Politisches Roulette

Ewa Hess am Mittwoch den 19. Oktober 2016

Liebe Leserinnen und Leser, heute Dienstag erreicht mich die Nachricht, dass die kubanische Künstlerin Tania Bruguera sich auf ihrer Heimatinsel der Präsidentschaftswahl 2018 stellen will – als Kandidatin für das höchste Amt im Land. Sie erklärt ihre Absicht und die Gründe, die sie zu dieser Entscheidung führen, in einem Video, das während des Auftritts des Schweizer Superkurators Hans Ulrich Obrist am Creative Time Summit in Washington, DC, ausgestrahlt wurde. Hier schon mal das Video – der Verständlichkeit wegen, weil wir ja nicht alle des Spanischen mächtig sind – mit englischen Untertiteln.

Tania Bruguera, wir erinnern uns, ist die mutige Artivistin (ein neues Wort für künstlerisch inspirierte Aktivisten), die sich auf Kuba den Mund nicht verbieten liess und dafür Repressionen ausgesetzt war, sogar ins Gefängnis kam. Damals – Anfang 2015 – rief Bruguera ihre Landsleute dazu auf, sich auf den Revolutionsplatz in Havanna zu begeben und ihre Wünsche für das Land frei zu äussern. Jetzt ruft sie alle auf, als Präsident oder Präsidentin zu kandidieren. Sie geht schon mal mit dem guten Beispiel voran und sagt: Ich will.

Tania Bruguera zeigt Verletzungen, die ihr im kubanischen Gefängnis zugefügt wurden

Tania Bruguera zeigt Verletzungen, die ihr im kubanischen Gefängnis zugefügt wurden. (Foto: via Facebook)

Warum eigentlich nicht? Eine solche Kandidatur müsste nicht reine Utopie sein, wäre das nicht eben Kuba, wo das Einparteiensystem ein etwas weniger demokratisches Auswahlprozedere für die neue Präsidentschaft vorsieht. Wenn Raúl Castro, der 85-jährige Bruder von Máximo Líder Fidel, 2018 wie angekündigt zurücktritt, wird die kubanische Nationalversammlung – und nicht das Volk – den neuen Präsidenten bestimmen.

Wie die Zeit vergeht: Brüder Castro regieren Kuba seit mehr als einem halben Jahrhundert vierhändig.

Wie die Zeit vergeht: Die Brüder Castro regieren Kuba seit mehr als einem halben Jahrhundert vierhändig. (Fotos: NPR, AP)

Brugueras Aktion zielt genau auf diesen Umstand und möchte aufzeigen, dass auch in Kuba das Volk stärker in zukunftsträchtige politische Entscheidungen involviert werden könnte. Ähnlich wie in ihrer Performance auf dem Revolutionsplatz möchte Bruguera ihre Landsleute dazu aufrufen, «die Wahlrunde zu nutzen, um ein neues Kuba aufzubauen, eines, in dem die Kultur der Angst überwunden werden kann und die Verantwortung nicht nur einigen wenigen vorbehalten bleibt».

In ihrer Performance «Self Sabotage» in Paris und Venedig 2009 spielte Tania Bruguera während eines Vortrags, in dem sie ihre Gedanken zur politischen Kunst darlegt, russisches Roulette mit sich selbst. (Foto: via chicagoartmagazine.com)

In ihrer Performance «Self Sabotage» in Paris und Venedig 2009 spielte Tania Bruguera während eines Vortrags, in dem sie ihre Gedanken zur politischen Kunst darlegt, russisches Roulette mit sich selbst. (Foto: via chicagoartmagazine.com)

So weit so gut. Ich halte sehr viel von Artivisten aller Couleur. Die politische Dringlichkeit verleiht den künstlerischen Aktionen eine grosse Intensität und das kommt auch der politischen Aussage zugute. Ich bewundere die Mexikanerin Teresa Margolles, die den in ihrem Land herrschenden Drogenbandenterror mit erschütternden Kunstwerken anklagt (nicht selten benutzt sie dazu Flüssigkeiten, die Leichen entstammen).

Die Pussy-Riot-Girls haben mit ihren frechen Aktionen das geschafft, was nicht einmal der US-Präsident und andere Präsidenten der westlichen Demokratien vermögen: dem mächtigen Putin eine lange Nase zu ziehen (und sie mussten dafür in den Arbeitslagern schwer büssen).

Ich halte auch die Verdienste Ai Weiweis für sein Land China hoch – zeigt er doch mit seiner differenzierten Protesthaltung, dass man seine Heimat lieben und doch mit dem Kurs seiner Regierung nicht einverstanden sein kann. Auch er musste dafür ins Gefängnis und liess sich dadurch nicht brechen.

Artivisten (v.l.): Die Sängerin des Todes Teresa Margolles, die frechen Punkerinnen Pussy Riot während ihrer legendären Performance in einer Kirche in Moskau, Ai Weiwei, der eine typische Geste macht

Artivisten (v.l.): die «Todeskünstlerin» Teresa Margolles, die frechen Punkerinnen Pussy Riot während ihrer legendären Performance in einer Kirche in Moskau, Ai Weiwei und seine typische Geste. (Fotos: Wales News, AP, International Documentary Association)

Auch halte ich die Vorwürfe, dass diese Künstlerinnen und Künstler das alles nur machen, um ihre Karriere zu befördern, für zynischen Quatsch. Wer immer solche Vorwürfe von sich gibt, soll mal selbst, in seinem eigenen Kreis, den zivilen Ungehorsam versuchen, etwa dem Arbeitgeber gegenüber – mal sehen, wie einfach das ist.

Ob aber – und hier kommt mein grosser Zweifel – Künstler gute Präsidenten abgäben? Bei aller Liebe – sicher nicht. Warum das so ist, liegt am Wesen der Kunst. Was sie, die Kunst, so ausserordentlich macht, ist jede Missachtung der Pragmatik. In der Kunst darf man aufs Ganze gehen, Ungeheurliches ausprobieren, weil Kunst ein Labor ist.

Artist for President: Angesichts der absurden Züge des US-Wahlkampfs kommt man auch in den Staaten auf die Idee. Links: Kampagnen T-Shirt für den kalifornischen Skandalkünstler Paul McCarthy, rechts: Susanna Dakins Kampagne lief 2011 als Kunstaktion.

Artist for President: Angesichts der absurden Züge des US-Wahlkampfs kommt man auch in den Staaten auf die Idee. Links: Kampagnen-T-Shirt des kalifornischen Skandalkünstlers Paul McCarthy, rechts: Susanna Dakins Kampagne lief 2011 als Kunstaktion.

Darum sind Künstler oft tollkühn in ihren Fantasien. Sie sollten es sein. Und wenn sie in die Nähe von gefährlichen Geisteshaltungen kommen (wie etwa Jeff Koons, dessen Forderung nach totaler Verschmelzung mit dem Kunstwerk durchaus etwas Totalitäres hat), drücken sie das innerhalb eines ästhetisch organisierten Universums aus und niemand kommt dadurch ernsthaft zu Schaden.

Im Gegenteil, die Gesellschaft kann sogar von diesem «Flirt mit dem Teufel» profitieren. Die Kunstbetrachter können versuchsweise in den Abgrund blicken, seine Düsternis erkennen und in der wahren Welt der Versuchung gestärkt begegnen.

Tania Brugueras Werk «Untitled (Havana 2000)» wurde vom Museum of Modern Art in New York angekauft. Screenshot: Vimeo/Foto: MoMA Press Office

Tania Brugueras Werk «Untitled (Havana 2000)» wurde vom Museum of Modern Art in New York angekauft. Screenshot: Vimeo/Foto: Moma Press Office

Nach Kunstprinzipien regieren würde aber heissen, irrational regieren. Etwa Rom abbrennen lassen, um schöner dichten zu können – wie Kaiser Nero. Oder um eines ästhetischen Konzepts willen mit Menschenleben spielen. Wäre etwa Picasso ein guter Staatsvater gewesen? Niemals! Das weiss man nämlich aus seiner Biografie: Seine künstlerische Unerbittlichkeit ging mit seiner menschlichen Rücksichtslosigkeit Hand in Hand.

Strenges Urteil: Zumindest für hohe politische Ämter stimmt die Aussage des senegalesischen Sängers Yousou N' Dour. Foto via az quotes

Strenges Urteil: Zumindest für hohe politische Ämter stimmt die Aussage des senegalesischen Sängers Yousou N’Dour. Foto via az quotes

Darum kann ich mit dem streitbaren Kunstkritiker des «Guardian», Jonathan Jones, nicht einig gehen und «vote Bruguera» empfehlen. Ich werde jederzeit Brugueras Performance unterstützen, sie anschauen, darüber schreiben, sie weiterempfehlen, doch als wirkliche Präsidentin wähle ich lieber eine andere.

«No english, no english!»

Blog-Redaktion am Mittwoch den 12. Oktober 2016

Die Frieze Art Fair in London, heuer im 13. Jahr, war immer die widerborstigere, intellektuelle Schwester der Art Basel (meine These). Erstens, weil die Engländer unter alles, was sie sagen oder tun, einen doppelten Boden legen – somit auch unter das Treiben am Kunstmarkt.

Und zweitens, weil die Messe aus dem Schoss von Kunstmenschen stammt, den Uni-Oxford-gebildeten Gründern des Kunstmagazins «Frieze» (nämlich den 2014 zurückgetretenen Amanda Sharp und Matthew Slotover), und nicht von Businessmenschen. Die Kunsties hoben das Messeformat mit ambitiösen Auftragsprojekten auf ein neues Level. Sie verleihen ihr «Edgyness».

Auch eine Neuauflage: Portia Munsons «Pink Project: Table» (1994/2016) an der diesjährigen Frieze in London. Munson zeigte das Werk zum ersten Mal 1994 an der legendären «Bad Girls»-Ausstellung. Foto: Andy Rain (Reuters)

Auch eine Neuauflage: Portia Munsons «Pink Project: Table» (1994/2016) an der diesjährigen Frieze in London. Munson zeigte das Werk zum ersten Mal 1994 an der legendären «Bad Girls»-Ausstellung. Foto: Andy Rain (Reuters)

Was: Kunstmessen Frieze und Frieze Masters
Wo: Regent’s Park, London
Wann: 6. bis 9. Oktober 2016

Frieze London: Sammler in Sneakers, Urs Fischers (mitte) und Picasso bei Helly Nahmad

Frieze London: Sammler in Sneakers, Urs Fischers verstörende Porträts (Mitte) und Picasso bei Helly Nahmad.

Aus der Anfangszeit bleibt mir in Erinnerung, wie ich in einer von Kultdesigner Peter Saville geführten Gruppe durch die Messekojen gelenkt wurde, als wären wir eine Vögele-Reisegruppe. Ästhetik-Guru Saville steuerte zielsicher Galeristen an und befragte die Verblüfften nach dem Einfluss ihres Outfits auf die Geschäfte. Ein anderes Mal versuchte Christian Jankowski eine 65-Meter-Superjacht mit einem Aufschlagpreis von 10 Millionen Pfund, wenn sie mit einem Kunstzertifikat erworben wurde, an den Mann zu bringen. (Der Versuch misslang; so blöd sind Supersammler nicht.)

Dieses Jahr drang Subversives noch  stärker durch die Ritzen der goldenen Kunstmarktkulissen. Das heisst, wenn man sich die Musse für die «Projects» (dieses Jahr kuratiert von Migros-Museum-Mann Raphael Gygax) und Live-Performances nehmen konnte – und nicht wie der Sammler in seinen kanarienfarbigen Sneakers auf der Pirsch nach käuflicher Kunst von Stand zu Stand hetzte.

kreativität der Klo-Ladys: Toiletteninstallation von Julie Verhoeven (links und Mitte), virtuelle Realität von Jon Rafman

Kreativität der Klo-Ladys: Toiletteninstallation von Julie Verhoeven (links und Mitte), virtuelle Realität von Jon Rafman.

Im inneren Eingangsbereich und im Gartencafé bemerkte ich deshalb dunkelhäutige «Verkäufer», die auf einem Tüchlein auf dem Boden gefälschte Louis-Vuitton-Taschen feilboten, eine Aktion des britisch-norwegischen Duos Ali Eisa und Sebastian Lloyd Rees. «No english, no english» antwortete mir einer der Verkäufer auf meine scherzhafte Frage, ob so ein Stück zu kaufen sei.

Das bunte Treiben setzte sich fort in den Toiletten, die Julie Verhoeven in eine durchgeknallte Bühne der sonst übersehenen, aber offenbar genauso kreativen Toilettenaufseherinnen umgemünzt hat – samt formschönen Stoffnachbildungen von Exkrementen, fantasievollen Tampon-Arrangements und bunten WC-Papierrollen. Ist nicht jeder ein Künstler, also auch die Toilettenaufseherin der Frieze? Der Parcours durch die Gegenwelt der Kunstmesse kulminierte in Sibylle Bergs und Claus Richters dystopischem Theater «Wonderland Ave»: In einer modularen Wohnbox sah und hörte man roboterhafte Maschinen sprechen, die die Kontrolle über Menschen gewonnen haben. Spitzenmässige Performance.

Algorithmen und Roboter beherrschen den Menschen in der dystopischen Vision von Sybille Berg & Claus Richter, «Wonderland Ave», 2016 /links und Mitte), Eichard Billinghams Familienfotos

Algorithmen und Roboter beherrschen den Menschen in der dystopischen
Vision von Sibylle Berg & Claus Richter, «Wonderland Ave», 2016 (links und Mitte), Richard Billinghams Familienfotos.

Die digitale Welt hatte einen auch an den Kojen im Griff. Am Stand der Seventeen Gallery konnte man sich auf einer aus Metallelementen geformten Schlange niederlassen und sich eines dieser seltsam unförmigen Brillengestelle ins Gesicht setzen. Es stellte sich als Oculus Rift Headset von Amazon heraus, und es entführte in das rätselhafte Paralleluniversum des Kanadiers Jon Rafman.

Nicht weit davon war eine Art Go-go-Tanz-Plattform postiert, wo sich ein junger, bärtiger und sehr gut gebauter Mann im glänzend-silbernen Höschen vielversprechend vor dem Publikum produzierte. Allerdings nicht körperlich, sondern verbal: Der ägyptische Künstler Mahmoud Khaled rang sichtlich verzweifelt um Erklärungen, was die «neue Kunst von heute» in einer zunehmend gewaltdurchtränkten Gegenwart denn eigentlich sei.

Was ist Kunst? Was ist Kunst in Zeiten der Gewalt? ... fragt der ägytische Künstler hier. Mahmoud Khaled, Untitled (Go-go Dancing Platform) Speak, 2016, vor dem Eingan steht eine lange Besucherschlange

«Was ist Kunst? Was ist Kunst in Zeiten der Gewalt?», fragt der ägyptische Künstler hier. Mahmoud Khaled, Untitled (Go-go Dancing Platform) Speaks, 2016, vor dem Eingang der Messe steht eine lange Besucherschlange (rechts).

Bei Krisen empfiehlt sich bekanntlich ein Blick in die Vergangenheit, und so ist es kaum erstaunlich, dass seit einiger Zeit die Kunst der 60er- bis 90er-Jahre wieder evaluiert wird. Dazu kuratierte Nicolas Trembley eine Spezialsektion mit elf Galerien, die wegweisende Ausstellungen aus den 90er-Jahren wieder inszenierten. Das funktionierte wie in einer Zeitmaschine, und unversehens fand man sich in der ersten Soloshow von Wolfgang Tillmans in der Galerie Bucholz & Buchholz aus dem Jahr 1993 wieder, in der intime Bilder von Freunden auf Beifälligkeiten und unscheinbare Alltagsbilder stiessen; oder vor den Fotografien des desolaten Elternhauses des britischen Fotografen Richard Billingham bei Anthony Reynolds.

«The Nineties» – ach! Was waren das noch für Zeiten, als sich Künstler, ohne Superstudios und Superproduktionen, an der Realität rieben und in den Privatwohnungen ihrer Galeristen ausstellten!

9.Blick zurück in Nostalgie in der Spezialsektion «The Nineties», kuratiert von Nicholas Trembley: Wiederinszenierung von Wolfgang Tillmans Solo-Show aus dem Jahr 1993 (links), Tillmans im Talk, Tate-direktor Serota im Gespräch mit florian Berktold von Hauser & Wirth

Blick zurück in der Spezialsektion «The Nineties», kuratiert von Nicolas Trembley: Wiederinszenierung von Wolfgang Tillmans Soloshow aus dem Jahr 1993 (links), Tillmans im Talk (Mitte), Tate-Direktor Serota im Gespräch mit Florian Berktold von Hauser & Wirth.

Aber bekanntlich gehts bei Kunst auch um Transzendenz, und dafür bot die Parallelmesse Frieze Masters, eine eklektische Schatzkammer voller Preziosen von der Antike bis in die Gegenwart, Hand.

In das Angebot, das von Kunst vom Spätneolithikum über römische Marmorskulpturen bis zu megalomanen Picasso-Werken (bei Helly Nahmad) und James Rosenquist (Thaddaeus Ropac) und Sigmar Polke (Zwirner) reicht, fügten sich die Latex-Abzüge von Innenräumen der wiederentdeckten Schweizerin Heidi Bucher (bei Jean-Claude Freymond-Guth, neuerdings aus Basel) erstaunlich gut. Auffallend viele Kabinette und Wunderkammern begegneten mir, schon seit geraumer Zeit der Flavour of the Season. Tiepolo neben Georg Baselitz, William Blake neben Mariano Fortuny, Lucien Freud neben Goya und Ingres – das sprüht Funken!

Jäger und Sammler an der Frieze Masters: Am Stand von Hauser & wirth unter einem Arrangement von Werken von Francis Picabia bei Hauser & Wirth & Moretti

Jäger und Sammler an der Frieze Masters: Am Stand von Hauser & Wirth & Moretti unter einem Arrangement von Werken von Francis Picabia.

Bei Hauser & Wirth, der den Stand (zusammen mit Altmeister-Händler Moretti) in die Form eines Sammlerapartments goss, hingen florentinische Meister neben Picabia, Picasso neben Dieter Roth, Marlene Dumas neben Alexander Calder. Gemessen am Besucheransturm am VIP-Tag war der Stand ein Grosserfolg, und man sah Nicholas Serota, das Über-Ego der Tate, mit Florian Berktold smalltalken, derweil sich auf dem Sofa unter einem schönen Arrangement von Francis-Picabia-Werken Sammler wie der deutsche Flick-Erbe Christian «Mick» Flick ausruhten.

Der «wilde» Hauser & Wirth-Stand mit Skulpturen von Louise bourgeois, Hans Josephsohn und Paul McCarthy

Der «wilde» Hauser-&-Wirth-Stand mit Skulpturen von Louise Bourgeois, Hans Josephsohn und Paul McCarthy.

In witziger Entsprechung zum edlen Sammlersalon übrigens liess die global arbeitende Schweizer Galerie an der zeitgenössischen Frieze den Stand in die Messie-Höhle eines imaginären Künstlers verwandeln. Leere Bierflaschen neben millionenschweren Skulpturen von Louise Bourgeois und Paul McCarthy, an die Wand gepinnt Postkarten von Queen Elizabeth und Prince Charles neben Gemälden von Christopher Orr. Dazwischen standen dicht an dicht potenzielle Käufer.

Die Atmosphäre glich der eines Schlussverkaufs.

DSC_897700* Gastautorin Brigitte Ulmer lebt als freischaffende Kunst- und Kulturjournalistin in London und Zürich. Für die «Bilanz» berichtet sie über Kunst und verantwortet das jährliche Künstlerrating. Für Private View berichtet sie fortan regelmässig aus London. (Bild: Gian Franco Castelberg)

Natur? Kultur!

Ewa Hess am Dienstag den 11. Oktober 2016

Das Zeitalter, in dem wir leben, liebe Leserinnen und Leser der Private View (die sich übrigens mit Verspätung, aber umso begeisterter aus der langen Sommerpause zurückmeldet) also das Zeitalter wird seit Neustem «Anthropozän» genannt. Wie etwa Holozän, nur dass der Mensch drin steckt (anthropos, altgriechich). Wir sind nämlich in eine Ära eingetreten, in der der Mensch die Beschaffenheit seiner Umwelt selber gestaltet hat. Plastik in den Ozeanen, schmelzende Gletscher, Skipisten in hohen Bergen und abgeholzter Regenwald – wir kennen eigentlich die Liste unserer fragwürdigen Errungenschaften, wenn es um die Umwelt geht.

Was: Art Weekend im Hotel Castell in Zuoz
Wann: Ende September, wie jedes Jahr

Der Künstler Georges Steinmann, die Kuratoren Alexandra Blättler und Ruedi Bechtler, Alexandra Blättler gibt Einblicke in die Klöntal Triennale 2017

Der Künstler George Steinmann, die Kuratoren Alexandra Blättler und Ruedi Bechtler (Mitte); Alexandra Blättler gibt Einblicke in die Klöntal Triennale 2017

Doch der Mensch, meine liebe Damen und Herren, ist eigentlich nicht so blöd wie ihm immer nachgesagt wird. Darum denkt er darüber nach, wie er das schlechte Anthropozän noch in ein gutes Anthropozän wandeln könnte, fünf vor zwölf sozusagen. Da passt es bestens, dass an einer Veranstaltung, die Jahr für Jahr in achtungsgebietender Umgebung und schönster Natur, nämlich im Engandin, stattfindet, die Natur und die Kultur das Thema waren.

Kultur und Natur: Die atemberaubende Sicht aus dem Castell (Mitte), Blick auf die Garteninstallation von Lenzlinger/Steiner im Speisezimmer des Castell, ein letzter Sommervogel, fotografiert von der Art Weekend Teilnehmerin Madeleine Panchaud de Bottens

Kultur und Natur: Blick auf die hängende Garteninstallation von Lenzlinger/Steiner im Speisezimmer des Castell, die atemberaubende Sicht aus dem Castell und ein letzter Sommervogel, fotografiert von der Art-Weekend-Teilnehmerin Madeleine Panchaud de Bottens

Ich spreche natürlich vom Art Weekend des Hotels Castell. Von Castell haben wir hier schon erzählt und darum wissen die meisten Leserinnen und Leser der Private View, dass in den Räumen, in den Gängen und in der Umgebung des Castell die beste Avantgarde-Kunst unserer Zeit zu finden ist. Die Besitzer des Hotels sind eben der Kunst tief zugetan – es sind Regula und Ruedi Bechtler. Ruedi Bechtler ist zudem selber ein toller Künstler, auch in dieser Eigenschaft war er hier schon Thema.

Hausherr Ruedi Bechtler und Galeristin Monica de Cardenas am Tisch, eine Installation des Schweizer Künstlers Nicolas Party im Speisesaal, die Gaben des Waldes auf dem Teller

Hausherr Ruedi Bechtler und Galeristin Monica de Cardenas zu Tisch (links), eine Installation des Schweizer Künstlers Nicolas Party im Speisesaal, die Gaben des Waldes auf dem Teller

Für die Naturbetrachtung künstlerischer Art gesellte sich zu den Bechtlers eine junge Kuratorin, die in der letzten Zeit viel von sich sprechen macht, nicht zuletzt mit der kultigen Klöntal-Triennale, die im Sommer vor zwei Jahren oberhalb Glarus in unberührter mythischer Natur stattfand: Alexandra Blättler. Achtung übrigens: 2017 findet die nächste Klöntal-Triennale statt, nicht verpassen!

Das so verstärkte Power-Trio konnte drei ausserordentliche Künstler nach Zuoz locken, so dass die Teilnehmer des kleinen Seminars modernstes Denken kennen lernen konnten. (Ich nenne das mal «Seminar», aber ich will hier nicht verschleiern, dass diese Artweekends sehr viele angenehme Seiten haben, von Hamam bis Buffet, und dass also die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Kunst alles andere als ein Darben darstellt).

Die «kontaminierte» und die unberührte Landschaft: links das Tienschan-Gebirge, in dem die Cyanid-Lauge alles verseucht und die Engadiner Alpen

Die «kontaminierte» und die unberührte Landschaft: links das Tienschan-Gebirge, in dem die Cyanid-Lauge alles verseucht und rechts eine wunderbare Engadiner Matte

Was sich da aber in Zuoz auch gezeigt hat, meine Damen und Herren, ist, dass das moderne Denken nicht über Nacht entsteht. Denn alle unsere Mentoren an diesem Weekend sind schon seit Jahrzehnten daran, Natur, Kunst, Intelligenz und Menschlichkeit zu vernetzen. Nehmen wir mal den Berner George Steinmann. Er ist DER Pionier der künstlerischen Forschung über die Natur, das Wasser, die Umweltverschmutzung, den Klimawandel etc. 2011 zeichnete ihn die Universität Bern sogar mit dem Ehrendoktortitel aus! Diese Ehre wurde vor ihm nur drei anderen Künstlern zuteil, nämlich Hermann Hesse, Alberto Giacometti und Ilja Kabakov!

Steinmann, 66, eine durchaus energetische und humorvolle Figur, meint es mit seinem Engagement bitter ernst. Er reist seit Jahren furchtlos an Orte, die auf die schlimmste Art von den zivilisatorischen Übeln befallen wurden. Er nennt sie  «kontaminiert». Dort realisiert er Kunstwerke, welche die Kontaminierung erstens sichtbar machen, und zweitens ihr andere Kräfte entgegensetzen, doch davon später. Steinmann war also schon in Monchegorsk auf der Halbinsel Kola in Russland, wo in einem unglaublich schädlichen Prozess Nickel abgebaut wird oder in Tunduk in Kirgistan, wo in einer Goldmine Tagbau mit Cyanidlauge betrieben wird. Die giftigen Abfälle werden dann im Permafrost eingefroren (dass dieser bald schmelzen könnte, interessiert niemanden).

Die Heidelbeer-Kur: Georges Steinmanns Fotografien vom Schweizer Wald und russischer Pipeline, fixiert mit natürlichem Myrtillin, dazwischen das, was Steinmann «hard core beauty» nennt: in Hochtemperatur geschmolzener Sondermüll

Die Heidelbeer-Kur: George Steinmanns Fotografien vom Schweizer Wald und einer russischer Pipeline, fixiert mit natürlichem Myrtillin, dazwischen das, was Steinmann «hard core beauty» nennt: in Hochtemperatur geschmolzener Sondermüll

Dort, an diesen schrecklichen Orten, nimmt Steinmann Proben, macht Fotos, richtet Installationen ein. Um selber zu gesunden, sucht er danach Wälder auf. Es gebe nicht mehr viele echte Wälder, sagt er, einige kennt er aber gut: in Polen, Finnland, Wallis oder bei Bern auf der Hohgant. Da war er soeben, um Heidelbeeren zu sammeln: Acht Liter als Farbsubstanz für die Wintersaison. Steinmann hat es nämlich mit der Heidelbeere, die in ihr enthaltene Substanz Myrtillin habe heilende Wirkung auf die Augen. Darum fixiert der Künstler seine Bilder mit Heidelbeersaft. Das gibt ihnen einen schönen blauen Farbstich, und auf den Betrachter wirkt es dahingehend, dass er die wahre Schönheit besser sieht (so hofft man).

Kommunikation mit der Natur: Die Quallen und ihr Versteher, Künstler Mark Dion. Rechts: Georges Steinmann performt den Gletscher-Blues auf einem schmelzenden Gletscher

Kommunikation mit der Natur: Die Quallen und ihr Versteher, Künstler Mark Dion. Rechts: Georges Steinmann performt den Gletscher-Blues auf einem schmelzenden Gletscher.

Es ist zu spät für Pessimismus, sagt Steinmann. Jeder von uns müsse sich aktiv einmischen. «Ohne Teilhabe, ohne allgemeines Mitgefühl kommen wir aus dem Schlamassel nicht heraus!» Die Natur sei erschöpft, sie löse sich auf. Kürzlich reiste Steinmann zu den schmelzenden Gletschern und spielte ihnen den Blues auf seiner Gitarre – er ist nämlich auch ein toller Musiker. Die Tücher, mit welchen «die verzweifelte Tourismusindustrie» die eisigen Riesen bedecke, seien ihm wie Leichentücher vorgekommen.

Auch Mark Dion, der andere Künstler-Wissenschafter, der in Zuoz war, glaubt ans Einmischen. Seine Methode erinnert an gute Pädagogik. Er stellt Missstände fest und umgibt sie als Künstler mit liebevoller Anteilnahme. Seine Arbeit «The trouble with jellyfish» ist ein schönes Beispiel davon.

Dion, 55, geboren in Massachussets, macht sich nämlich Sorgen um die Ozeane. Es ist bekannt, dass der Mensch ihnen Übles antut. Statt aber sich in der Negativität zu ereifern, stellt Dion einen überraschenden Zusammenhang fest: Alles Böse, was wir den Ozeanen antun, ist gut für die Quallen. «Wir kreieren einen perfekten Lebensraum für Quallen», sagt Dion. Denn ja, Quallen haben es gerne warm (globale Erwärmung), sie können nicht weit schwimmen, lieben darum Schiffe, an denen sie sich festhalten können, aus dem gleichen Grund mögen sie die Kehrichtansammlungen in der Tiefe und sie sind froh, dass wir den Fischen den Garaus gemacht haben, denn diese sind ihre natürlichen Feinde.  Und vor allem: Quallen pfeifen auf Sauerstoff. Für sie ist es ganz okay, wenn die Ozeane ersticken.

Das Wilde und wir: Künstlerin Dana Sherwood macht essbare Skulpturen für Waschbären und filmt sie beim Verzehr, Mark Dion hat in einem unterirdischen Verlies in Norwegen eine schlafende Bärin auf einem menschengemachten Abfallberg installiert

Das Wilde und wir: Künstlerin Dana Sherwood macht essbare Skulpturen für Waschbären und filmt sie beim Verzehr, Mark Dion hat in einem unterirdischen Verlies in Norwegen eine schlafende Bärin auf einem menschengemachten Abfallberg inszeniert.

«Der Ozean spricht zu uns», sagt Dion, «und seine Sprache sind die Quallen». Dion machte ein Workshop, in dem die Menschen versucht haben, mit den Quallen den Frieden zu schliessen. Warum auch nicht? Sie bestehen schliesslich aus Wasser und Collagen, bestimmt können wir auch das irgendwie nutzen.

Während also Dion über Quallen nachdenkt (und in einer anderen Arbeit auch PR für verhasste Möwen macht) und somit das angespannte Verhältnis zwischen Mensch und Natur therapeutisch beeinflusst, ist seine Frau Dana Sherwood, auch Künstlerin, obsessiv mit den Wildtieren beschäftigt, die sich nahe an uns heranschleichen. Die 39-jährige Künstlerin (sie war in Zuoz mit ihrem 8 Wochen alten Baby) stellt aus Lebensmitteln (aus solchen, die für Tiere gut sind) skulpturale Objekte her, die sie in der Nacht vor die Tür ihres Hauses in Long Island stellt. Dann filmt sie im Dunkeln die Waschbären, die ihre Kunst schmausen kommen. Am Tag aquarelliert sie possierliche Szenen, die sich im Bereich zwischen dem Wilden und dem Domestizierten abspielen.

Inspiration Kunst: Art-Weekend-Teilnehmerin und Direktorin der Economie Suisse Monika Rühl (Bild links, rechts im Bild), Mark Dion und Dana Sherwood mit ihrem Baby, Elisabeth Garzoli und im Gespräch mit der Künstlerin Maria Loboda und dem Direktor der Bundeshalle Bonn Rein Wolfs, Gianni Garzoli

Inspiration Kunst: Art-Weekend-Teilnehmerin und Direktorin der Economie Suisse Monika Rühl (Bild links, rechts im Bild), Mark Dion und Dana Sherwood mit ihrem Baby, Elisabeth und Gianni Garzoli im Gespräch mit der Künstlerin Maria Loboda und dem Direktor der Bundeskunsthalle Bonn, Rein Wolfs.

Fazit, liebe Leute: Es ist zu spät für den Pessimismus und auch zu spät fürs Hadern. Wir müssen Koexistieren! Wie die Flechten werden, sagt Georges Steinmann. In diesen koexisistieren eigentlich zwei Spezies: Moos und Alge. So müssen wir das auf der Erde machen, das Wilde, das Kontaminierte, das Reine und das Verdorbene in uns aufnehmen, die Schöhnheit in den Gegensätzen sehen und die Widersprüche auf diese Weise versöhnen. Und dazu brauchen wir Kunst. Amen.

Das Art-Weekend-Ritual: Beim Einnachten besucht man den Sky Space von James Turrell

Das magische Art-Weekend-Ritual: Beim Einnachten besucht man den Sky Space von James Turrell neben dem Castell