#Bebbimegalife

Claudia Schmid am Mittwoch den 29. Juni 2016

Ist es ein schlechtes Zeichen für Zürich? Mehrere dynamische Junggalerien und Galerien wechseln nach Basel. Am Rande der Art Basel gab zu reden, dass Jean-Claude Freymond-Guth die Stadt gewechselt hat. Denn er hat mit seinem intelligenten Programm im Löwenbräu in Zürich wichtige Akzente gesetzt (Private View berichtete hier). Mit seiner ersten Ausstellung in Basel hat er auch sofort den Vogel abgeschossen: Hannah Weinberger, die eine Einzelausstellung in den neuen geheimnisvollen Herzog-&-de-Meuron-Räumen des heimkehrenden «Bebbi» Freymond-Guth hat, bekommt kurz nach der Vernissage den mit 20’000 Franken dotierten Kunstpreis der Schweizer Guggenheim-Stiftung (zum Preis gehört auch ein Finanzierungsbeitrag an eine spätere Ausstellung). Glückwunsch, hier geht es erst mal zum Vernissagenbericht unserer Basler Korrespondentin Claudia Schmid:

Zum gigantischen Galerienraum geht es hinunter: Die Galerietreppe und der Galerielift, mit Jean-Claude Freymond-Guth und der Designerin Julie Egli

Zum gigantischen Galerienraum geht es hinunter: Die Galerietreppe und der Galerielift, mit Jean-Claude Freymond-Guth und der Designerin Julie Egli.

Was: Previewtage der neuen Galerie Freymond-Guth & Eröffnung der Ausstellung «On seen» von Hannah Weinberger
Wann: Samstag 4. Juni, und Sonntag, 12. Juni 2016
Wo: Riehenstrasse 90 B (im Innenhof), Basel

Jean-Claude Freymond-Guth führt ein #Bebbimegalife. So heisst einer seiner lustigen Hashtags, den er auf Facebook beim Posten von Bildern seiner neuen Galerie benutzt. Wir finden den Ausdruck treffend, denn er sagt in einem Wort, worum es hier geht: Der Galerist, ursprünglich ein «Basler Bebbi», ist in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Und dort ist es gerade mega. Denn der 37-Jährige lebt und arbeitet wieder in der Rheinstadt – in einer neu gebauten Galerie. Im gleichen Komplex befindet sich auch seine Wohnung.

Hannah Weinbergs Installation: Ein Spiel mit Reflexionen, Klängen, Bildern

Hannah Weinbergs Installation: Ein Spiel mit Reflexionen, Klängen, Bildern.

Nach Jahren in Zürich, zuletzt als Mieter im Zürcher Löwenbräuareal, entschied sich Freymond-Guth, auf Basel zu setzen. «Basel ist im Moment gerade einzigartig, was die Mischung aus Freiraum, Do-it-yourself, Hochkultur und Dynamik angeht.» In Zürich-West, wo sich das Löwenbräu befindet, war zuletzt «alles ziemlich kühl und durchgedacht. Es leben ja fast nur noch Expats dort.» Freymond-Guth ist nicht der Einzige, der die Museumsstadt Basel als Galerienstadt wiederentdeckt. Auch die Zürcher Oskar Weiss und Oliver Falk erhoffen sich etwas vom Rheinknie. Seit diesem Frühjahr betreiben sie an der Rheingasse die Galerie Weiss Falk.

Einblicke in die von Herzog & de Meuron entworfenen Räume. Links «On see» von Weinberger, rechts der Showroom mit Werken von Heide Bucher und anderen

Einblicke in die von Herzog & de Meuron entworfenen Räume. Links «On seen» von Weinberger, rechts der Showroom mit Werken von Heidi Bucher und anderen Künstlern der Galerie.

Im Fall von Freymond-Guths neuem Standort handelte es sich um ein Angebot, das er nicht ausschlagen konnte: Umgebaut von Herzog & de Meuron, birgt das architektonische Kleinod in den ehemaligen Räumlichkeiten des Basler Denkmalpflege-Archivs eine turnhallengrosse Ausstellungsfläche (850 Quadratmeter!). Aber eben nicht am Tageslicht, sondern im Keller. Den Untergrund muss man sich erst mal erobern – mittels einer steilen Wendeltreppe, die 41 Stufen nach unten führt. Unten Bunker-, oben Bungalow-Feeling. Ein kraftvoller Mix, der begeistert.

Location, location. location: Grad hinter der Messe Basel gelegen, wurde Jean-Claude Freymond-Guths «boîte magique» zum beliebten Treffpunkt der Messe

Location, location, location: Unweit der Messe Basel gelegen, wurde Jean-Claude Freymond-Guths «boîte magique» zum beliebten Treffpunkt der Messe.

Zudem liegt das neue Domizil von «Freymond-Guth Ltd. Fine Arts Depuis 1788» – so der stilvolle Claim der Galerie – nur wenige Meter hinter der Messe Basel. Eine bessere Position während der Art Basel gibt es nicht. Und eine friedlichere Aussicht auch kaum: Die Galerie liegt am Rande eines blühenden Gemeinschaftsgartens mitten in einer Siedlung. Die gestressten Messebesucher kamen in Scharen, und man wusste nicht recht, ob sie hingebungsvoller die Kunst verschlangen oder einfach nur ins Grüne schauten.

Friedliche Aussicht ins quartier: Ins Grüne schauen aus der Box heraus

Friedliche Aussicht ins Quartier: Ins Grüne schauen und Oranges trinken in der Box.

Der Eingangsraum besticht durch eine offene Front; die wie ein Riesenfenster wirkt. Man setzt sich in den «Rahmen» und ist gut drauf. Auf dieser Ebene gibt es auch eine Bar, Transportkisten als Hocker, dahinter das grosszügige Büro der Galerie mit Innenhof, daran schliesst sich die private Wohnung von Freymond-Guth an.

Künstlerin Hannah Weinberger (links) und die vielen Besucher ihrer Vernissage

Künstlerin Hannah Weinberger (links) und die vielen Besucher ihrer Vernissage.

Von aussen würde man niemals drauf kommen, dass sich im Untergeschoss eine Galerie versteckt. Eine Boîte Magique sei das, sagt Freymond-Guth, der die letzten Tage Freunde und Bekannte in sein neues Paradies eingeladen hat. Alle kamen vorbei: viele junge Künstler, darunter Pedro Wirz oder Johannes Willi, Galeristen wie Giangi Fonti mit Heike Munder und Familie, Leute von Herzog & de Meuron, darunter Senior Partner Ascan Mergenthaler, oder Liste-Chef Peter Bläuler. Es war ein toller Friends-and-Family-Anlass mit vielen schreienden Kindern und Babys.

Vernissagegäste: Roger Meier (Neutral Innovation), XY von xy, Giangi Fonti, Galerist aus Neapel

Vernissagegäste: Roger Meier (Neutral Innovation), Kiki Seiler vom Kunstraum Riehen, Giangi Fonti, Galerist aus Neapel und Partner der Migros-Museum-Chefin Heike Munder.

Eine Wendeltreppe führt nach unten (für Faule gibts auch einen Warenlift), dort beginnt der Kunstparcours von Hannah Weinberger. Die in Basel lebende Künstlerin hat mit «On seen» eine perfekt auf die Räumlichkeiten abgestimmte Video- und Audioinstallation geschaffen – es ist die bislang grösste Ausstellung der omnipräsenten Senkrechtstarterin (sie steigt auf der «Bilanz»-Künstlerliste direkt auf Platz 38 ein). Ihre Filme, auf denen schwimmende Quallen, Seifenblasen, Baustellen, ein kauendes Kamel im Amsterdamer Zoo, wippende Plastikmännchen im Schaufenster, Feuerwerke und weitere wundersame Dinge des Lebens zu sehen sind, führen immer tiefer in die Kellerräumlichkeiten hinein.

Rechts das Video mit dem Kamel (aus Weinbergers Installation), links die Bloody Mary Fraktion: Künstlerinnen Selina Grüter, Gina Folly und Michèle Graf

Links die Bloody-Mary-Fraktion mit den Künstlerinnen Selina Grüter, Gina Folly und Michèle Graf. Rechts: Ein kauendes Kamel aus dem Amsterdamer Zoo, zu sehen in der Bild-, Sound- und Ahnungslandschaft von Hannah Weinberger bei Freymond-Guth.

Der riesige, dunkle Ausstellungsraum mit seinen schweren Bunkertüren wird so nicht nur durch die Videos, sondern auch durch schwere Vorhänge geprägt, die einen, geheimen Gängen gleich, in neue Räume lotsen, und auf denen auch Videos gezeigt werden. Auf den Betonwänden und den Vorhängen entstehen, durch Reflektionen von Videos, plötzlich eigenständige Lichtinstallationen. Auch speziell komponiert wurden die Tonspuren. Weinberger ist denn auch als Audiokünstlerin bekannt, viele ihrer Arbeiten bestehen hauptsächlich aus Klang. Hier bei Freymond-Guth vermischt sich etwa der Klang, der entsteht, wenn man die Wendeltreppe runterkommt, mit dem metallenen «Wendeltreppen»-Schritt aus Lautsprechern.

Fenstergespräche: In und vor der Boîte versammelt sich das Kunstvolk gerne. Links Künstler Pedro Wirz (der Bart ist etwas kürzer)

Fenstergespräche: In und vor der Boîte versammelt sich das Kunstvolk gerne. Rechts Künstler Pedro Wirz (der Bart ist etwas kürzer).

«On seen» ist ein prominenter Auftritt für die erst 28-jährige Hannah Weinberger, die noch vor drei Jahren die Master-of-Fine-Arts-Schulbank an der ZHDK drückte. Mit einem weiteren Teil ihrer Video-Komposition war sie während der Art auch an den Swiss Art Awards zu sehen – wenige Meter von der Galerie entfernt. Neben Weinbergers Ausstellung ist im Galeriekeller übrigens auch Freymond-Guths Showroom untergebracht. An den rohen Betonwänden hängen Arbeiten von Heidi Bucher, Sylvia Sleigh oder Sullivan Billy. Aber zurück zur «Boîte magique» oben. Als hätte Hannah Weinberger eine Audiospur darüber gelegt, erklingt jetzt auch noch das Orchester des Circus Knie, der auf der Rosentalanlage bei der Messe gastiert.

Ach, diese Ex-Bebbi! Sie wissen, dass es sich neben einem Zirkus bestens leben lässt  – ob es Knie ist oder die Art Basel, spielt eigentlich keine Rolle

Das geheimnisvolle Logo der Galerie - der Eintritt in die Welt des Galeristen Jean-Claude Freymond-Guth

Das Logo der Galerie – die Pforte zur Welt von Jean-Claude Freymond-Guth.

 

Fun mit «Hörsoog e Dümüron»

Blog-Redaktion am Mittwoch den 22. Juni 2016

Seit ihrer Eröffnung 2001 führt die Tate Modern in London in ihrer ganz und gar unbritischen Unbescheidenheit das Rudel der neuen Supermuseen an. Und wenn sie ihre spektakuläre Erweiterung ausgerechnet während des VIP-Previews der Art Basel der Presse vorstellt, kann das kein Zufall sein. Vielmehr ist es ein Beweis dafür, dass ein Paradigmawechsel ansteht. Kunst soll der Umarmung des Markts entrissen werden. Wie? «Private View»-Gastautorin Brigitte Ulmer* hat sich am ersten Publikumstag in der neuen Tate umgeschaut. Hier ihr Bericht.

Switch House, die neue Erhöhung der Tate Modern: der Volksmund nennt sie «Gedrehte Zigarette» oder «dekonstruierte Pyramide»

Die neue Erhöhung der Tate Modern: «Eigernordwand», «Gedrehte Zigarette». (Bild: Tate)

Was: Das neue Switch-House der Tate Modern in London
Wann: Freitag, der 17. Juni 2016, erster Tag mit Publikum

Sind Sie schon mal vor einem lebenden Gemälde gestanden, das sie mit den Augen fixierte? Am vergangenen Freitagnachmittag, dem ersten Eröffnungstag der neuen Tate Modern, stand ich in den Gedärmen des neuen «Switch House», den «Tanks», vor dem leibhaftigen «Cargador de Flores», dem Blumenträger von Diego Rivera. Ein Mann im weissen Pullover kauerte auf allen Vieren am Boden, eine Frau balancierte auf seinem Rücken und mimte den Blumenkorb, eine weitere rückt die Last zurecht. Das «Gemälde» kündigte sich praktischerweise gleich selbst an, sonst hätte ich es nicht erkannt, und zwar so, wie es die Buchhalter der Kunstgeschichte lehren: Künstler, Werktitel, Jahrzahl (1930) und in welcher Museumssammlung es sich befindet (Museum of Modern Art San Francisco). Einen Augenblick später formierten sich fünf Männer und Frauen in T-Shirts und Jeans zu Delacroix’ Gemälde «La liberté guidant le peuple». (Die Flachversion hängt im Louvre in Paris).

Eine performance stellt Delacroix’s Gemälde «La liberté guidant le peuple». (Die Flachversion hängt im Louvre in Paris).

Links: Eine Performance stellt Delacroix’ Gemälde «La liberté guidant le peuple» nach. Rechts: Hängende Aluminiumwürste aus Marisa Merz’ Küche. (Bilder: B. Ulmer)

Wie symbolisch! Alexandra Piricis und Manuel Pelmus’ Performance «Public Collection of Modern Art» mimte nämlich gleich die Gesamtstrategie der neuen Tate, die Nicholas Serota etwa so formulierte: Nicht die Kunst, sondern die Menschen sollen im Zentrum stehen. Nicht nur die Kunst-«Produkte», sondern auch Prozesse. Und das, was wir, als Betrachter, mit der Kunst anstellen. Auf gut Deutsch: Partizipation! Interaktion! Das passt auch zu dem Satz, den Yoko Ono prägte, und der irgendwo in einem der vielen Räume an die Wand projiziert wird: «I thought art was a verb, not a noun» (Ich dachte, Kunst sei ein Verb, nicht ein Substantiv).

Das Switch House, im eleganten Strickmuster aus Backsteinen

Das neue Switch House: Aussen ein elegantes Strickmuster aus Backsteinen, drinnen grosszügige Treppen und Flächen.

Wird die Tate, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, ihre Aufgabe nicht nur der Kunstvermittlung und Forschung, sondern auch der aktiven Integration der Besucher wahrnehmen zu wollen, ihrem Anspruch gerecht? Dafür könnte der Tag des ersten Massenandrangs ein erster Gradmesser sein. Ich beobachtete Teenager, die sich in Ricardo Basbaums käfigartigen Behausungen auf Kissen wälzen, ich lausche einem Chor von 500 Hobbysängern, die dutzendfach «Brick Brick Brick» intonierten, ich sehe Kleinkinder in Windeln über Skulpturen wanken, erwachsene Menschen hinter Performern hinterherrennen.

Und ich lausche Frances Morris, der neuen Direktorin der Tate Modern, die den Frauenanteil der Künstlerräume mit einem Schlag auf 50 Prozent erhob. Mit einem weissen T-Shirt des japanischen Kleiderbrands Uniqlo (ein Sponsor) bekleidet, spricht sie vor Louise Bourgeois’ Käfig über ihr Trauma und die tiefe Symbolik ihrer Kunst. Die Message ist klar: Wir wollen nahbar, demokratisch sein. Das regt die Besucher unübersehbar an. Und zwar nicht einfach zum Cüpli-Trinken.

Blick von der Brücke in den Turbinenhalle und die Tanks. Von ferne Ai Wei Weis zusammengeschraubter Baum. «Tree 2010» und die neue Tate-Direktorin im Uniqlo-shirt erklärt persönlich den Besuchern ein Werk von Louise Bourgeois

Links: Blick von der Brücke in die Turbinenhalle und die Tanks. Rechts: Die neue Tate-Direktorin Frances Morris im Uniqlo-Shirt erklärt den Besuchern ein Werk von Louise Bourgeois.

Schon Herzog & de Meurons Neubau zu durchwandeln, aktiviert bei mir mit seinen vollkommen neuartigen Raumerlebnissen Gehirnregionen, von denen ich gar nicht ahnte, dass sie existierten. Das Haus, das schon vor Inbetriebnahme Kosenamen erhielt wie Eigernordwand, gedrehte Zigarette, dekonstruierte Pyramide, wirkt von aussen wie eine Festung.

Doch welche Offenheit herrscht innen! Von den unterirdischen Tanks, wo Performances stattfinden und auch ein labyrinthischer Raum mit dem Achtkanal-Video des preisgekrönten thailändischen Künstlers Apichatpong Weerasethakul aufwartet, zieht einen förmlich ein Sog über die mal weit ausladende spiralförmige, dann schmale Treppe bis in den zehnten Stock, von wo man einen spektakulären Blick über die Stadtlandschaft hat. Dazwischen wartet jedes Stockwerk mit überraschenden Ein- und Ausblicken, und seien es bloss die formvollendeten Bänke aus Gussbeton oder das Licht- und Schattenspiel der Backsteinmuster oder die zwei Brücken hinüber zum «Boiler House». Oder eben diese Treppe: Sie ist eine Skulptur für sich, elegant, generös, raffiniert, Marke «Hörsog e Dümüron», wie die BBC-Kommentarin unser Schweizer Architektenduo nannte.

Licht- und Schattenspiel à la «Hörsög e Dömüron», farbige Installationen, Kinder, die auf Skulpturen mit Puppen spielen

Licht- und Schattenspiel à la «Hörsoog e Dümüron», Installationen zum Mitspielen, Kinder, die auf Skulpturen mit Puppen spielen (es ist Marwan Rechmaouis «Beirut Caoutchouc»).

Stiehlt die Architektur der Kunst die Show, wie im Vorfeld befürchtet wurde? Nicht für mich. Sie ist eine wunderbare, ausladende Bühne für Kunst, die viel, sehr viel Raum beansprucht. In dieser riesigen, in einem Strickkleid aus Backsteinen gestalteten Ausstülpung, die aus der alten Powerstation herauszuwachsen scheint, mit ihrer verwirrenden, schwer zu begreifenden Zickzack-Form, fühlte ich mich wie auf einer nicht enden wollenden Flânerie durch Zeiten (60er-Jahre bis zur Gegenwart) und Geografien (Kunst aus 50 Ländern). Doch im Unterschied zum echten Flâneur wird man immer wieder einmal von seiner beobachtenden Haltung heraus zur Interaktion herausgefordert.

Jeder darf sich amüsieren: Das Publikum kam, machte mit und postete auf Instagram

Museum zum Herumtollen: Das Publikum kam, machte mit und postete auf Instagram.

Ach ja, und die Kunst: Der neuen Direktorin Frances Morris, die unweit der Tate Modern im einst armen Süd-London aufgewachsen ist, ist ein echter Coup gelungen, was die Neuordnung der Sammlungsräume angeht. Im immensen Raum (60 Meter lang!), der dem Thema «Between Object and Architecture» gewidmet ist, findet man neben den üblichen Verdächtigen wie Carl Andre und Donald Judd weniger oder gänzlich Unbekannte: etwa die Schaummaschine des in England lebenden Philippinos David Medalla.

Vor allem aber werden die harten Linien des Macho-Minimalismus gebrochen: Eine Wucht sind Marisa Merz’ von der Decke hängende Aluminiumwürste, die sie einst in ihrer Küche konstruiert hatte, oder der schlaff und weich wirkende Haufen aus Stahl in der Ecke von Lynda Benglis. Werke von Künstlern aus Brasilien, Libanon, Taiwan brechen die Grenzen gegen Osten auf.

Heu-Sammelritual von Ana Lupas

Rumänische Entdeckung: Heu-Sammelritual von Ana Lupas.

In Stockwerk Nummer drei, zum Thema «Performer and Participant», steht man im umwerfenden Raum der Rumänin Ana Lupas, die zwischen 1964 und 2008 zusammen mit den Bewohnerinnen ihres Dorfes ritualartig Heu zu Ringen geformt hat. Ana Lupas … Nie gehört? Ich auch nicht. Oder Suzanne Lacys Quilts, das Produkt einer Kollaboration mit älteren Frauen in Minneapolis. Überwältigende Räume sind Rebecca Horn und Louise Bourgeois gewidmet, sie führen in exzentrische Gegenwelten, auch die Fantasie eines «Museums of Contemporary African Art» von Meschac Gaba aus Benin, mit dem er das Konzept europäischer Museen ironisiert.

Ein Museum im Museum: Louise Bourgeois’ Raum in der neuen Tate Modern.

Ein Museum im Museum: Louise Bourgeois’ Raum in der
neuen Tate Modern.

Und spätestens im Raum des Brasilianers Hélio Oiticica, dem Begründer der Tropicalia-Bewegung, wo er in einer nachgebauten Favela echtes Leben mit Kunst kurzschliesst, wird einem klar: Hier wird der eurozentrische kunsthistorische Kanon radikal über den Haufen geworfen, die Karten neu gemischt. Das ist herrlich erfrischend.

Eine Stadt aus gekochtem Cousous, Kader Attias «Untitled» (Ghardaïa)

Eurozentrischer Kanon adieu: Kader Attias Stadt aus gekochtem Couscous.

Wird das Museum mit zu viel Aktivitätsprogrammen zum Fun-Parcours umgemünzt? Es erstaunt tatsächlich, dass von insgesamt 17 Etagen nur 7 der Kunst gewidmet sind. Der ganze Rest ist für Community-Aktivitäten, zum Durchatmen, Verdauen, Austauschen, Flirten. Aber das alles in Reichweite von Kunst, Kino und toller Architektur: Ist da etwas dagegenzuhalten? Ich finde nicht.

Der Tate-Mastermind Nicholas Serota live und auf einer Karikatur der Financial Times

Der Tate-Mastermind Nicholas Serota live und auf einer Karikatur der «Financial Times». (Bilder: Tate und FT)

Ob die Tate damit ein Statement gegen die Kommerzialisierung der Kunst machen wolle, fragte BBC-Starjournalist Andrew Marr den Tate-Überdirektor Nicholas Serota angesichts der vielen nicht objekthaften Kunst. Der reagierte sanft lächelnd mit Diplomatie. Die Tate Modern wolle, sagte er, alle Formen von Kunst präsentieren. Dass die Eröffnung der neuen Tate auf die Art-Basel-Woche fiel, und die Presse-Preview auf denselben Morgen wie die Art-Basel-Pressekonferenz, kann aber schwerlich ein Zufall sein.

 

DSC_897700* Gastautorin Brigitte Ulmer lebt als freischaffende Kunst- und Kulturjournalistin in London und Zürich. Für die «Bilanz» berichtet sie über Kunst und verantwortet sie das jährliche Künstlerrating.(Bild: Gian Franco Castelberg)

Die Zürcher Ladung

Ewa Hess am Mittwoch den 15. Juni 2016

Okay, liebe Leserinnen und Leser, Zürich hatte am vergangenen Wochenende seine Stunde (oder zwei). Der Kunsttross war da, bevölkerte kurz die Strassen, füllte Galerien und Museen, trank Bier und Champagner in den Bars, schaukelte auf dem Wasser. Und dann war der Spuk auch schon vorbei, sie zogen alle weiter, man vermutet sie nun in Basel. Und man kann nicht sagen, dass sich die Limmatstadt hat lumpen lassen! Im Gegenteil, meine Herrschaften, da war vielleicht was los: Manifesta, Art Weekend, Gasträume, Parallel Events und und und. Natürlich war Ihre Chronistin auch da und dort, hat am Löwenbräu geschnuppert und auf dem Reflections-Floss geschaukelt. Doch heute fragte ich mich – was blieb eigentlich all den Gästen von unserer Pracht? Und habe mich ein bisschen auf den Social Media umgesehen. Hier folgt also als ein kommentierter Feed: Zurich Art Weekend im Spiegel der Postings.

Liebling der Massen: der «Pavillon of Reflections» auf dem Zürichsee, hier während der Performance von Maurizio Cattelan, der Edith Hunkeler übers Wasser fahren lässt. Foto: Urs Jaudas

Liebling der Massen: Der «Pavillon of Reflections» auf dem Zürichsee, hier während der Performance von Maurizio Cattelan, der Edith Hunkeler übers Wasser fahren lässt. Foto: Urs Jaudas

 

1. Das Holzding auf dem See

Das beliebteste Sujet war natürlich die filigrane Struktur des «Pavillon of Reflections» genannten Flosses. Extra für die Manifesta erbaut, komplett mit Wasserkino und Bar. Es war die Silhouette, die von weitem an eine Art Mississippi-Dampfer erinnert, die mit Gusto gepostet wurde. Zumal die Stadt auch wettermässig alles gab. Mal schien strahlend die Sonne, mal gaben Gewitterwolken einen dramatischen Hintergrund ab. Schwäne gleiteten graziös vorbei und liessen sich willig fotografieren. Nicht einmal Maurizio Cattelans Performance mit dem Rollstuhl auf dem Wasser konnte der Idylle auch das Geringste anhaben. Man könnte direkt meinen, das «Reflections» im Titel bezöge sich hauptsächlich auf die schöne Spiegelung im Wasser.

 

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2. Die Gelitin-Performance im Cabaret Voltaire

Gelitin, das sind vier österreichische Berserker, die es gerne bunt treiben. Sie verstehen sich als Nachkommen des Wiener Aktionismus. Ihre Taten sind oft kühn – legendär ihr Auftritt in luftiger Höhe des damals noch existierenden World Trade Center. Gegenwärtig  haben sie eine Ausstellung bei Nicola von Senger an der Limmatstrasse vis-à-vis vom Löwenbräu. Die Vernissage ging einigermassen manierlich vonstatten, aber spät am Abend gaben die Gelitin mithilfe von Gips, Tüchern, Freundinnen, Grünpflanzen und weiterer ähnlicher Requisite eine Performance  im Cabaret Voltaire, also dem «Zunfthaus der Künstler». Es war orgiastisch – es blieb kein Stein auf dem anderen. Ausführlicher Fotobericht dazu auf der Website von Thomas Haemmerli hier.

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3. Die Artoons von Pablo Helguera

Obwohl die witzigen Zeichnungen, die im Rahmen der Manifesta-Schau ausgestellt sind, die Kunstwelt gewaltig auf die Schippe nehmen, fanden sie alle wunderbar. Der 45-jährige US-Künstler Pablo Helguera (geboren in Mexiko) weiss ganz genau, wovon er da berichtet, denn er ist in seinem Brotberuf Museumspädagoge am Moma NY. Auf den Cartoons sieht man irgendwo im Busch verirrte Biennale-Kuratoren, die in kompletter Verkennung der Realität nach Videobegleitung durch die Eingeborenen fragen, oder verirrte Theoretiker, die mit irrem Blick Foucault und Agamben suchen. Die Dinger sind nicht sooo neu, denn Helguera hat sie schon mehrmals gezeigt und publiziert, aber es gibt immer wieder neue Sujets, und sie sind einfach eine kleine Freude inmitten der geballten Kunst. Für nicht Ausstellungsgänger: Sie werden peu à peu jeden Samstag im «Magazin» veröffentlicht.

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Dieser Artoon von Helguera als Zugabe, weil er so gut zum Anlass passt.

4. Die Prominenz in Sicht

Picabia-Ausstellung im Kunsthaus und Dada-Africa im Rietberg erfreuten sich – zu Recht – ebenfalls gesteigerter Aufmerksamkeit. Vereinzelte Nennungen weiterer Exponate und Kollaborationen lassen keinen weiteren grösseren Kunsttrend erkennen. Dafür trifft man doch immer gerne Stars unter den ausstellenden Künstlern. Michel Houellebecq und Maurizio Cattelan posierten graziös mit den hübschen Damen. Vergnügt wie selten lässt sich etwa Michel Houellebecq von der sympathischen Pressefrau der Manifesta, Nora Hauswirth, auf ihrem Velo kutschieren. Maurizio Cattelan machte Faxen für Diana Lira – in Zürich ist Cattelan längst zu Hause, hat doch der Galerist Nicola von Senger ihn ausgestellt, als noch kaum jemand den Namen kannte. Kurator Jankowski hielt als Fotosujet für Selfies willig hin und schien allgegenwärtig zu sein. Hans Ulrich Obrist war sogar doppelt anzutreffen! Erstens persönlich, zweitens als Grosskopf-Figur der Künstlergruppe «Big Head Brigade». Der Witz bei der Verkleidung war: unter dem Kopf von Obrist versteckte sich Jankowski!

Michel H. lässt sich von der Pressefrau der Manifesta Nora Hauswirth durch die Stadt kutschieren. Dabei bescheinigt ihm sein künstlerischer Check-up eine verhältnissmässig gute Gesundheit. Nächstes Projekt: künstlerischer Besuch eines Fitnessclubs, Herr Houellebecq

Maurizio Cattelan schneidet Faxen für die lustige und schöne Diana Lira - in Zürich ist Cattelan längst zuhause, hat doch der Galerist Nicola von Senger ihn ausgestellt, als noch kaum jemand den Namen kannte

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Chrisstian Jankowski als Hans Ulrich Obrist - eine Arbeit der Big Head Brigade

Christian Jankowski als Oberkurator Hans Ulrich Obrist – eine Arbeit der Big Head Brigade

Ein Prominenter seltsamer Art wurde von Andrei Below (Direktor des Garage-Museums in Moskau) im Helmhaus entdeckt und sorgte für Aufsehen in seinem Heimatland. Belov gelang es, den ehemaligen (und mittlerweile legendären) Bürgermeister von Moskau, Juri Luschkow (mit Glatze), mit seiner Gattin Jelena Baturina (mit grüner Hose) beim Betrachten eines Kunstwerks zu knipsen.

Im Helmhaus ausgespäht: Ex-Bürgermeister von Moskau Jurij Luzhkov (der Herr mit Glatze) mit steinreicher Gattin Jelena Baturina (grüne Hose)

Luschkow, muss man wissen, hat sich in Moskau vor allem mit seiner Vorliebe für schrecklich hässliche Skulpturen Surab Zeretelis zum Gespött der Bevölkerung gemacht. Eine davon steht immer noch mitten im Moskwa-Fluss und erschreckt die Touristen. Seine zweite Frau, Baturina, ist eine Bauunternehmerin und die reichste Frau Russlands – was um Himmels willen haben die beiden in Zürich an der Manifesta verloren?, fragte man sich in Moskau. Ein russischer Kommentator ist dann zum Schluss gekommen: Luschkow will den Schweizern Bienenhäuser andrehen (ein weiteres verspottetes Projekt Luschkows war die Ansiedlung von Bienenvölkern in Moskaus Pärken).

5. Das grosse braune Ding

Natürlich konnte das «Zurich Load» genannte grosse Minimalart-Kunstwerk von Mike Bouchet im Löwenbräu nicht unerwähnt bleiben. Doch der Gestank muss aggressiv machen, denn die meisten Kommentare sind schlecht gelaunt. Eigentlich erstaunlich! Wir mögen uns doch alle an den Erfolg von Charlotte Roches «Feuchtgebiete» erinnern und auch an die immer noch andauernde Begeisterung für Giulia Enders’ «Darm mit Charme». Wir leben eigentlich im Zeitalter der Verdauungseuphorie (der Bauch ist das bessere Hirn usw.).

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Warum machen also das Kunstwerk Bouchets und sein widerspenstiger Gestank alle so sauer? Meine Vermutung: atavistische Abneigung gegen die Ausscheidung anderer. In der Masse der Exkremente erkennt niemand seine eigene Duftnote, sondern nur die Markierung der anderen. Jedenfalls, das sollte hier doch auch gesagt sein: Es ist ein tolles Kunstwerk.

Formal überzeugend – in seiner porösen Ausbreitung, als ob es ein Stück Land Art wäre, mit seiner inhaltlichen Verdichtung (ja, so viel «produzieren» wir an einem Tag in Zürich). Es holt das Verdrängte ans Tageslicht, es zeigt auch, was Menschen fürs Geld tun (etwa die Mitarbeiter der Kläranlage, die täglich den Gestank ertragen), und es hat sogar Humor. Auch ist es nicht harmlos – und damit hat es vielen anderen der Manifesta-Joint-Ventures etwas voraus! Weil es eben stinkt, gegen alle Absicht, gegen die Bemühungen des Künstlers und allen Anstandsregeln zum Trotz.

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Maurizio Cattelan in Zürich

Ewa Hess am Mittwoch den 8. Juni 2016

Dieser Tage findet im Rahmen der Manifesta eine denkwürdige Performance statt: Edith Wolf-Hunkeler wird übers Wasser des Zürichsees rollen! Inszenieren wird die parareligiöse Kunstschau der italienische Starkünstler Maurizio Cattelan, der damit aus seiner sich selbst auferlegten Frühpensionierung zurückkommt. Private View hat sich mit Maurizio Cattelan über sein Projekt in Zürich und einiges andere mehr unterhalten…

(Manifesta)

Parareligiöse Kunstschau: Edith Wolf-Hunkeler rollt dieser Tage  über den Zürichsee. (Manifesta)

Maurizio Cattelan, sind Sie nun zurück als Künstler? War Ihr selbst ernannter Rückzug nur eine Finte?

Sagen wir es so: Ich habe für eine Weile meinen Tod als Künstler vorgetäuscht. Ich mache es nun meinem Landsmann Dante nach und komme nach einer Besichtigung der Hölle zurück zu den Lebenden. Und falls es wahr ist, dass man nicht richtig gelebt hat, bis man gestorben ist, bin ich bereit, mein neues Leben in Angriff zu nehmen.

Zürich wird nun in die Kunstgeschichte eingehen als der Ort, an dem Sie nach fünf Jahren erstmals ein neues Kunstwerk präsentieren. Warum ausgerechnet Zürich?

Der künstlerische Leiter der Manifesta 11, Christian Jankowski, ist ein guter Freund. Ich war glücklich über seine Nominierung und fand auch seine Idee der Joint Ventures mit den lokalen Arbeitskräften ganz toll. Mit Begeisterung nahm ich also seine Einladung an, ein neues Werk als eine Zusammenarbeit mit einer hier ansässigen Person zu präsentieren.

Ein Rollstuhl geht übers Wasser – ein starkes Bild! Drückt es die menschliche Allmachtsfantasie aus, oder ist es eher ein Kommentar zur Gebrechlichkeit der Jesusfigur?

Keins von beidem. Es handelt vielmehr von der Hoffnung. Der menschliche Fortschritt bezog seine Inspiration stets aus den Künsten. Was in Jules Vernes Roman «Von der Erde zum Mond» 1865 noch Science-Fiction gewesen war, war hundert Jahre später Realität. Wir Menschen legen die Latte unserer Ziele immer höher, erweitern unsere Grenzen. Die Rollstuhl-Metapher spricht über unsere Beschränkungen und auch über die Möglichkeit, sie zu überwinden. In wenigen Jahren werden wir alle das Wasser auf Rädern überqueren.

 Inwiefern war Zürich der richtige Ort für diese Metapher?

Die Stadt war immer ein intellektueller Freihafen: Erinnern wir uns an Richard Wagner, an James Joyce, den Dadaismus und das Cabaret Voltaire. Zürich ist der Ort der Wahl, um eine zweite Chance zu bekommen.

 

Sie arbeiten mit der Paralympikerin Edith Wolf-Hunkeler. Wie kam diese Zusammenarbeit zustande?

(Manifesta)

Edith Wolf-Hunkeler. (Manifesta)

Wir suchten einen Menschen, der sich trauen würde, im Rollstuhl auf der Wasseroberfläche zu sitzen, und Frau Wolf-Hunkeler war genau die Person, die eine solche Herausforderung reizen könnte. Sie hat erst um eine Bedenkzeit gebeten, was absolut verständlich ist, und sagte dann zu. Ich fühle mich geehrt und beglückt, als ihr Gast an der Manifesta 11 mitzumachen. Die Art, wie sie an extreme Herausforderungen herangeht, hat meine ganze Bewunderung. Ich nehme an, dass dies einen Teil ihrer Sportlerinnenseele ausmacht.

 

Verraten Sie uns den Trick, wie es gemacht wird?

Würde ich gerne, aber das Technikteam arbeitet immer noch daran, Tag und Nacht. Ich muss gestehen, es ist nicht ganz ohne… Wie soll ich die Funktionsweise erklären… hm… Es hat jedenfalls etwas mit den Gesetzen von Archimedes zu tun.

Ist es als eine Liveperformance geplant, oder wird es fürs Publikum vor allem als ein Video zugänglich sein?

Es geht uns nicht darum, die Menge zu unterhalten, wir konzentrieren uns auf ein inspirierendes Bild. Falls das der Sicherheit nicht abträglich ist, streamen wir es live, sonst nicht. Das Liveerlebnis steht nicht im Zentrum.

Das Thema der Manifesta 11 heisst: «What People Do for Money…», was Menschen für Geld machen. Darin ist der Gedanke enthalten, dass sie egal was für Cash machen würden, aber auch, dass die bezahlte Arbeit die Gesellschaft auf konstruktive Weise prägt. Welches ist Ihr Verhältnis zur bezahlten Arbeit?

Meine Erfahrung mit der Arbeitswelt war ziemlich turbulent, bis ich entdeckt habe, dass nicht die Art der Arbeit das Problem war, sondern die Struktur der Anstellung: dass man von anderen Menschen abhängig ist und darum Sachen macht, die man gar nicht machen will. Aus meiner Sicht könnte also der Titel auch heissen: «Was Menschen manchmal tun, um zu vergessen, was sie lieber täten».

Sie zeigen dem Kapitalismus in Ihren Werken oft ironisch den «Stinkefinger». Sind Sie ein politischer Künstler?

«L.O.V.E» (2010) (Courtesy Galerie Perrotin)

«L.O.V.E» (2010)
(Courtesy Galerie Perrotin)

Es geht nicht darum, politische Werke zu machen, sondern sie auf eine politische Weise zu konzipieren. Um als Künstler politisch engagiert zu sein, muss man weder einer Partei angehören oder, schlimmer noch, nur gesellschaftliche Probleme ansprechen. Als Künstler ist man in der gleichen Pflicht wie jeder andere Bürger. Natürlich kann man auch seine Reputation in die Waagschale werfen, um gute Initiativen zu unterstützen. Ich ziehe es vor, den Mund zu halten und starke Bilder in die Welt zu setzen.

Falls eine Partei, welche wäre die Ihre?

«Untitled» (1997) (Courtesy Galerie Perrotin)

«Untitled» (1997)
(Courtesy Galerie Perrotin)

Parteien sind ein wandelbares Konstrukt. Während einer Wahlkampagne scheinen ihre Profile deutlich, ihre wahre Arbeit verrichten sie aber im Parlament, wo es um Kompromisse geht. Es ist, als ob man in einer Gruppe von einem Dutzend Menschen ins Restaurant ginge und sich auf ein Menü einigen müsste… fast unmöglich, alle glücklich zu machen. Aber, wie ein Weiser mal sagte, die Demokratie ist die schlimmste Regierungsform, ausser man zieht alle anderen Regierungsformen in Betracht.

Ihre Prognose für die Welt: Orwells Schreckensvision der totalen Kontrolle oder eine Erneuerung von der Basis her?

Wir stehen tatsächlich an einer Weggabelung. Die Nationen auf einer Seite, die Unternehmen auf der anderen – und alle sind miteinander verbunden. Alles ist legal, sogar dass die NSA jeden lückenlos bespitzelt. Es ist subtiler als Orwells Vision, weil wir auch noch überzeugt sind, dass wir frei sind und unabhängig entscheiden können. Es wird aber alles registriert und nicht selten manipuliert. Nicht umsonst sind Daten das Gold unserer Zeit.

Apropos Gold: Was hat es eigentlich mit Ihrer Klosett-Obsession auf sich? Sie planen jetzt ein neues Werk für Guggenheim New York, eine Toilette aus reinem Gold. Und die Zeitschrift, die Sie gemeinsam mit dem Fotografen Pierpaolo Ferrari herausgeben, heisst «Toilet Paper»…

Wir sind das, was von unserem Verdauungsprozess zurückbleibt. Toilette hat mehr mit unserem inneren Selbst zu tun, als es auf den ersten Blick erscheint.

Schon der andere grosse italienische Inspirator Piero Manzoni hat mit seinem «Merda d’artista» provoziert. Ist es auch eine Anspielung auf den arbiträr agierenden Kunstmarkt?

Manzonis Werk trägt für mich ökumenische Züge und hat mit Kunstmarkt nichts zu tun.

Ökumenisch? In welcher Weise?

Wie der Priester während der katholischen Messe den Gläubigen den Leib Christi austeilt, hat Manzoni Teile seines Körpers verteilt: seinen Atem, seine Fingerabdrücke und auch seine Exkremente.

Aber Herr Cattelan, Ihre goldene Toilette für Guggenheim trägt den Titel «America». Das kann doch nur ironisch gemeint sein, oder?

 «America» gibt dem Museumsbesucher die Gelegenheit, einen spirituellen Moment von reiner Kontemplation an einem abgesonderten Ort des Museums zu erleben…

 … ja, auf dem Klo, es soll nämlich voll funktionsfähig sein und für die Erledigung der Bedürfnisse zur Verfügung stehen…

Genau! Mit welchem anderen Kultobjekt darf sich der Besucher in einem Museum auf ein stilles Örtchen zurückziehen? Und eine intime Handlung damit vollziehen?

«Good versus evil» (2003). (Courtesy Galerie Perrotin)

«Good Versus Evil» (2003). (Courtesy Galerie Perrotin)

Ihre Werke wirken oft auf den ersten Blick als eine Provokation und zeigen erst mit der Zeit  ihre volle philosophische Komplexität. Absicht?

Natürlich ist es Absicht. Ich gehe dabei nicht anders vor als Sie bei Ihrer Redaktionsarbeit: Ich sammle die Informationen, überprüfe sie, gehe dann tiefer mit der Recherche, bis ich mir eine Meinung gebildet habe und versuchen kann, ihr eine adäquate Form zu geben. Reine Provokation wäre in zwei Tagen vergessen, ein gutes Werk wird mit der Zeit immer besser.

Sind Sie eigentlich ein gläubiger Mensch?

Ich glaube zumindest an die Religion. Der Mensch ist ein religiöses Wesen, das zeichnet ihn aus unter den anderen Tieren. Dieses Charakteristikum kann nicht missachtet werden, wenn man über Menschen nachdenkt.

Sie haben einst Papst Johannes Paul II. von einem Meteorit erschlagen dargestellt. Was halten Sie von Franziskus?

Die Päpste sind auch Kinder ihrer Zeit – Wojtyla war wie ein Filmstar, vergleichbar mit Ronald Reagan in der gleichen Zeitspanne. Ratzinger stand in gewisser Weise neben sich, und Franziskus benutzt Medien ziemlich bewusst, um relevante Inhalte ins Gespräch zu bringen.

«La nona ora» (1999). (Courtesy Galerie Perrotin)

«La nona ora» (1999). (Courtesy Galerie Perrotin)

Sind Sie noch oft in Italien?

Ich reise viel und verbringe viel Zeit sowohl in Italien wie in den USA.

Die Politik welches Ihrer beiden Heimatländer beschäftigt Sie mehr?

Beide machen mir Bauchweh.

Donald Trump wirkt manchmal wie eine Kunstfigur, von einem sehr ironischen Künstler erfunden. Zum Beispiel von Ihnen. Das waren aber nicht Sie, zufällig?

Sie machen sich lustig, aber wir Italiener sind durch all das schon mit Berlusconi gegangen. Nur dass im amerikanischen Massstab die Gefahr noch viel grösser ist. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Nein, das war nicht ich! Trump macht auf mich eher den Eindruck, als ob er von einem sadistischen Drehbuchautor erfunden worden wäre. Sie wissen, eine Figur aus einer dieser trashigen Fernsehshows: «Americas Next President». Er ist die Antwort auf unseren unstillbaren und immer noch wachsenden Hunger auf Entertainment. Erinnern Sie sich noch an den Film «Network»?

«Untitled» (2001). (Courtesy Galerie Perrotin)

«Untitled» (2001). (Courtesy Galerie Perrotin)

In dem ein Nachrichtensprecher in seiner unautorisierten Ansprache an die Nation den Menschen rät, den Kopf aus dem Fenster zu strecken und zu schreien: «I’m as mad as hell and I’m not going to take it anymore»?

Ja. Der Film ist 40 Jahre alt und aktueller denn je. Manchmal spitze ich die Ohren und hoffe, den Satz von immer mehr Menschen zu hören.

An english version of the interview can be found hereDas Interview ist in einer gekürzten Version am 22.5. auch in der «SonntagsZeitung» erschienen. Die Manifesta11 beginnt mit den Preview-Days am Donnerstag, dem 9. + 10.6. und öffnet fürs Publikum am Samstag, dem 11.6. Eröffnungsprogramm hier.