerlich in der schneeschweren Luft. Man erinnert sich vage an die Figuren, die Borremans in einer Ausstellung der Galerie Zwirner kürzlich zeigte. Auf diesen rätselhaften Tableaus (namens «Black Mould») tanzten schon solche Mönche (Schergen? Geheimbündler?). Der belgische Maler und Zeichner Borremans scheint seine Fähigkeit, Bilder und Zeichnungen unheimlich erscheinen zu lassen, nun auch in der Skulpturenwelt unter Beweis zu stellen.

Im Innern des «Vieux Chalet», des ehemaligen Zuhauses von Gunter Sachs. Links und Mitte: Pipilotti Rists Projektionen auf dem Bett und im Pool, rechts eine Skulptur von Louise Bourgeois und ein Bild von Fernand Léger. Die Galerie Hauser und Wirth bietet hier ihrer Kunst eine passende Umgebung.

Eine Ausnahme vom Prinzip des «erschwerten Zugangs» gibt es doch: Die Galerie Hauser & Wirth lädt zu einem Steh-Dinner im ehemaligen Chalet des Playboys Gunter Sachs ein. Das berühmte «Vieux Chalet» ist riesig, aber gemütlich. Der Hausherr Iwan Wirth macht die Honneurs, auch James Koch und die sympathische Fiona Römer, welche die Gstaader Dependence leitet, sind da.

Die ersten Gäste erleben eine geheimnisvolle Schwimmerin im schimmernden Pool: es ist die Lichtkünstlerin selbst, Pipilotti Rist, die in dem von ihr in ein Farbenmeer verwandelten Schwimmbecken den Gästen mit gutem Beispiel vorangeht. Doch das Kunststück will ihr an diesem Abend niemand nachmachen, ausser ganz am Schluss, als fünf Männer beherzt die Nacht mit einem Sprung in die Kunst hinein beschliessen – es ist die Produktionscrew der «Elevation» um den Basler Produzenten Marc Bättig.

Projektion auf Schnee: die Künstlerin Cecilia Bangolea tanzt später dazu einen wilden Tanz. Sam Keller kommt mit Sarah Morris’ Zug in Gstaad an (Mitte), Bice Curiger mit der Belle-Epoque-Bahn (rechts).

Bei einem Spaziergang durchs Dorf merkt man, dass die illustren Chaletbewohner rund um Gstaad nicht erst seit gestern Kunst im öffentlichen Raum unterstützten. Die schmucke Kuh Rosie am Dorfbrunnen (aus Bronze) wurde etwa schon von Elizabeth Taylor und Bernie Ecclestone gespendet. Gut, es war nicht ein gänzlich uneigennütziges Geschenk der Diva, denn die Künstlerin Liza Todd-Tivey war ihre eigene Tochter.

Die Kuh Rosie am Dorfbrunnen – von Elizabeth Taylor gespendet.

Die Werke, die heuer in den Scheunen und Matten rund um Gstaad zu entdecken sind (den tollen Japaner Ryoji Ikeda im Menuhin-Zelt nicht vergessen!), sind weniger lieblich, dafür bringen sie die Besucher ein bisschen ins Grübeln. Diesmal ist es nicht das kühle, abstrakte Denken, welches oft mit der konzeptuellen Kunst einhergeht. Wakefield und Scarry schaffen es im Glamourdorf Gstaad wirklich, den Ruf der authentischen Berglandschaft mit authentisch bewegender Kunst zu beantworten.

Wo geht es zur Kunst? Alle Informationen auch auf https://www.elevation1049.org

Bergpredigt, radikal

Ewa Hess am Mittwoch den 1. Februar 2017

Intelligenz! Klarsicht! Unterscheidungsvermögen! Vernetztes Denken! Dialektisches Verständnis für Widersprüche! Liebe Leute, dieses 2017 fordert uns einiges ab. Dabei sind wir doch «only humans»! Vergeblich warten wir auf diese künstlichen Intelligenzen (AI), die uns bei der Bewältigung der Hypermodernität zur Seite stehen könnten – wenn sie denn endlich einsatzbereit wären. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns selber schlauzumachen. Zum Glück trifft sich zurzeit die Hautevolee des avantgardistischen Denkens in den Schweizer Bergen. Hier ein Bericht vom Olymp.

Was: Art Summit Verbier, 20. und 21. Januar 2017, und Engadin Art Talks, Zuoz, 28. und 29. Januar 2017

Links: Die Organisatoren der Engadin Art Talks in Zuoz: Philip Ursprung, Bice Curiger, Hans Ulrich Obrist sowie die Gründerin Cristina Bechtler. Rechts: Das Team des Art Summit in Verbier: Beatrix Ruf, Prinz Constantijn von Oranien-Nassau und Rem Koolhaas. (Bilder EAT/Hana/Jacobovitz)

Die Ankunft der künstlichen Intelligenz mag zwar auf sich warten lassen, ein vorherrschendes Gesprächsthema ist sie bereits jetzt. Sie war es in Verbier vor einer Woche und auch letztes Wochenende in Zuoz. Ich spreche von Art Summit und von Engadin Art Talks. Beide Veranstaltungen haben ein ähnliches Profil: Man trifft sich in den Bergen nach dem Vorbild des WEF in Davos und diskutiert interdisziplinär dringende Zeitfragen. Nur in Davos geht es um die Wirtschaft und die Politik. In Zuoz und Verbier um noch Wichtigeres, nämlich um die Kultur und die Wissenschaft (also um die Werte, welche jedem Handeln als Grundlage dienen sollten).

Die Redner: Architekt Rem Koolhaas (Verbier, links) und Künstler Heinz Mack (Zuoz).

Das vorgegebene Thema in Verbier war die «Grösse». In Zuoz gab man die Parole «Wüste und Eis» aus.  Doch an beiden Talks ging es um erstaunlich verwandte Themen (siehe unten). Kunststück, die Konferenz in Verbier stand unter der geistigen Oberaufsicht von Beatrix Ruf, hierzulande gut bekannt als langjährige Direktorin der Kunsthalle Zürich (jetzt Chefin des Stedelijk Museum in Amsterdam), und diese war bis vor kurzem Mitstreiterin im Team Zuoz. Die Zuozer Kuratorengruppe um die Gründerin Cristina Bechtler besteht aus dem einflussreichen Serpentine-Chef Hans Ulrich Obrist, dem neuen Kunsthalle-Zürich-Leiter Daniel Baumann und dem ETH-Professor Philip Ursprung  sowie (neu) der Biennale-Direktorin und «Parkett»-Gründerin Bice Curiger.

E.A.T. Zuoz: Cristina Bechtler begrüsst, Hans Ulrich Obrist und Daniel Baumann besprechen.

Liebe Leserin und lieber Leser von Private View, ich habe als eure Berichterstatterin an beiden Wochenenden die Ohren gespitzt, drei dicke Hefte mit Notizen voll geschrieben und präsentiere hier einige Begriffe, die mir zentral vorkommen.

Die Wüste.

Wir sprechen im Alltag ununterbrochen von den Städten, von ihrer Entwicklung, ihrer Anziehungskraft, dabei sind Symptome unserer Zeit dort zu finden, wo niemand hinschaut – in der Wüste. Sie stand bei mehreren Vorträgen im Zentrum der Überlegungen. Denn die Wüste ist kein «grosses Nichts», sondern ein umkämpftes geopolitisches Territorium, darüber waren sich die Redner einig. «Der Anschein des Nichts wird hergestellt, um Spuren zu verwischen», sagte die US-Kunsthistorikerin Emily Scott in ihrem Vortrag in Zuoz und erinnerte an experimentelle militärische Missionen, welche meist abseits der Aufmerksamkeit stattfanden und immer noch stattfinden.

Die Wolke ist keine Wolke: Googles Serverfarm in Iowa.

Rem Koolhaas seinerseits erzählte in Verbier von den monströsen Serverfarmen – die stehen dort, wo man nicht hinschaut, also in der Wüste. Sie sind die Kehrseite unserer digitalen Mobilität, ein gigantisches Back-up der «Wolke» (die Wolke ist eben keine Wolke, sondern ein schweres, grosses Ungetüm). Ebenfalls in der Wüste war der Basler Architekt Manuel Herz (Zuoz) tätig. Er befreundete sich dort mit dem Volk der Sahrawis, das der Besetzung der Westsahara durch Marokko weichen musste. Statt elender Flüchtlinge in einem Zeltlager traf er ein hoch diszipliniertes und gut organisiertes Volk, welches seinen temporären Status lediglich aus Protest nicht aufgibt.

Fazit: Wo angeblich «nichts» ist, ist erst recht etwas.

Nicht nur Kinsthistorikerin, sondern auch Rangerin: Emily Scott. Architekt/Künstler: Manuel Herz.

Die Spuren.

Wir sind endgültig im Anthropozän angelangt – in einem Zeitalter, in dem der Mensch das gesamte Ökosystem unseres Planeten tiefgreifend verändert hat. Es ist, als ob wir erst jetzt, augenreibend, die wahre Tragweite unserer Taten erkennen. Künstler spiegeln diese Haltung – etwa, wenn der Westschweizer Künstler Julian Charrière nach Spuren vergangener Nukleartests in der Wüste von Kasachstan oder auf dem Bikini-Atoll sucht.

Der Westschweizer Künstler Julian Charrière (in der Zuozer Galerie Tschudi, wo er gerade eine sehr schöne Ausstellung hat) und die von ihm auf dem Bikini-Atoll gefundenen mutierten Kokosnüsse, wegen der radioaktiven Verseuchung unfruchtbar. «Sterile Penisse», wie sie der Künstler schmunzelnd nennt.

Der indisch-amerikanische Fotograf (und Physiker) Subhankar Banerjee (Zuoz) dokumentiert lieber mit seinen wegweisenden Alaska-Fotos das Vorhandensein dichter Biotope in der vermeintlichen Eiswüste. Er gerät damit – unbeabsichtigt – in einen politischen Konflikt mit den Ölgesellschaften, welche die Zeichen der Zeit nicht erkennen und nach neuen Bohrungen gieren. Der deutsche Künstler Tino Sehgal (Verbier) findet sogar im menschlichen Verhalten Spuren. Der moderne Mensch suche immer noch nach einem Äquivalent des Stammestanzes am Feuer, sagt er, nach einem Ritual, mit dem er sich der Grundwerte seiner Gesellschaft versichere.

Fazit: Der Weg zum Neuen führt durch eine Neuinterpretation des Alten.

Subhankar Banerjee dokumentiert mit seinen Fotos u.a. die Wanderungen der Karibus in Alaska.

Die (Un)sichtbarkeit.

Kaum war die Verschiebung von analog zu digital vollzogen, wurde unsere Kultur geflutet: Bilder, Bilder, Bilder. Inmitten dieser visuellen Kakofonie sind sowohl die Sichtbarkeit wie die Unsichtbarkeit problematisch. Darüber hat man in Verbier debattiert. Wie gross muss ein Museum sein, damit es global sichtbar wird? (Sehr gross.) Darüber sprachen Rem Koolhaas und auch Tino Sehgal.

Die deutsche Künstlerin Hito Steyerl (die leider nicht nach Zuoz kam, weil sie Grippe hatte) breitet in einem Künstlerfilm die Techniken des visuellen Verschwindens aus. Darin springen etwa glückliche Pixel in eine niedrigere Auflösung (sehr lustig). Emily Scott erzählt später von den Techniken der Rebellen aller politischer Couleur, zu Camouflagezwecken ihre Körpertemperatur herunterzukühlen, um nicht von den Erkennungsdronen, die menschliche Wärme registrieren, erkannt zu werden.

Fazit: In der modernen Welt ist die Sichtbarkeit totalitär, die Unsichtbarkeit aber subversiv.

Eine Szene aus Hito Steyerls Film «How Not to Be Seen»: Pixel verstecken sich in einer niedrigeren Auflösung.

 

Die Glaziologie.

Die Wissenschaft von den Gletschern, vertreten in Zuoz durch die fotografierende Wissenschafterin Christine Levy, wartet mit der dem neuen Zeitalter angepassten Perspektive auf. Einer «von sehr hoch oben», weil die Gletscher ja nur aus der luftigen Höhe so fotografiert werden können, dass man die Veränderungen erkennt.

Auch die glaziologische Zeitperspektive hat es in sich. Levy stellte fest, wie schnell die Gletscher schmelzen, erzählte, wie sie sich teilen, wie sie löchrig werden und Grotten bilden, bedauerte als Engadinerin auch ein bisschen, in Zukunft keine weissen Bergspitzen mehr den Touristen anbieten zu können. Und fügte dann mit echt glazialer Langmut hinzu, dass das eigentlich gar nicht so schlimm sei, weil ja in 10’000 Jahren die nächste Eiszeit komme, in der die Gletscher wieder nachwachsen würden.

Fazit: Keep cool. Auch wenn wir die Atmosphäre nicht erwärmen würden, blieben wir eine erdgeschichtliche Anekdote.

Dr. Christine Levy betrachtet das Schrumpfen des Morteratsch-Gletschers.

Radical Hope.

Sowohl der hochkomplex denkende Zeitanalytiker Benjamin H. Bratton wie auch der gnadenlose Weltgestalter Rem Koolhaas (beide in Verbier) machten auf ihre eiskalte Art keinen Hehl daraus, dass sie zurzeit Umschichtungen unserer Welt feststellen (neue, digital diktierte Weltordnung, das Aufkommen selbst lernender Maschinen etc.), die schon bald die Rolle des Menschen in seinem eigenen Universum radikal infrage stellen werden.

Der interdisziplinäre Künstler Subhankar Banerjee brachte die Haltung, die eine solche Situation erfordert, auf die Formel Radical Hope. Der Begriff geht auf den US-Denker Jonathan Lear zurück, der in seinem schmalen Büchlein gleichen Namens die Frage stellte: Welche geistige Haltung überlebt einen Kulturuntergang? Er bezieht sich in seinem Aufsatz auf die Erzählung des letzten grossen Indianerhäuptlings Plenty Coups, der berichtet, wie mit dem Verschwinden der Büffel «die Herzen seiner Leute zu Boden fielen und nicht mehr erhoben werden konnten». Lear zeigt auf, dass keine Kultur ihren eigenen Untergang vorhersehen kann – darin liegt ihre systemische Blindheit. Wir haben also keine ererbten oder angelernten Muster, wie wir uns in einem solchen Fall verhalten sollen.

Es bleibt uns nur eins, und das ist hier auch das letzte Fazit: Die undenkbare, radikale Hoffnung, dass das Gute unsere Kultur überlebt.

Auf dem Berg, dennoch ganz im Innern: Die Teilnehmer der Art Talks im Engadin. Fotos: E.A.T./Alexander Hana