Kunstexzesse

Ewa Hess am Mittwoch den 25. Mai 2016

Die Kunst ist das Zuhause der Wildheit. Der Gedanke befiel mich am letzten Wochenende, an zwei Veranstaltungen, die inmitten stierer postindustrieller Gebäude die Wildheit feierten. Wildheit im Sinne eines unverfälschtern expressiven Ausdrucks kreatürlicher Existenz.

Was: Finissage der Ausstellung von Bailey Scieszka in der Galerie Plymouth Rock sowie Vernissage einer Ausstellung im ZHDK-Offspace Taylor Macklin
Wo: an der Luegislandstrasse 105
Wann: Freitag, den 20. Mai 2016
Was: Erste Auktion der Hammer Auktionen mit Werken afrikanischer und ozeanischer Kunst
Wo: an der Baslerstrasse 71
Wann: Samstag, den 21. Mai 2016

Sie sehen es schon an den Adressen: Schwamendingen und Altstetten. Das ist, was Kunst anbelangt, bereits ein «Walk on the Wild Side». Dazu kommt, dass wenn wir von postindustriellen Gebäuden sprechen, wir meistens romantisch verfallene ehemalige Schifffabriken und Bierbrauerein meinen, meist schick renoviert, selbstverständlich mit rücksichtsvoller Hervorhebung der ursprünglichen Stilelemente. Nun, im Fall Luegislandstrasse und Baslerstrasse ist die Postindustrialität weniger pittoresk. Nüchterne Zweckbauten der 60er-Jahre beherbergen hier einen noch ungentrifizierten Mix an Galerien, Kunstmaterialhändlern, Eventveranstelrn, Künstlerateliers sowie Billiganbietern von Spezialelektronik.

Grosse, helle Kinderaugen, vulkanisch aus dem Inneren ausbrechende Zeichnungen: Bailey Scieszka at her best

Grosse, helle Kinderaugen, expressive Zeichnungen: Bailey Scieszka at her best (alle Bilder H. Jokeit, E. Hess, zVg)

Irgendwie ist es nicht zum Nachteil der hier sich einnistenden Kunst, denn ein Irrgang durch die langen Korridore weckt schon dieses diffuse Gefühl der Identitätserschütterung, das die Kunstaufnahme im besten Fall begleitet. Ich war ja nicht zum ersten Mal an der Luegislandstrasse, musste dennoch mehrere SMS schicken mit der verzweifelten Botschaft: Help, cannot find you! Und dann wars da, wir standen plötzlich vor Old Put, dem Clown. Das erschreckendste an Old Put sind seine Augen. Helle, runde Kinderaugen, die einen ohne zu blinzeln anschauen. Man schaut in diese Augen und es wird einem schwindlig. Dieser helle Blick hat keinen Boden und das ist beunruhigender als wenn da einem Bosheit, Vorwurf oder Bitterkeit entgegenblicken würden.

Old Put, das ist die 25-jährige Detroiter Künstlerin Bailey Scieszka. An der renommierten Cooper Union studierte sie Skulptur, Video und Zeichnung. In New York erfand sie die Persona des alternden Kinderhandmodels Old Put. Im Zivil ist Bailey klein, rundlich, rothaarig. Als Old Put ist sie ein Paradiesvogel mit bemaltem Gesicht und zusammengewürfelten Klamotten.

Für ihr alter Ego den Clown schreibt sie Texte, die von existenziellen Gemütszuständen berichten, in endlosen, gefühlvollen Monologen (man ist an den Schlussmonolog aus James Joyces «Ulysses» erinnert) erzählt sie irgendetwas von Angst, Wut, Hoffnung, Enttäuschung, Verrat. Nach der Aufnahme verlangsamt sie den Lauf des Videos unmerklich, so dass die Stimme der schrägen Kindfrau tiefer wird, die Bewegungen wirken seltsam verhalten, wie in Trance.

Die postindustriellen Ränder von Zürich: die ehemalige UBS-Kantine an der Baslerstrasse, stimmungsvoll für Kunst adaptiert

Die postindustriellen Ränder von Zürich: die ehemalige UBS-Kantine an der Baslerstrasse, stimmungsvoll für Kunst adaptiert

An den seltsamen Clown musste ich einen Tag später denken, als wir im fröhlich zusammengewürfelten Mobiliar an der Baslerstrasse Platz nahmen, um der Auktion afrikanischer Kunst beizuwohnen. Es war die erste Versteigerung des Kunsthändlers Jean David, der die Galerie Walu vor Jahren schon von seinen Eltern übernommen hat und auch schon für Koller afrikanische Kunst auktionierte. In der Ausstellung in der ehemaligen Kantine von UBS an der Baslerstrasse schauten einem die afrikanischen Masken genau so unergründlich blank wie der kindliche Clown aus Detroit in die Augen. Manche grinsen mit Muschelzähnen. Manche strecken die Zunge raus.

Grinsen mit den Muschelzähnen, machen einen auf Kubismus: die Masken der Stammeskunst

Grinsen mit den Muschelzähnen, machen einen auf Kubismus oder Surrealismus: die Masken der Stammeskunst.

Natürlich fühlt man sich beim Anblick der grossartigen Meisterwerken der Stammeskunst an all die Anleihen erinnert, welche moderne Kunst bei der Kunst des südlichen Kontinents machte. Dort steht ein «beinahe Giacometti», hier grinst einem ein «beinahe Braque» entgegen. Da gibt es «fast surreale» Doppelgänger oder grosse Löffel mit Beinen, die direkt aus einem Gemälde von Max Ernst heruntergesprungen sein könnten. Doch die Verwandschaft erstreckt sich, ganz universell, in die unmittelbare Gegenwart.

Welche Skulptur ist von Max Ernst? Rechts «Moonmad» des Surrealisten, links eine Figur aus Gabun

Welche Skulptur ist von Max Ernst? Rechts «Moonmad» des Surrealisten, links eine Figur aus Gabun, geschätzt auf höchstens 2000, verkauft für 8.500 Franken

Wie sehen gerade zurzeit in Zürich so viel Dokumentation über die Einflüsse von weit entfernten Kulturen auf die Moderne und ihre «Verrücktheiten»: Dada Afrika im Museum Rietberg, Dada anders im Haus Konstruktiv (obwohl hier klugerweise der Spiess umgedreht wird und auch der nördliche Einfluss im Süden ein Thema ist). Aber an diesem Wochenende an den Rändern von Zürich wird einem die wilde Seele der Kunst mit aller Macht vorgeführt.

Einerseits werden wir mit dieser jungen US-Künstlerin Scieszka konfrontiert. Kaum hat sie die angesagte Kunstschule Cooper Union in New York absolviert und erste Erfolge in der Metropole gelandet, in die postindustrielle Wüste Detroits, wo, wie sie selbst sagt, – «gar nichts» ist. An diesem modernen Unort  kann sie sich ausdrücken, die existenzielle Klage eines schmerzhaft vergesellschaftlichten Tiers den ehemaligen Autofabriken und den verlassenen Wohnblöcken entgegenschreien.

Bailey Scieszka mit ihrem Galeristen Mitchell W. Anderson und vor ihrer Zeichnungswand

Bailey Scieszka mit ihrem Galeristen Mitchell W. Anderson und vor ihrer Zeichnungswand

Sie ist eine Rarität der heutigen Kunstszene, weshalb Mitchell W. Anderson, der gewiefte Plymouth-Rock-Gründer und selbst ein Künstler, sie nach Zürich geholt hat, um uns etwas zu zeigen, was wir hier weniger sehen: wilde Expression. Der Durchmarsch der Konzeptkunst in den letzten fünfzig Jahren war radikal: Heute ist alles Konzept. Ein Vulkan wie Bailey Scieszka einer ist  (oder wie Jean-Michel Basquiat einer war) ist selten geworden.

Leere Chaträume (rechts) des britischen Künstlers Ian Wooldridge (rechts)

Leere Chaträume (rechts) des britischen Künstlers Ian Wooldridge (rechts)

Im benachbarten ZHDK-Offspace Taylor Macklin ist eine wunderbare Installation von Ian Wooldridge zu sehen: «The Skin of a Drum». Ein komplexes konzeptuelles Werk, das in multiplen medialen Schichtungen funktioniert (Chatroom-Kameras, die Menschen, die vor ihnen sitzen, die aber schon weggegangen sind, die leeren Räume, in welchen vielleicht die Masturbation stattfand, das alles ausgewählt, zerstückelt, mit Musik unterlegt und auf hautähnliche Projektionstücher geworfen…). «A silent rave», sagt Nachbar Mitchell nachsichtig lächelnd. Bailey Scieszka lacht dazu ihr schrilles Clown-Lachen, das keine wirkliche Heiterkeit anzeigt.

Jean David von den Hammer Auktionen umringt von den Meisterwerken der Stammeskunst

Jean David von den Hammer Auktionen umringt von den Meisterwerken der Stammeskunst

Die Auktion am Tag darauf ist aber, muss man anmerken, auch kein richtig fröhlicher Anlass, obwohl sie wunderbar läuft. Die Werke wecken Begehrlichkeiten der anwesenden Fachleute. Es sind zum grossen Teil museale Stücke aus zwei tollen Schweizer Sammlungen aussereuropäischer Kunst: derjenigen des Zürcher Anwalts Rudolf Blum und seiner Frau Leonore sowie von Carlo Monzino, dem 1996 verstorbenen italienischen Sammler.

Afrikanische Zeitzeugen: beinahe gicometti und ein Kollege derer aus dem Appenzell

Verwandschaften, wohin das Auge blickt: ein afrikanischer Beinahe-Giacometti und eine südliche Kollegin der Masken aus dem Appenzellerland.

Diese Köpfe, Gestalten, Wärter unergründlichen Geheimnisse, sind noch so lebendig, weil sie expressiv vom Leben der Menschen, die sie hergestellt haben, sprechen. Von ihrer Liebe zu den Tieren, die sie umgaben, von ihrem Imponiergehabe und von ihren Ängsten. Sie sind schön, begehrenswert, wunderbar. Irgendwie passt es einem nicht, dass sie an den meistbietenden verkauft werden.

So ist das eben mit der unzivilisierten Wildheit – sie ist das vielleicht Menschlichste an uns Zweibeinern.

Scheitern, um zu gewinnen

Ewa Hess am Mittwoch den 11. Mai 2016

Seien wir ehrlich: Wir leben in einer Welt, in der nur das Gewinnen zählt. The winner takes it all, sang Abba. Das war eine Prophezeiung, auch wenn sich die Songzeile erst mal auf das Scheitern einer Liebe bezog.

Paradoxerweise haben sich die Gewinner der neuen ökonomischen Ordnung, die omnipotenten Multimillionäre, in eine Kunstrichtung verliebt, welche auffallend oft das Scheitern zum Thema macht: in die zeitgenössische Kunst. Diesen komplexen Sachverhalt machte das Auktionshaus Christie’s zum Thema einer Verkaufsveranstaltung – und gewann damit auf der ganzen Linie. Dies ist die Geschichte des «Bound to Fail»-Abendverkaufs von Christie’s, an dem am Sonntagabend in New York beinahe 80 Millionen Dollar umgesetzt und bis auf ein einziges alle Werke verkauft wurden.

Was: Evening Sale «Bound to Fail» von Christie’s
Wann: Sonntag, der 8.5.2016
Wo: Rockefeller Plaza, New York

Maurizio Cattelan, «Him» von 2001, verkauft für $17,189,000 (inkl. Käuferkommission). Das nur 1 Meter hohe Werk zeigt einen knienden Hitler, das Gesicht wie im Schmerz verzehrt. Bereut er? Bittet um Verzeihung? Oder bedauert er, nicht gesiegt zu haben? Cattelans Werk stellt wie immer viele Fragen, die mitten ins Gewissen zielen.

Maurizio Cattelan, «Him» von 2001, verkauft für $ 17’189’000 (inkl. Käuferkommission). Die nur einen Meter hohe Skulptur zeigt einen knienden Hitler, das Gesicht wie im Schmerz verzerrt. Bereut er? Bittet er um Verzeihung? Oder bedauert er, nicht gesiegt zu haben? Cattelans Werk stellt wie immer viele Fragen, die mitten ins Gewissen zielen. © Maurizio Cattelan (alle Werkabbildungen Courtesy Christie’s)

Früher war das so: Die Aktionshäuser verkauften, was ihnen gerade so an Kunst angeboten worden ist. Manchmal traf es den Nerv der Zeit und verkaufte sich gut, manchmal eben nicht.

Heute geht das oft anders. Begabte Auktionshaus-Kuratoren versuchen zu erahnen, was gerade ein wichtiges Thema sein könnte, und suchen aktiv nach Werken, die dazu passen. Dem Verkauf wird ein Titel verpasst, der die ganze Sache auf den Punkt bringt und eine Versteigerung in ein geschichtsträchtiges Ereignis verwandelt. Die erhöhte Intensität bleibt nicht ohne Einfluss auf die Kaufbereitschaft, wie gerade das Beispiel der «Bound to Fail»-Auktion zeigt.

Loïc Gouzer, Deputy Chairman Postwar and Contemporary, Christie's

Loïc Gouzer, Deputy Chairman Postwar and Contemporary Art, Christie’s

Der kluge Kopf hinter dem Event war diesmal ein Schweizer, der nur 35-jährige Genfer Loïc Gouzer, Christie’s «deputy chairman postwar and contemporary art», also eine Art Sparten-Vizedirektor, oder was der Titel auch immer heissen mag. Gouzer hat schon «Looking Forward to the Past» orchestriert, die berühmt gewordene kuratierte Auktion vom Mai 2015, an der Picassos «Les Femmes d’Alger» von 1955 für fast 180 Millionen Dollar verkauft und so zum am teuersten verkauften Kunstwerk wurden.

Gouzer, der aus einer reichen Familie kommt (die ursprünglich mit Austernverkauf ihr Geld gemacht hat und der ein Teil Genfs gehört), ist befreundet mit einigen der Darlings der neuen Schickeria und weiss, wie sie ticken. Mit Leonardo di Caprio verbindet ihn nicht nur Freundschaft, sondern auch das Engagement für die Umwelt, sie haben schon gemeinsam Werke erworben (Private View berichtete hier).

Gab der Auktion den Titel: Bruce Naumans Gusseisenskulptur von 1970 mit dem Titel «Henry Moore Bound To Fail». Sie zeigt Bruce Naumans auf dem Rücken zusammengebundene Hände. Ein Bild für die Ohnmacht, aber auch für die Kraft eines Künstlers, der aus seinem Handicap seine Stärke bezieht

Gab der Auktion den Titel: Bruce Naumans Gusseisenskulptur von 1970 mit dem Titel «Henry Moore Bound to Fail». Sie zeigt Bruce Naumans auf dem Rücken zusammengebundene Hände. Ein Sinnbild für die Fähigkeit eines Künstlers, gerade seine Schwäche in Stärke umzumünzen.

Paris Hilton, die jetzt öfter in New York anzutreffen ist, seitdem sie das Kühestreicheln in Schindellegi aufgegeben hat, hauchte nach der Auktion am Sonntag den anwesenden Reportern ins Mikrofon, dass «Loïc ein sehr guter Freund» von ihr sei. Kelly Crow, die allwissende Auktionsberichterstatterin des «Wall Street Journal», twitterte zudem, dass sie den Hollywood-Beau Christian Slater in der Menge gesichtet habe. Dabei fand die Auktion ungewöhnlicherweise an einem Sonntag, und das schon um 17 Uhr, statt. Manche kamen ausser Atem, weil sie die letzten Cocktails der Kunstmesse «Frieze» noch austrinken mussten.

Bildersuche per Instagram

Bildersuche per Instagram.

Man kann nicht sagen, dass Gouzer nicht wusste, was er wollte. Er wusste es ganz genau. Nach Werken seiner Wahl suchte er unter anderem auf Instagram, vor aller Augen.

Zu Martin Kippenbergers Skulptur «Martin, ab in die Ecke und schäm dich» schrieb Gouzer auf Instagram etwa: «would kill to have it in #boundtofail auction and ready to offer significant money for it – any ideas?» Worauf die Sammlerin und Art Advisor Eleanor Cayre kommentierte: «Finde es, Loïc, ich gebe eine Garantie dafür!» Womit sie auf die Gepflogenheit anspielte, dass man den Anbietern einen Preis im Voraus verspricht, egal wie die Auktion dann läuft.

Nun, diesen Kippenberger fand Loïc nicht, dafür den schönen gekreuzigten Frosch «Zuerst die Füsse», der dann auch für 1,325 Millionen Dollar verkauft wurde, eine gute halbe Million höher als geschätzt.

Martin Kippenbergr, «Zuerst die Füsse»., mit Autolack bemalte Holzskulptur, 1990, verkauft für $1,325,000. «Fred the Frog», des Künstlers Alter ego, hängt häretisch am Kreuz. Was für grosse Entrüstung der Kirchekreise sorgte, ist im Grunde ein trauriges Selbstbildnis des Künstlers selbst, mit Bierkrug und Spiegelei. Kippenberger, der sich selbst nie ernst nahm, beeinflusst nach wie vor ganze Generationen von Künstlern.

Martin Kippenberger, «Zuerst die Füsse», mit Autolack bemalte Holzskulptur, 1990, verkauft für $ 1’325’000. «Fred the Frog» des Künstlers Alter ego hängt häretisch am Kreuz. Was für grosse Entrüstung der Kirchenkreise sorgte, ist im Grunde ein trauriges Selbstbildnis des Künstlers selbst, mit Bierkrug und Spiegelei. Kippenberger, der sich selbst nie ernst nahm, beeinflusst nach wie vor ganze Generationen von Künstlern.

Aus Schweizer Sicht höchst erfreulich: Natürlich hat der Genfer eine bessere Kenntnis der Schweizer Szene als die Amis. Und placierte in seiner illustren Verkaufsschau einige CH-Helden, die ein glorreiches Werk aufweisen, aber noch nicht die exorbitanten Preise der deutschen Grossmeister erzielen. So setzte «Bound to Fail» (oder, wie manche spotteten, «Bound to Sell») Marktrekorde für die helvetischen Stars John Armleder und Olivier Mosset. Höchste Zeit, dass ihr Werk auch preislich zum Weltniveau aufschliesst.

Schweizer Maximalismus und Minimalismus schliesst preislich auf. Links: John Armleder, «Chabasite» von 2003, Acryl auf Leinwand, verkauft für $221,000 . Rechts: Olivier Mosset, Untitled von 1969, verkauft für $137,000 .

Schweizer Maximalismus und Minimalismus schliesst preislich auf. Links: John Armleder, «Chabasite» von 2003, Acryl auf Leinwand, verkauft für $ 221’000. Rechts: Olivier Mosset, Untitled von 1969, verkauft für $ 137’000.

Auch einige Italiener profitierten von der dekadenten europäischen Stimmung (in der düstere Vorahnungen des Versagens gefeiert werden). Der kleine kniende Hitler von Maurizio Cattelan, eine Skulptur namens «Him», kroch langsam von den geschätzten 10 bis auf 15,2 Mio. Dollar (17,2 mit Käuferkommission).

Und eine fotografische Arbeit der 45-jährigen italienischen Künstlerin Paola Pivi ging für 227’000 Dollar weg, auch für sie ein Marktrekord. Es bleibt mir persönlich komplett unverständlich, warum ein sehr schönes Kartoffelfeld von Sigmar Polke nicht verkauft wurde – es war das einzige Werk, auf dem das Auktionshaus sitzen blieb. Ich hätte es sehr gern gekauft, wenn ich eine schwerreiche Sammlerin wäre (bin aber weder das eine noch das andere).

Paola Pivi, «Untitled (Donkey)», Fotoprint, 2003, verkauft für $227,000 . Mitten im blauen Ozean eine verlorene Kreatur. Wo gehört sie hin? Wird sie jemand retten? Eine simple Metapher, die viele unserer Ängste anspricht.

Paola Pivi, «Untitled (Donkey)», Fotoprint, 2003, verkauft für $ 227’000. Mitten im blauen Ozean eine verlorene Kreatur. Wo gehört sie hin? Wird sie jemand retten? Eine simple Metapher, die viele unserer Ängste anspricht.

Das war also der Anfang der Frühlingsauktion-Saison in New York. Obwohl die Preise angesichts des komplexen Themas moderat blieben (im Vergleich zu den exorbitanten Zuschlägen an anderen kuratierten Auktionen), muss man sagen, dass das Event alles andere als eine Niederlage war. Im Gegenteil, man müsste fast eine andere Songzeile, die von Bob Dylan, bemühen, der einst sang «there’s no success like failure» (wenn auch bei Dylan die Aussage sofort ins Gegenteil verkehrt wird, «but failure’s no success at all»).

Aber zurück zur Auktion – sie zeigte, dass eine Abkühlung des Kunstmarktes auch ihre guten Seiten hat. Sie erlaubt den Anbietern und den Käufern, die schwierigen Kunstwerke so richtig aufs Pedestal zu stellen, auch wenn sie nicht die absoluten Preiskönige sind. Richtig so, denn das Schwierige, das Dunkle und das mit der Welt Unversöhnte bleibt nun mal der Stoff, aus dem die beste Kunst schöpft.

Schweizer Qualität bei Sotheby's Auktion am 31. Mai in Zürich: John Armleder (OHNE TITEL (U 39), 1991, Lack, Bronzelack und Firnis auf Leinwand 300 x 180 cm) und Diego Giacomettis "Chat maitre d'hotel»

Überlegene Schweizer Qualität bei der Sotheby’s-Auktion am 31. Mai in Zürich: John Armleders wunderbares Werk von 1991 (Lack und Firnis auf Leinwand, 300 x 180 cm), Diego Giacomettis witzige Skulptur «Chat maître d’hôtel»

Post Scriptum: Für uns Schweizer war übrigens die Botschaft, welche diese New Yorker Auktion vermittelt hat, auch in materieller Hinsicht «good news». An den kommenden Auktionen der Schweizer Kunst in Zürich werden nämlich Ende Mai Werke von Armleder, Mosset und anderen angeboten, die qualitativ über den in New York verkauften stehen. Für die hiesigen Sammler ein nicht zu unterschätzender Hinweis aus Übersee.


Ein kleiner Einblick ins Auktionsgeschehen (Courtesy Christie’s).

Albinos im Regenwald

Claudia Schmid am Mittwoch den 4. Mai 2016

Der Besuch im Aargauer Kunsthaus beginnt mit einer grossartigen Erkenntnis. Eine Einheimische verrät beim Aussteigen aus dem Zug, dass eine Treppe und ein Weg hinter den Gleisen direkt zum Museum führten und man sich so den Spaziergang durch den Hauptausgang und die Bahnhofstrasse sparen könne. Ein Zeitgewinn von 12 Minuten! Doch als man auf dem Weg ist, wandert eine ansehnliche Kunsttruppe bereits auf der «neuen» Route zur Vernissage. Ist man eigentlich immer die Letzte bei solchen Dingen?

Was: Vernissage der Ausstellung «The Sleeping Eskimo» von João Maria Gusmão und Pedro Paiva, Verleihung Manor-Kunstpreis und Ausstellung für Marta Riniker-Radich, Caravan-Eröffnung von Pauline Beaudemont
Wann: Freitag, den 29.4.2016 (Ausstellungen bis 7. August)
Wo: Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz, 5001 Aarau

Frühlingsmuseum feiert junge Kunst – das Pferd im Hof ist ein Werk der «portugiesischen Fischli/Weiss» Gusmao und Piva

Frühlingsmuseum feiert junge Kunst – das Pferd im Hof ist ein Werk der «portugiesischen Fischli/Weiss» Gusmão und Paiva.                                         Bilder: Claudia Schmid

Wahnsinnig viele aus der Truppe, zumindest aus der jungen, coolen Crew aus Basel, Zürich oder Bern, finden sich allerdings nicht im Museum ein, eher treue, ältere Mitglieder des Aargauischen Kunstvereins: Vielleicht geht die Sonne an diesem traumhaften Frühlingsabend einfach zu schön unter.

Dabei ist längst klar, dass das Aargauer Kunsthaus auch bei schönem Wetter gerade für junge Künstler und ebensolche Besucher eines der besten Museen ist: Ob die «Caravan»-Reihe, die jeweils Nachwuchskünstlern eine Plattform bietet, oder Übersichtsausstellungen wie «La jeunesse est un art» – wer regelmässig nach Aarau reist, weiss, wer in der Schweizer Kunstszene abgeht oder abgehen wird.

Museumsdirektorin Madleine Schuppli (Mitte), die mit dem Manor-Preis geehrte Marta Riniker-Radich mit dem Preisstifter Pierre-André Maus (rechts), die Zürcher-Delegation Aline Juchler, Mitarbeiterin Galerie RaebervonStenglin und Livio Baumgartner, Künstler

Museumsdirektorin Madeleine Schuppli (Mitte), die mit dem Manor-Preis geehrte Künstlerin Marta Riniker-Radich mit dem Preisstifter Pierre-André Maus (rechts), die Zürcher Delegation Aline Juchler von der Galerie RaebervonStenglin und Livio Baumgartner, Künstler.

Am Freitag wurden gleich drei Ausstellungen mit U-40-Artists eröffnet. So bekam die 34-jährige Marta Riniker-Radich von Pierre-André Maus aus der «Manor-Familie» den Manor-Kunstpreis verliehen; die charmante Pauline Beaudemont im massgeschneiderten Anzug bespielt in der «Caravan»-Ausstellung einen Raum in der oberen Etage.

Werke der Manor-Preisträgerin Marta Riniker-Radich

Werke der Manor-Preisträgerin Marta Riniker-Radich.

Highlight aber ist die bisher grösste Einzelausstellung des portugiesischen Duos João Maria Gusmão und Pedro Paiva. Madeleine Schuppli, Direktorin des Museums, entdeckte die beiden wie viele an der Biennale Venedig, wo sie 2009 als jüngste Künstler überhaupt den portugiesischen Pavillon bestritten. 2015 zeigten sie einen Teil ihrer Filme, die nun auch im Kunsthaus zu sehen sind, erneut an der Biennale – in der Gruppenschau im Arsenale.

Demnächst findet eine Schau ihrer Werke im renommierten Münchner Haus der Kunst statt. «Es ist schade, dass die tolle Zusammenarbeit mit den Künstlern zu Ende ist», sagte die Direktorin betrübt, doch zufrieden. Denn dafür sei jetzt die Ausstellung fertig.

Nach getaner Arbeit das Fest: Vernissageansprache in dem von Herzog & de Meuron gestalteten Vestibül des Aarauer Kunsthauses, die beiden fotoscheuen Künstler Gusmao und Piva

Nach getaner Arbeit das Fest: Madeleine Schupplis Vernissagenansprache in dem von Herzog & de Meuron gestalteten Vestibül des Aargauer Kunsthauses, die fotoscheuen Künstler Gusmão und Paiva.

Es war eine Mordsarbeit! João Maria Gusmão und Pedro Paiva erzählen, sie hätten während der Aufbauarbeiten nur das Hotel und das Museum gesehen. «Wir können leider nicht behaupten, dass wir die Schweiz jetzt kennen.» Fotos lehnen die Schwarzgekleideten und Kahlrasierten mit den dunklen Knopfaugen, die auch als Brüder durchgehen könnten, vehement ab. «Unsere Arbeit soll total im Vordergrund stehen.» Keine Bilder im Handy- und Internetzeitalter – wie wollen sie das durchziehen? «So weit wie möglich. Man findet im Netz nur ganz wenige Bilder von uns.»

Allerdings finden wir in der Ausstellung eine Arbeit, bei der die beiden in einem japanischen Restaurant mit Stäbchen essen. Und bei der Eröffnungsrede stehen sie vors Publikum, wo man sie ohne Probleme fotografieren kann. Was wir, lange bevor sie uns auf ihre No-Photo-Strategie hinweisen, auch tun.

Lernen mit Stäbchen essen: die Portugiesen in Japan

Japanische Impressionen im Künstlerfilm: Ein Werk von Gusmão und Paiva.

Im Gegensatz zu ihrer Abneigung gegenüber Porträts stehen die Enddreissiger für ein sehr zugängliches, witziges und hintersinniges Œuvre. In aufwendig produzierten, nostalgisch anmutenden 16- und 35-mm-Filmen fangen sie auf ihren Reisen durch die Welt mit sparsamer Bildsprache und ohne Ton alltägliche, zauberhafte und manchmal seltsame Dinge ein: den Flügelschlag eines Papageis, einen zwinkernden Buddha, einen Affen, der zuschaut, wie ein Apfel langsam nach unten fällt, Albinos, die sich im Regenwald am Feuer Witze erzählen.

Hypnotische Bilder: Filme der portugisieschen Künstler

Hypnotische Bilder: Filme der portugiesischen Künstler.

Neuere Arbeiten stammen aus Japan. Dort haben Gusmão und Paiva exotische japanische Gemüse und Früchte oder Schlafende im Zug gefilmt. Klingt aufs Erste vielleicht alltäglich. Aber viele Filme ziehen einen dank Super-Highspeed oder einer abartigen Langsamkeit sofort in den Bann: So wird in «Osaka Lights» das ständige Flackern der Neonröhren in einem Lampengeschäft erst dank der hohen Bildfrequenz sichtbar. Ein anderer Film zeigt, wie ein Baum gefällt wird und gaaanz langsam im Dickicht landet.

Künstlerin Pauline Beaudemont im massgeschneiderten Anzug, der Basler Künstler Fabio Marco Pirovino

Künstlerin Pauline Beaudemont im massgeschneiderten Anzug (rechts), der Zürcher Künstler Fabio Marco Pirovino.

Eine schöne Abwechslung zu den dunklen Projektionsräumen, in denen man während der Vernissage immer wieder mal mit jemandem zusammenstösst und leicht erschrickt, bieten die Räume mit den tierischen und objekthaften Bronzeskulpturen. Ob ein Pferdekopf, ein T-Shirt, ein Fisch, der keck auf einem Kubus sitzt, oder eine Pfanne mit einem Spiegelei: Auch da ist wieder diese klare, lustige Zugänglichkeit.

Objekthafte Bronzeskulpturen von Gusmao und Paiva

Objekthafte Bronzeskulpturen von Gusmão und Paiva.

«Etwas Fischli-Weiss-mässig», stellt Künstler Fabio Marco Pirovino zu Recht fest, der zurzeit in der Römer Galerie Frutta ausstellt. «Aber es ist ja auch eine Kunst, jemanden, den man mag, auf eine eigene Art zu kopieren.» Neben Pirovino sichten wir auch Künstler Livio Baumgartner oder Aline Juchler, Mitarbeiterin der Zürcher Galerie RaebervonStenglin.

Während ihre Kolleginnen, Mitarbeiterinnen des Aargauer Kunsthauses, bereits von Ausstellungen im Jahr 2017 reden, ist Juchler erst mal zufrieden, dass die Shows in der Galerie vergangene Woche auf die Minute fertig wurden. «Als Galerist schafft man Punktlandungen, als Museumskurator ist man gedanklich schon im Jahr 2017 oder 2018», sagt sie.

Gemüse als Kunst und kunstvolle Häppchen an der Vernissage in Aarau

Kunstvolle Häppchen und Gemüse als Kunst an der Vernissage in Aarau.

Das Programm des Aargauer Kunsthauses klingt jedenfalls auch nächstes Jahr vielversprechend: So wird die Ausstellung «Swiss Pop Art» 2017 bestimmt wieder viele U-30 und Ü-40 über den Weg hinter den Gleisen ins Museum locken.