Die Kunst ist das Zuhause der Wildheit. Der Gedanke befiel mich am letzten Wochenende, an zwei Veranstaltungen, die inmitten stierer postindustrieller Gebäude die Wildheit feierten. Wildheit im Sinne eines unverfälschtern expressiven Ausdrucks kreatürlicher Existenz.
Was: Finissage der Ausstellung von Bailey Scieszka in der Galerie Plymouth Rock sowie Vernissage einer Ausstellung im ZHDK-Offspace Taylor Macklin
Wo: an der Luegislandstrasse 105
Wann: Freitag, den 20. Mai 2016
Was: Erste Auktion der Hammer Auktionen mit Werken afrikanischer und ozeanischer Kunst
Wo: an der Baslerstrasse 71
Wann: Samstag, den 21. Mai 2016
Sie sehen es schon an den Adressen: Schwamendingen und Altstetten. Das ist, was Kunst anbelangt, bereits ein «Walk on the Wild Side». Dazu kommt, dass wenn wir von postindustriellen Gebäuden sprechen, wir meistens romantisch verfallene ehemalige Schifffabriken und Bierbrauerein meinen, meist schick renoviert, selbstverständlich mit rücksichtsvoller Hervorhebung der ursprünglichen Stilelemente. Nun, im Fall Luegislandstrasse und Baslerstrasse ist die Postindustrialität weniger pittoresk. Nüchterne Zweckbauten der 60er-Jahre beherbergen hier einen noch ungentrifizierten Mix an Galerien, Kunstmaterialhändlern, Eventveranstelrn, Künstlerateliers sowie Billiganbietern von Spezialelektronik.

Grosse, helle Kinderaugen, expressive Zeichnungen: Bailey Scieszka at her best (alle Bilder H. Jokeit, E. Hess, zVg)
Irgendwie ist es nicht zum Nachteil der hier sich einnistenden Kunst, denn ein Irrgang durch die langen Korridore weckt schon dieses diffuse Gefühl der Identitätserschütterung, das die Kunstaufnahme im besten Fall begleitet. Ich war ja nicht zum ersten Mal an der Luegislandstrasse, musste dennoch mehrere SMS schicken mit der verzweifelten Botschaft: Help, cannot find you! Und dann wars da, wir standen plötzlich vor Old Put, dem Clown. Das erschreckendste an Old Put sind seine Augen. Helle, runde Kinderaugen, die einen ohne zu blinzeln anschauen. Man schaut in diese Augen und es wird einem schwindlig. Dieser helle Blick hat keinen Boden und das ist beunruhigender als wenn da einem Bosheit, Vorwurf oder Bitterkeit entgegenblicken würden.
Old Put, das ist die 25-jährige Detroiter Künstlerin Bailey Scieszka. An der renommierten Cooper Union studierte sie Skulptur, Video und Zeichnung. In New York erfand sie die Persona des alternden Kinderhandmodels Old Put. Im Zivil ist Bailey klein, rundlich, rothaarig. Als Old Put ist sie ein Paradiesvogel mit bemaltem Gesicht und zusammengewürfelten Klamotten.
Für ihr alter Ego den Clown schreibt sie Texte, die von existenziellen Gemütszuständen berichten, in endlosen, gefühlvollen Monologen (man ist an den Schlussmonolog aus James Joyces «Ulysses» erinnert) erzählt sie irgendetwas von Angst, Wut, Hoffnung, Enttäuschung, Verrat. Nach der Aufnahme verlangsamt sie den Lauf des Videos unmerklich, so dass die Stimme der schrägen Kindfrau tiefer wird, die Bewegungen wirken seltsam verhalten, wie in Trance.

Die postindustriellen Ränder von Zürich: die ehemalige UBS-Kantine an der Baslerstrasse, stimmungsvoll für Kunst adaptiert
An den seltsamen Clown musste ich einen Tag später denken, als wir im fröhlich zusammengewürfelten Mobiliar an der Baslerstrasse Platz nahmen, um der Auktion afrikanischer Kunst beizuwohnen. Es war die erste Versteigerung des Kunsthändlers Jean David, der die Galerie Walu vor Jahren schon von seinen Eltern übernommen hat und auch schon für Koller afrikanische Kunst auktionierte. In der Ausstellung in der ehemaligen Kantine von UBS an der Baslerstrasse schauten einem die afrikanischen Masken genau so unergründlich blank wie der kindliche Clown aus Detroit in die Augen. Manche grinsen mit Muschelzähnen. Manche strecken die Zunge raus.

Grinsen mit den Muschelzähnen, machen einen auf Kubismus oder Surrealismus: die Masken der Stammeskunst.
Natürlich fühlt man sich beim Anblick der grossartigen Meisterwerken der Stammeskunst an all die Anleihen erinnert, welche moderne Kunst bei der Kunst des südlichen Kontinents machte. Dort steht ein «beinahe Giacometti», hier grinst einem ein «beinahe Braque» entgegen. Da gibt es «fast surreale» Doppelgänger oder grosse Löffel mit Beinen, die direkt aus einem Gemälde von Max Ernst heruntergesprungen sein könnten. Doch die Verwandschaft erstreckt sich, ganz universell, in die unmittelbare Gegenwart.

Welche Skulptur ist von Max Ernst? Rechts «Moonmad» des Surrealisten, links eine Figur aus Gabun, geschätzt auf höchstens 2000, verkauft für 8.500 Franken
Wie sehen gerade zurzeit in Zürich so viel Dokumentation über die Einflüsse von weit entfernten Kulturen auf die Moderne und ihre «Verrücktheiten»: Dada Afrika im Museum Rietberg, Dada anders im Haus Konstruktiv (obwohl hier klugerweise der Spiess umgedreht wird und auch der nördliche Einfluss im Süden ein Thema ist). Aber an diesem Wochenende an den Rändern von Zürich wird einem die wilde Seele der Kunst mit aller Macht vorgeführt.
Einerseits werden wir mit dieser jungen US-Künstlerin Scieszka konfrontiert. Kaum hat sie die angesagte Kunstschule Cooper Union in New York absolviert und erste Erfolge in der Metropole gelandet, in die postindustrielle Wüste Detroits, wo, wie sie selbst sagt, – «gar nichts» ist. An diesem modernen Unort kann sie sich ausdrücken, die existenzielle Klage eines schmerzhaft vergesellschaftlichten Tiers den ehemaligen Autofabriken und den verlassenen Wohnblöcken entgegenschreien.

Bailey Scieszka mit ihrem Galeristen Mitchell W. Anderson und vor ihrer Zeichnungswand
Sie ist eine Rarität der heutigen Kunstszene, weshalb Mitchell W. Anderson, der gewiefte Plymouth-Rock-Gründer und selbst ein Künstler, sie nach Zürich geholt hat, um uns etwas zu zeigen, was wir hier weniger sehen: wilde Expression. Der Durchmarsch der Konzeptkunst in den letzten fünfzig Jahren war radikal: Heute ist alles Konzept. Ein Vulkan wie Bailey Scieszka einer ist (oder wie Jean-Michel Basquiat einer war) ist selten geworden.

Leere Chaträume (rechts) des britischen Künstlers Ian Wooldridge (rechts)
Im benachbarten ZHDK-Offspace Taylor Macklin ist eine wunderbare Installation von Ian Wooldridge zu sehen: «The Skin of a Drum». Ein komplexes konzeptuelles Werk, das in multiplen medialen Schichtungen funktioniert (Chatroom-Kameras, die Menschen, die vor ihnen sitzen, die aber schon weggegangen sind, die leeren Räume, in welchen vielleicht die Masturbation stattfand, das alles ausgewählt, zerstückelt, mit Musik unterlegt und auf hautähnliche Projektionstücher geworfen…). «A silent rave», sagt Nachbar Mitchell nachsichtig lächelnd. Bailey Scieszka lacht dazu ihr schrilles Clown-Lachen, das keine wirkliche Heiterkeit anzeigt.

Jean David von den Hammer Auktionen umringt von den Meisterwerken der Stammeskunst
Die Auktion am Tag darauf ist aber, muss man anmerken, auch kein richtig fröhlicher Anlass, obwohl sie wunderbar läuft. Die Werke wecken Begehrlichkeiten der anwesenden Fachleute. Es sind zum grossen Teil museale Stücke aus zwei tollen Schweizer Sammlungen aussereuropäischer Kunst: derjenigen des Zürcher Anwalts Rudolf Blum und seiner Frau Leonore sowie von Carlo Monzino, dem 1996 verstorbenen italienischen Sammler.

Verwandschaften, wohin das Auge blickt: ein afrikanischer Beinahe-Giacometti und eine südliche Kollegin der Masken aus dem Appenzellerland.
Diese Köpfe, Gestalten, Wärter unergründlichen Geheimnisse, sind noch so lebendig, weil sie expressiv vom Leben der Menschen, die sie hergestellt haben, sprechen. Von ihrer Liebe zu den Tieren, die sie umgaben, von ihrem Imponiergehabe und von ihren Ängsten. Sie sind schön, begehrenswert, wunderbar. Irgendwie passt es einem nicht, dass sie an den meistbietenden verkauft werden.
So ist das eben mit der unzivilisierten Wildheit – sie ist das vielleicht Menschlichste an uns Zweibeinern.