London Calling!

Blog-Redaktion am Mittwoch den 21. Dezember 2016

Die Private-View-Sondergesandte in der britischen Kapitale Brigitte Ulmer* meldet sich rechtzeitig vor den Festtagen mit Galerientipps und Reviews. Für den Fall, liebe Leserin und lieber Leser, dass Ihr Hunger auf Plumpudding erwacht!

Hier ihr Bericht:

Wir wissen es längst: In der hehren Welt der Künste ist Marketing genauso wichtig wie die phänomenologische Theorie von Merleau-Ponty. Und damit wäre vielleicht auch der Überhang an Malereiausstellungen in London zu erklären. Und mit dem Synergieeffekt. Zurzeit wird Malerei in der Royal Academy mit der allseits bejubelten Titanen-Schau der Abstrakten Expressionisten gefeiert, und südlich der Themse mit Robert Rauschenberg, in der Tate Modern.

Painting rules: Die Titanen Arshile Gorky (links) und Mark Rothko (Mitte) in der «Abstract Expressionists»-Schau in der Royal Acadamy, Robert Rauschenberg (rechts) in der Tate Modern. (Courtesy RA, Tate)

Im Windschatten der Grossschauen nutzen die Galeristen die Marketinganstrengungen der Museen, bespielen ihre Räume mit viel Malerei, und zeigen, dass Pinsel, Öl und Leinwand auch in Zeiten von Instagram und Video nicht totzukriegen sind. Die Saatchi Gallery wartet mit «Painters’ Painters» auf. Die beiden Grossen – White Cube und Lisson Gallery – mit Abstraktem und Figürlichem.

Was:
Jason Martin, Lisson Gallery, bis 7. Januar.
Magnus Plessen, White Cube, Mason’s Yard, bis 14. Januar.
Painters’ Painters, Saatchi Gallery, bis 28. Februar.
Zaha Hadid, Early Paintings and Drawings; Serpentine Sackler Gallery, bis 12. Februar
Wo: London

Londons Galerie-Platzhirsche: Nicholas Logsdail von der Lisson Gallery, Jay Jopling, Gründer der White Cube (hier mit der Künstlerin Tracey Emin). (Bilder: blouinartinfo, artobserved) 

Nicholas Logsdail (an jeder Art Basel zu erkennen an seinen wachen, liebenswürdigen Augen und seinem haarlosen Haupt) und seine Lisson Gallery haben nicht nur den Londoner Kunstaufbruch der 60er-Jahre mitbegründet (er stellte früh Minimalisten und später prägende Künstler wie Anish Kapoor, Tony Cragg und Richard Deacon aus). Logsdail hat auch heute ein gutes Händchen, was jüngere Kunst betrifft. Zum Beispiel mit Jason Martin (geb. 1970 in Jersey). Er ist mit dem Riesenspachtel aus dem Baumarkt am Werk, und das Resultat seiner Art von Actionpainting ist ein Zwitter zwischen Malerei und Skulptur. Mit heftiger Geste aufgetragene Acrylschichten bilden sich zu wellenartigen Formationen, zu Wellenbrechern, zu Moränen, zu Ausstülpungen, zu Spalten, Graten, Felsvorsprüngen, Tälern: ein abstrakter Landschaftsmaler! Grandios.

Abstrakter Landschaftsmaler? Jason Martin in der Lisson Gallery. Links: «Payne’s Grey/ Ivory Black», rechts: «Untitled (Coral Orange / Vermilion)», Mitte: Ausstellungsansicht. (Bilder wenn nicht anders erwähnt: B. Ulmer)

Der zweite Platzhirsch in London, Jay Jopling mit seiner White Cube Gallery (er «machte» in den fernen Neunzigerjahren die Young British Artists Damien Hirst und Tracey Emin) demonstriert mit einer Schau des Hamburger Künstlers Magnus Plessen Trendaufgeschlossenheit. Von Plessens Leinwänden starren einen deformierte Menschen an, mit Fratzen und zertrennten Körpern und Gliedmassen, die der Maler — inspiriert von Bildern von Kriegsverwundeten des Ersten Weltkriegs — neu zusammengesetzt hat. Sie setzen malerische Kompositionsgesetze wie Perspektive ausser Kraft, und sie sind (leider) auch ein Echo darauf, was zurzeit das TV aus diversen Kriegsgebieten sendet.

Magnus Plessen, alle Bilder heissen «Untitled» 2016, aus der Ausstellung «The Skin of Volume».
Die Bilder stammen alle aus der «1914»-Serie (als Anspielung an den Ersten Weltkrieg).

Dritter Platzhirsch, die Saatchi Gallery, mit einem Auge immer auch auf Einschaltquote aus, präsentiert eine Schau, die einen grossen Anspruch hat: Künstler auszustellen, die die Künstler von morgen beeinflussen. Dexter Dalwood (1960 in Bristol geboren und vor ein paar Jahren zum Turner Prize nominiert) ist einer der Spannenderen unter den Auserwählten.

Bilder, die Spass machen, bei Saatchi: Links Dexter Dalwood, «Kurt Cobain’s Greenhouse», 2000, und Ryan Mosley, «Limb Dance», 2008.

Für seine «Post-pop-Historiengemälde» — sie scheinen mit leichter Hand konstruiert — bedient er sich Versatzstücken aus dem kulturellen Gedächtnis und aus Magazinen und lädt sie mit neuen Bedeutungen auf. Der L.A.-Künstler Raffi Kalenderian malt direkt das – oder besser sein – Leben ab; der Londoner Martin Maloney verzuckert in seinem kitschigen, karikaturhaften Bildern die Grossstadtrealität; der Amerikaner David Salle (hier der Veteran) schöpft aus der Klassik. Die Auswahl der Künstler — sie stammen alle aus der «ersten Welt», also London, New York, Los Angeles — lässt erahnen, dass bei Mister Saatchi die Globalisierung der Kunstwelt noch nicht stattgefunden hat.

Links: Dexter Dalwood, «Brian Jones’ Swimming Pool», 2000. Mitte: Martin Maloney, «Cul de Sac», 2004. Raffi Kalenderian, «Brad in the Studio», 2007.

Ein Überraschung im Reigen der Malerei-Schauen sind Zaha Hadids selten gezeigte, frühen Gemälde und Zeichnungen, zu sehen in der Serpentine Gallery. Ihre geometrischen Konstruktionen floaten durch den Raum, widersetzen sich aller Schwerkraft und sehen nicht zufällig aus wie dem russischen Konstruktivismus entlehnt. Gebäude wachsen in die Tiefe oder in den Himmel, Decken, Wände und Böden, aber auch öffentlicher und privater Raum fliessen ineinander über. Die Gemälde waren offenbar Resultat eines kollektiven Efforts von Zaha Hadid und ihren Mitarbeitern — ähnlich dem Studio von Rembrandt.

Zaha Hadid als Architektin und Malerin: Links die von ihr umgebaute Serpentine Sackler Gallery in den Kensington Gardens, rechts ein Gemälde von ihr, zurzeit dort ausgestellt. (© Hayes, Archdaily)

Wie gross die Allure einer Leinwand ist, an der sich ein Maler abgearbeitet hat, beweist übrigens allein der Anblick von jungen Menschen, die die Sensation von getrocknetem Öl auf Leinwand mit einem Selfie für ihren Instagram-Account festhalten. Irgendwie rührend.

Selfie vor einem Gemälde Raffi Kalendrians.

DSC_897700* Gastautorin Brigitte Ulmer lebt als freischaffende Kunst- und Kulturjournalistin in London und Zürich. Für die «Bilanz» berichtet sie über Kunst und verantwortet das jährliche Künstlerrating. Für Private View berichtet sie fortan regelmässig aus London. (Bild: Gian Franco Castelberg)

Was ist vaginaler Globalismus?

Ewa Hess am Mittwoch den 14. Dezember 2016

Liebe Leserinnen und Leser, ich war nicht dort – doch die Berichte aus Miami zeigen das Bild einer nachdenklich innehaltenden Messe (falls so etwas überhaupt möglich ist). Es waren weniger Menschen da, ob wegen Zika, Trump oder der berüchtigten Fair-tigue, also grassierenden Messemüdigkeit, wer weiss. Einige Galeristen erzählen, dass gewisse US-Sammler – wir wollen hier mal keine Namen nennen – sich reicher fühlten, weil sie bereits die kommenden Steuererleichterungen der Trump-Zeit witterten. Die Partys waren weniger ausgelassen, es herrschte auch eine Unsicherheit punkto Stil: Blingbling? Anti-Blingbling? Hatten wir schon.

Was: Art Basel Miami Beach, Talk «Vaginal Globalism» von Nadya Tolokonnikowa, presented by The Hole
Wann: 3. Dezember 2016
Wo: Nautilus South Beach Hotel (at the pool)

Nadya Tolokonnikowa unterrichtet die US-Kunstszene, wie man in einem repressiven Klima ein Mensch bleiben kann. Fotos: Purple Magazine

Nadya Tolokonnikowa unterrichtet die US-Kunstszene, wie man in einem repressiven Klima ein Mensch bleiben kann. Fotos: Purple Magazine

Die New Yorker Galerie The Hole hat es wieder mal richtig hingekriegt, indem sie auf Punk setzte. Kathy Grayson, die Gründerin von The Hole, ist selber eine extravagante Persönlichkeit, sie lud die Pussy-Riot-Nadya (Tolokonnikowa) nach Miami ein, um ein «politisches Event» im Hotel Nautilus zu performen. Nadya, oder Natalya, ist in der letzten Zeit nicht mehr so stark auf dem Radar der Weltpresse, doch sie hat ihr erstes Soloalbum herausgebracht, in dem sie unter anderem «Make America Great Again» singt und in grausamen Fantasien schwelgt, was mit dem einstigen Auswanderer-Traumland passieren könnte, wenn ein sozial konservatives Regime durchgreift (die CD kam einige Wochen vor der Präsidentenwahl heraus). Nadya verarbeitet in dem dazugehörigen Video die schlimmsten Alpträume im Stil von Orwell (wobei die bösen Polizisten allesamt Trump-Perücken tragen, igitt).

«Make America Great Again»: Polizisten mit Trump-Frisur verpassen der politisch Unangepassten eine Zwangs-Brustvergrösserung, rechts: Nadya als Trump. Fotos: Youtube

«Make America Great Again»: Polizisten mit Trump-Frisur verpassen der politisch Unangepassten eine Zwangs-Brustvergrösserung, rechts: Nadya als Trump. Fotos: Youtube

Ihr Vortrag in Miami erwies sich allerdings genau als das, was der Doktor der müden Messe verschrieben hat. Die Russin ist nämlich studierte Philosophin und entschied sich, der versammelten Kunst-Intelligenzija etwas über Michel Foucault zu erzählen. Das ist bei ihr allerdings nicht Angeberei, sondern erlebte Wirklichkeit, denn das Foucaultsche «Überwachen und Strafen» kennt sie aus eigener Vergangenheit; seine Gefängnis-Theorie konnte sie in der sibirischen Praxis überprüfen. Zum Erstaunen des versammelten Publikums erlebte man am Pool des schicken Hotels keine schrille Göre, die unausgegorene Sprüche klopft, sondern eine reife und leise sprechende junge Frau, die sehr persönliche Ratschläge für ein Leben unter einem autoritären Regime geben konnte.

Links: Nadyas Pool-Lecture in Miami, rechts in der Mitte Kathy Grayson von The Hole. Fotos: Purple Magazine

Links: Nadyas Pool-Lecture in Miami, rechts in der Mitte Kathy Grayson von The Hole. Fotos: Purple Magazine

Sie begann mit ihrem Steckenpferd der letzten Jahre, dem «vaginalen Globalismus», wobei sie nichts anderes meint als gleiche Rechte für alle Menschen. Warum vaginal? Weil alle, alle Menschen eben ursprünglich nicht aus Puerto Rico, Russland oder von der Elfenbeinküste kommen, sondern aus einer Frau gekrochen sind, was sie gleich und wertig macht. «Straight Outta Vagina» heisst auch ein Song zu diesem Thema auf ihrem letzten Album.

Subversiver Tanz im Pissoir: Aus dem Video «Straight Outta Vagina». Foto: Youtube

Subversiver Tanz im Pissoir: Aus dem Video «Straight Outta Vagina». Foto: Youtube

Diese Einstellung hat vieles für sich, schliesslich wurde Donald Trump, wie der Soziologieprofessor Roger Friedland in der neusten Ausgabe von «Lettre International» konstatiert, nicht als ein Politiker, sondern als ein Phallus gewählt (das Cover der neusten Nummer ziert übrigens ein schönes Bild der Schweizer Künstlerin Valerie Favre).

Friedland schreibt: «Bei dieser Wahl ging es um das Geschlecht des Staates. Donald Trump hatte sich als erigierter Phallus beworben, als sexuell aggressiver Mann, der die Regeln verletzen, Feinde zerschmettern und Amerika wieder stark machen könne. Trump war nicht mit einem politischen Programm angetreten. Die Leute haben seinen Schwanz gewählt.» Er schreibt auch: «Donald vs. Hillary: Das war ein Kampf zwischen der Faust und dem Schoss, dem Phallus und der Gebärmutter. Für Trump und seine Anhänger muss die männliche Bereitschaft zur Gewalt Vorrang haben vor der weiblichen Bereitschaft zur Fürsorge – für Kinder, für Frauen, für die Armen und die Einwanderer.»

Punk-Video: Die Ausgrenzung von Andersdenkenden als brutale Brandmarkung. Fotos: Youtube

Punk-Video: Die Ausgrenzung von Andersdenkenden als brutale Brandmarkung. Fotos: Youtube

In diesem Sinn hat Nadya den Künstlern, den Lebenskünstlern und allen Menschen, die wegen ihrer unorthodoxen Einstellung, ihrem Lebenswandel oder sexueller Ausrichtung mit Repressionen rechnen könnten, den Ratschlag gegeben, der ihr selbst durch die schwere Zeit geholfen hat: Helft anderen! An andere denken, die Schwächeren unterstützen: Das sei eine Einstellung, die stark macht. Unter Berufung auf Louis Althusser und Mikhail Bakhtin versicherte die artig in weisses T-Shirt und Pünktchen-Rock gekleidete Punkerin, dass «eine radikale Ehrlichkeit sich als eine gute Entscheidung für jeden Menschen erweisen könnte».

Nadyas Lehrmeister: Mikhail Bachtin (1895-1975), Louis Althusser (1918-1990), Michel Foucault (1926-1984). Fotos: Wikipedia

Nadyas Lehrmeister: Mikhail Bakhtin (1895–1975), Louis Althusser (1918–1990), Michel Foucault (1926–1984). Fotos: Wikipedia

Die charismatische Galeristin Kathy Grayson (The Hole, an der New Yorker Bowery zu Hause), eine Elevin des legendären Kunstpromotors Jeffrey Deitch, hatte also 100 Prozent recht, als sie die Pussy-Riot-Frontfrau bereits im Vorwahl-Herbst kontaktierte und sie um ihren Auftritt am Rande der Messe bat. Die politische Kunst sei so gut wie tot, sagte Grayson, doch es sei dringender denn je nötig, an das gesellschaftliche Grosse und Ganze zu denken. «Die Kunstwelt kann nicht so sorgenfrei bleiben, wie sie es jetzt zu sein scheint», gab Grayson in einem Interview mit dem Magazin «Purple» zu bedenken.

Nadyas Twitter-Account: Optimistischer Ausblick.

Nadyas Twitter-Account: Optimistischer Ausblick.

«Tut was!», predigte ihr Gast mit nur wenig russischem Akzent, «gründet alternative Kunsträume, schafft schon jetzt, aktiv, gesellschaftliche Oasen, in welchen sich alle Menschen entfalten können.» Die konstruktive Tat sei die richtige Antwort auf institutionalisierte Gewalt und soziale Repression, denn Worte allein haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Eine Portion Mut brauche es aber dazu schon. Am Schluss konnte die Punkfrau, deren Twitter-Account der Spruch «Pussy gonna win the race» ziert, sich einen kleinen Scherz doch nicht verkneifen. Sie erinnerte an die kalifornische Punkband «The Dead Kennedys», und fügte augenzwinkernd hinzu, dass «The Dead Trumps» rein phonetisch und auch von der Aktualität her fast der bessere Name wäre.

Glück oder Tod?

Ewa Hess am Mittwoch den 7. Dezember 2016

Liebe Leserinnen und Leser, die Zeiten von «anything goes» scheinen endgültig vorbei zu sein. Wir müssen uns entscheiden! Es wird von uns gefordert! Links oder rechts? Kunst oder Kitsch? Glück oder Tod?

Gut, die letzte Paarung scheint etwas krass zu sein. Stammt auch nicht von mir, sondern von Bernardo Paz. Mir ist der «moderne Fitzcarraldo» in Berlin begegnet, an einer tollen Kunstkonferenz der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», organisiert und moderiert von Ulrike Berendson. Es waren viele Exponenten der deutschen Kunstwelt dabei, auch die Leiterin des Frankfurter Museums der Modernen Kunst Susanne Gaensheimer oder die Geschäftsführerin der Documenta Annette Kulenkampff.

Die deutsche Kulturministerin Monika Grütters hielt den Eröffnungsvortrag (ganz toll, hier nachzulesen), und es fiel mir auf, mit welcher Ernsthaftigkeit in Deutschland über Kultur diskutiert wird. Vielleicht liegt das daran, dass Deutschland eine Ministerin hat, die nur für die Kultur zuständig ist. Unser Innenminister, zurzeit Alain Berset, hat ja auch noch das Gesundheitswesen und die Altersvorsorge unter seinen Fittichen, und das sind zwei schwierige Dossiers. Daneben erscheint Kultur als ein fröhliches Leichtgewicht.

Der «moderne Fitzcarraldo» Bernardo Paz in seinem tropischen Paradies in Brasilien (l.) und an der Kunstkonferenz der FAZ mit Kurator Jochen Volz. Fotos: Inhotim, ewh

Der «moderne Fitzcarraldo» Bernardo Paz in seinem tropischen Paradies in Brasilien (l.) und an der Kunstkonferenz der FAZ mit Kurator Jochen Volz. Fotos: Inhotim, ewh

Das ist sie aber nicht, und in keinem der Vorträge, so ernst sie auch waren, kam das so klar zum Vorschein wie im Auftritt von Bernardo Paz am Vortag der Konferenz. Paz ist im brasilianischen Bergbaugeschäft Milliardär geworden. In dem Bundesstaat, der Minas Gerais heisst, also allgemeine Minen, wo Eisen, Kalk, Mangan, Aluminium, Zink, Gold und Diamanten aus der Erde geholt werden – oft unter Anwendung von für die Umwelt ruinösen Methoden.

Gieriges Geschäft in Minas Gerais: Geförderte Turmaline, zerstörte Umwelt. Fotos: GIA

Gieriges Geschäft in Minas Gerais: Geförderte Turmaline, zerstörte Umwelt. Fotos: GIA

Paz war auch kein Heiliger in dieser Hinsicht, und heute, auf seine vergangene Sünden angesprochen, pflegt er darauf hinzuweisen, dass es nicht darauf ankommt, nie etwas Falsches gemacht zu haben, sondern darum, einsichtig zu werden. Vor zwanzig Jahren beschloss Paz, da war er gerade bei Ehefrau Nr. 4 angelangt (inzwischen sind es ihrer 6), dass er nicht mehr reicher werden wollte – und begann sein riesiges Stück Land zu einem botanischen Garten auszubauen und in ein Freiluftmuseum zeitgenössischer Kunst umzuwandeln. Die interessantesten Künstler der Gegenwart lud er ein und liess ihnen freie Hand. Auch dreissig berühmte Architekten haben inzwischen in Inhotim Pavillons gebaut – die selbst wieder künstlerische Perlen sind. Auf einer Fläche von 90 Hektaren schuf Paz seine Vision von einem Paradies auf Erden. Inhotim ist mittlerweile weit über die Grenzen Brasiliens bekannt – doch Paz kam nach Berlin, um etwas anderes zu erzählen.

Diskussionsrunde in Berlin, ganz links Tobia Bezzola, ehemals Kunsthaus Zürich, jetzt Museum Folkwang in Essen, rechts Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Fotos: Klaus Weddig

Diskussionsrunde in Berlin, ganz links Tobia Bezzola, ehemals Kunsthaus Zürich, jetzt Museum Folkwang in Essen, rechts Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Fotos: Klaus Weddig

Weisse Löwenmähne und stechender Blick, verkörpert Paz die Vorstellung eines Visionärs in geradezu idealtypischer Weise. Selbst in den funktionalen Räumen des Café Moskau in der Nähe des Berliner Alexanderplatz tritt der 66-Jährige mit der Grazie einer Wildkatze auf. Er spricht frei und fixiert mit dem Blick das Publikum, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. Wir können so nicht weitermachen, sagt der reiche Mann. Das Leben müsse wieder einfach werden. Nur eine Rückkehr zum einfachen Leben, in Schönheit und Frieden, sei unsere Rettung. Ein solches Refugium will er nun auf seinem Inhotim-Areal weiter ausbauen. Er breitet vor uns die Vision einer wieder rural gewordenen Erde aus, ohne Autos, ohne Stress. Menschen leben in Dörfern und bauen ihr eigenes Gemüse an. Man muss nicht mehr zur Arbeit – denn offensichtlich sind die Segen der modernen Telekommunikation aus Paz’ Paradies nicht verbannt. 

Das Glück der Koexistenz mit der Natur: Performance in Paz' Kunstoase. Fotos: Inhotim

Das Glück der Koexistenz mit der Natur: Performance in Paz’ Kunstoase. Fotos: Inhotim

Es gehe um eine Entscheidung – wollen wir den Tod oder wollen wir das Glück? Der weisshaarige Seher macht eine Pause. Und sagt dann einladend, einschmeichelnd: Das künstlerische Wunderland Inhotim sei eine Saat der Entscheidung fürs Glück. 

Bernardo Paz ist ein unglaublich charismatischer Typ, man möchte seinem weichen Brasilianisch, das vom deutschen Kurator Jochen Volz ins Englische übersetzt wird, endlos zuhören. Das alles klingt wie süsser Sirenengesang. Man muss sich nur für das Glück entscheiden, und schon kann man dem Stress und dem nervösen Gepiepse der modernen Welt entsagen, eigene Ananas (oder Rüebli) im Vorgarten kultivieren und in der Umgebung von schönster und nützlichster Kunst wie einst die Ureltern Adam und Eva glücklich leben. Doch dann sagt Paz etwas, das mich aufhorchen lässt. Er sagt: «Wir haben fünfzig Jahre mit der Moderne vergeudet. Diese intellektuell verquasste Kunst war eine Kopfgeburt, die uns in unserem Streben nach Glück behindert hat. Alle diese Picassos und Pollocks waren doch nur Boten einer dissonanten Welt, die mit dem wahren Bedürfnis der Menschen nach Harmonie und Eindeutigkeit nichts zu tun hatten. Erst die menschenfreundliche zeitgenössische Kunst nimmt das kreatürliche Bedürfnis ernst, positive Impulse des sozialen Friedens auszuleben.» 

Inhotim: Links die Skulptur des vielverehrten brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica von 1977, rechts ein Spiegel-Pavillon von Olafur Eliasson.

Inhotim: Links die Skulptur des vielverehrten brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica von 1977, rechts ein Spiegel-Pavillon von Olafur Eliasson.

Hm. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht! Je länger ich darüber nachdenke, kommt es mir immer stärker so vor, als ob gerade in dieser Überzeugung der fatale Widerspruch von Paz’ Vision zutage treten würde. Denn wenn es eine grundlegende Erkenntnis der Moderne gibt, dann ist es die, dass uns hienieden eben kein widerspruchsfreies Paradies beschieden ist. Dass eine wahre Schönheit nur um den Preis der ertragenen Hässlichkeit zu erlangen ist, dass die Risse, Kratzer und Dissonanzen im Ganzen genau so zur Conditio humana gehören wie die Sehnsucht nach der Eindeutigkeit und dem Frieden. Jeder Versuch, die Vorstellung von einem sorgenfreien Paradies zu realisieren, hat – wie die Geschichte eindeutig bewiesen hat – zu totalitären Systemen geführt, ob sie faschistisch oder kommunistisch angehaucht waren.

Inhotim: Links eine Skulptur von Edgard de Souza, rechts der Kachel-Pavillon von Adriana Varejao, (tolle jünger Künstlerin aus Brasilien, war die Gattin Nr. 5 des Minenmagnaten).

Inhotim: Links eine Skulptur von Edgard de Souza, rechts der Kachel-Pavillon von Adriana Varejao, (tolle junge Künstlerin aus Brasilien, war die Gattin Nr. 5 des Minenmagnaten).

Wie komplex es sein kann – und wahrscheinlich auch sein muss –, die kulturellen Prozesse nicht unter der wohlwollenden Schirmherrschaft eines Milliardärs, sondern im demokratischen Prozess der Rede und Widerrede zu steuern, zeigten die interessanten Diskussionen am nächsten Tag der Konferenz. Da wurde etwa verhandelt, wie gut die Museen für das polarisierte politische Klima in Deutschland gerüstet seien – vielleicht nicht gut genug. Wie wichtig ein breit abgestütztes bürgerschaftliches Engagement in der Vergangenheit und in der Zukunft für das sinnvolle Funktionieren der Kulturinstitutionen sei. Man spricht darüber, wie die revolutionäre Kraft der Kunst auf konstruktive Weise die Gesellschaft dynamisieren kann und wie eine stabile kulturelle Identität Ressentiments verhindert. 

Das Café Moskau im ehemaligen Ostberlin erinnert an Avantgarde-Träume von anno dazumal (links), Bernardo Paz und Jochen Volz bei der Diskussion. Fotos: Klaus Weddig

Das Café Moskau im ehemaligen Ostberlin erinnert an Avantgardeträume von anno dazumal (links), Bernardo Paz und Jochen Volz bei der Diskussion. Fotos: Klaus Weddig

Der Auftritt des modernen Fitzcarraldo, der sogar dem Darsteller Klaus Kinski aus dem gleichnamigen Werner-Herzog-Film gleicht, ist ein guter Einstieg in diese Gespräche. Erstens, weil er die charismatische Kraft einer Vision vorführt. Und zweitens, weil wir lächelnd und träumend einsehen, dass dass Dilemma nicht «Glück oder Tod» heissen kann. Das Leben ist eben alles: sowohl Glück wie Unglück, und der Tod gehört am Ende auch dazu.

Beitragsbild von Nino Andrès.