Der dechiffrierte Ball

Ewa Hess am Dienstag den 16. Februar 2016

Liebe Leute, am Samstag brachte es die kluge Kunsthistorikerin Laurence Frey auf den Punkt. «Ich staune», sagte sie, «offensichtlich haben auch Intellektuelle Lust auf Karneval.» Und ja, tatsächlich. Das sonst in striktes Schwarz gekleidete Publikum kam zum Dada-Ball ins Kunsthaus – und war verkleidet. Was NICHT heisst, dass die in diesen Kreisen so wichtigen Distinktionsmerkmale einfach schwups über Bord geworfen wurden. Nein. Deshalb habe ich hier, und nur für euch, meine lieben Leserinnen und Leser, die knifflige Aufgabe unternommen, den geheimen Code der samstäglichen Dada-Verkleidung zu knacken. Auf, auf, folgt mir zum Dechiffrier-Ball!

Was: Dada-Ball
Wo: Kunsthaus Zürich
Wann: Samstag, 13. Februar 2016

Dadaglobes und hübsche Kisten: Das war der Dadaball

Dadaglobes und hübsche Kisten: Das war der Dada-Ball. Fotos: D. Milnor und E. Hess

Ich muss zuerst etwas beichten: Ich habe meinen Bachtin aus der Bücherkiste rausgeholt, um das Konzept des Karnevalesken aufzufrischen. Michail Bachtin, der russische Literaturphilosoph, sagt ja in seinem berühmten Rabelais-Essay, die subversive Kraft des karnevalesken Lachens liege darin, dass die Hierarchien durchbrochen würden. Die Groteske sei das befreite Lachen des Volks, das sich der Starre der herrschenden Ordnung punktuell entledige. Im bachtinschen Sinn war historisches Dada übrigens schon eine Verkörperung des Karnevals: von der Veräppelung der Obrigkeit bis zur amorphen Körperstruktur kam da alles vor.

Edelmann mit kampfstiefeln und Handy: Künstler und Ur-Dadaist Marc Divo, Hoher Besuch aus Basel: Beyeler-Kurator Raphael Bouvier mit Freund als die schicksten Dadaisten des Abends, dicht gefolgt vom Mann mit den Goldleggings

Edelmann mit Kampfstiefeln und Handy: Künstler und Ur-Dadaist Marc Divo (links), Besuch aus der Karneval-Hochburg Basel: Beyeler-Kurator Raphael Bouvier mit Freund als die schicksten Dadaisten des Abends (Mitte), dicht gefolgt vom Mann mit den Goldleggings (rechts)

Aber gut, wir schreiben 2016, die Strukturen sind längst zum digital gemixten Birchermüesli geworden, und wenn wir auch nicht leugnen können, dass es nach wie vor Herrschende und Beherrschte gibt, sind sie längst nicht mehr an ihren angestammten Plätzen, nämlich unten beziehungsweise oben, zu orten. Vielmehr turnen sie die soziale Leiter konstant rauf und runter, sodass allein die Benennung der Verhältnisse zum Kraftakt gerät, geschweige denn ihre Veräppelung. Ausserdem, meine Damen und Herren, falls wir von der Voraussetzung ausgehen, dass es Eliten gibt, dann ist das Kunsthaus bestimmt ihr angestammtes Zuhause. Wie veräppelt man die Verhältnisse, in denen man selber der Veräppelte sein sollte? Voilà, wir sind mitten im modernen Dada. Kostümmässig ergibt das einige Strategien, die ich mir hier erlaubt habe, zu karnevalistischen Clustern zu bündeln.

Ich bin Dada? Hugo B'Allah!

Ich bin Dada? Hugo B’Allah!

Strategie 1: Der Buchstabe als Werkzeug des Widersinns

Ja, ich weiss, eigentlich ist die Schrift das Zuhause des Sinns. In der Sprache, vor allem der geschriebenen, werden wir zu Vernunftwesen. Als besonders neckisch erscheint also die Strategie der Umkehr, in der man die Buchstaben als Werkzeug des Unsinns verwendet. Wie das geht, haben die Dadaisten ja lustvoll vorgeführt. Die Strategie feierte im Kunsthaus Urstände – mit durchwachsenem komischen Erfolg. Den eigenen Schädel mit Dadaglobe anzuschreiben, mag auf den ersten Blick lustig sein, doch es mangelt der Sache am karnevalistischen Befreiungslachen. Es gab zwar noch einen Herrn, der mit einem iPad behängt war, das Unsinnsilben generierte, das sah cool aus, war aber überhaupt nicht lustig. Es gab ein Paar mit «DORT» am Rücken (und Kleiderbügel auf dem Kopf) – das wirkte eher sehnsuchtsvoll romantisch als widersinnig. Stellen wir also fest: Reiner Unsinn hat seine Provokationskraft verloren. Vielleicht weil wir in den Codes der Programme den Sinn des scheinbar Unsinnigen erleben. Punktum. Strategie gescheitert.

 

Expat-Füchse mit doppeldeutiger Botschaft, falscher Trump

Expat-Füchse mit doppeldeutiger Botschaft, falscher Trump.

Strategie 2: Politische Subversion in poetischer Form

In dieser Kategorie hätten wir den Donald-Trump-Verschnitt mit dem Käppi «Make America Great Again» auf dem Kopf und die Expat-Füchse mit ihren Transparenten «Immigrant Fox Hunt» und «Gold Lives Matter». Beides ambivalente Botschaften, die zwar nicht zum Lachen reizen, jedoch durchaus zum Nachdenken anregen. Die Goldfüchse waren fast einen Tick zu schön, um subversiv zu wirken, und ehrlich gesagt wären sie glaubwürdiger gewesen, wenn sie nicht konstant Selfies von sich geschossen hätten. Mein Liebling in der Gruppe der poetischer Politik war die bereits oben erwähnte Laurence Frey, die auf ihrem orientalischen Gewand das Schildchen «Hugo B’Allah» trug. Haha! Finden Sie es auch so lustig wie ich? Also da ist in kurzer Form alles veräppelt: die grassierende Dada-Verzückung des offiziellen Zürichs (Hugo balla balla), der formalistische Überwachungswahn der Amis (bei der Nennung des Schlüsselworts Allah wird das Abhörtonband eingeschaltet). Und es klingt sogar der unschuldig-verschmitzte Wortwitz der schweizerischen Mani-Matter-Tradition mit (dr Sidi Abdel Assar vo El Hama, der sich ja im Lied auf Pijama und Drama reimt). Dada-mässig schiesst Familie Frey den Vogel ab (den Verleger und Kabarettisten Patrick habe ich allerdings am Ball nicht gesichtet).

Vogel-Strauss-Politik oder Selbstbezichtigung? Köpfe und Käfige

Vogel-Strauss-Politik oder Selbstbezichtigung? Köpfe und Käfige.

Strategie 3: Kopf im Käfig

Warum bloss? Ich kam nicht drauf, warum so viele Kopfkäfige? Die zwei Brustkäfige mit Vögelchen muss man wohl dazuzählen. Vogel-Strauss-Politik? Wir sind selber hinter Gittern? Die zivilisatorischen Zwänge haben sich selbstständig gemacht, wir werden derer nicht mehr Herr? Eng verwandt übrigens mit Nr. 4: Kopf in der Kiste.

Anina Frei als intellektuelle Kiste, amorphe Kiste sowie Facebook-Kiste: Frevel gegen gottähnliche Technik?

Anina Frey in der intellektuellen Kiste, amorphe Kiste sowie Facebook-Kiste: Frevel gegen gottähnliche Technik?

Strategie 4: Kopf in der Kiste

Dass die Berichterstatterin des nationalen Fernsehens in einer Kiste kam, lässt sich ja noch erklären. Bei SRF symbolisiert schon seit einer Weile ein Packkarton die Intellektualität schlechthin, wie man dem Logo des «Literaturclubs» entnehmen kann. Wenn also Anina Frey in einer Kiste kommt, will sie damit zeigen, dass sie heute Abend nicht als Klatschreporterin unterwegs ist, sondern als karnevaleske Hinterfragerin. Warum aber so viele andere in Kisten kamen? Ich habe eine Erklärung, aber sie ist sehr vollmundig: Seit Gott in öffentlicher Wahrnehmung in die Richtung eines (nicht immer erfolgreichen) Sozialarbeiters gerutscht ist, hat die Technik alle gottähnlichen Funktionen übernommen: Sie lenkt uns, sie sieht uns mit göttlichem Auge von überall her, sie kennt unsere Sünden sowie Schwächen, und manchmal verzeiht sie sie uns auch (dank der Löschtaste) – und so weiter. Kopf in der Kiste ist also eine subtile Veräppelung unseres Herrn, des Computers. Verwegen!

 

Kamel und Perücke: Die Klassiker

Kamel und Perücke: Die Klassiker.

Strategie 5: Klassisch Karnevaleskes

Geht auch! Als Kamel verkleidet oder mit roten Haaren – ein kluger Kopf braucht doch keine Kompliziertheiten, um anzudeuten: Heute mache ich mich über meine alltägliche Perfektion lustig. Unter der roten Perücke, bin ich mir fast sicher, steckte der Kult-Fotograf Walter Pfeiffer. Bien joué.

Ein haariges Ding aus der «Adams Family», Butt plug auf dem Kopf, Mr. Penis

Ein haariges Ding aus der «Adams Family», Butt Plug auf dem Kopf, Mr. Penis.

Strategie 6: Camp

Hier verlassen wir das Königreich Bachtins und treten in die Republik von Susan Sontag ein. Schlechter Geschmack als die ultimative Subversion des guten Geschmacks, der gerade in Zürich doch wirklich etwas penetrant Wohnungen, Bürointerieurs und Kleiderschränke beherrscht. Finde ich lustig! Aufblasbarer Penis, haariger «Cousin It» aus der «Adams Family» oder ein Zombie mit dem Sexspielzeug «Butt Plug» auf dem Kopf – hallo, ihr Camp-Dadaisten! Bestes Lachen ist primitives Gelächter, aber da sind wir wieder bei Bachtin. Ah, und übrigens, der Oberdadaist Stefan Zweifel entschloss sich auch für diese Strategie und kam in goldenen Leggings sowie einer räudigen Pelzjacke. Sah gut aus.

Duschbrigade, Damen aus den 50-ies, die Himmelblauen und die beiden Frida Kahlos

Die lustige Duschbrigade, die Damen aus den 50ies, die Himmelblauen sowie die beiden Frida Kahlos (die Kommunikations-Fachfrauen Barbara Brandmaier und Claudia Wintsch Lautner).

Strategie 7: Falscher Film

Verwandt mit 6, aber ehrlich gesagt ein bisschen weniger lustig. Man schert sich nicht um Dada, sondern folgt in seiner Verkleidung einem ganz anderen Thema. Interessanterweise vor allem eine Gruppenstrategie. Dazu gehörten: zwei Frida Kahlos. Die drei Damen aus den Fifties. Die drei Damen mit Ballonengirlanden, direkt von einem Kindergeburtstag. Die drei Herren in himmelblauen Wolkenanzügen. Die drei Duschvorhänge – die waren allerdings sehr lustig, weil die Idee so einfach war und der «amorphe Körper» eine moderne Interpretation fand, die erst noch einen anderen Gott unserer Zeit, die Körperhygiene, veräppelte. Und ja, auch der Herr im Marihuana-Anzug war lustig. Wahrscheinlich weil er selbst stets kicherte.

Immer schon Dada gewesen: DJ Untitled Campologo, Les Reines Prochaines

Immer schon Dada gewesen: DJ Untitled Campolongo, Les Reines Prochaines.

Strategie 8: Immer schon Dada gewesen

Auf beiden Musikbühnen aufs Glaubhafteste und ohne Verkleidung vertreten. In der Person von DJ Untitled Campolongo, der bei seinen unkorrumpierbaren Ansichten zum unabhängigen (Musik-)Stil und (Lebens-)Schneid nie Kompromisse machte. Und in der Band Les Reines Prochaines, die sich schon immer wenig um Moden und Konventionen scherten und mit neo-dadaistischen Texten ganz eigene Musik machten.

Voilà, so viel dazu, was der Dada-Ball zur Analyse unserer gegenwärtigen Lage leistete. Die bunten Luxemburgerli füllten nach Mitternacht die verbleibenden Theorielücken.

Rausch? Von wegen, dieser Wolf hat sein Schafspelz für die Performance schon mitgebracht

Rausch? Von wegen, dieser Wolf hat seinen Schafspelz für die Performance schon mitgebracht.

Das Ego-Gesetz

Ewa Hess am Dienstag den 9. Februar 2016

«Gebt mir eine Million, und ich mache aus einem Kartoffelsack einen Bundesrat», soll Rudolf Farner bei der Gründung seiner PR-Agentur einst gesagt haben. Das war in den Fünfzigerjahren und klang skandalös. Heute hat man sich an das Phänomen (der Kartoffelsackaufwertung) gewöhnt, an grosssprecherische Ansagen ebenso. Eines bleibt sich aber gleich: Nichts hebt das Ansehen eines Politiker so sehr wie ein gepflegtes Konterfei in Öl.

Private View

Congressmen Everett McKinley Dirksen, Thomas Peter Lantos und Robert C. Byrd (gemalt von Richard Hood Harryman, Laurel Stern Boeck und Michael Shane Neal). Photos: Collection of the US House of Representatives

In den USA wurden sie übrigens gerade verboten. Bisher stand den Kongressmitgliedern die stolze Summe von 25’000 Dollar zur Verfügung, um sich von einem Maler ihrer Wahl in Öl verewigen zu lassen. Sie machten von diesem Privileg rege Gebrauch. Ob Ton in Ton mit dem Pudel (Lantos), voll beschäftigt vor den Akten (Dirksen) oder mit dem Foto der Gattin auf dem Bürotisch  (Byrd) – jeder liess sich pinseln und an die Wand des Capitols nageln. Auch wenn sie nur ganz kurz in Amt und Würden waren – wie etwa der ehemalige Sekretär des Department of Commerce John Bryson. Er diente seinem Land lediglich acht Monate, hinterliess aber den Steuerzahlern für sein Bildnis eine Rechnung von 22’400 Dollar.

Auch die Kongressdamen mögen Porträts: Shirley Anita Chisholm, Edith Nourse Rogers und Corinne Clairborne Boggs, gemalt von Kadir Nelson, Howard Christy und Ned Bittenger

Auch die Kongressdamen mögen Porträts: Shirley Anita Chisholm (die erste Afroamerikanerin im Kongress), Edith Nourse Rogers und Corinne Claiborne Boggs, gemalt von Kadir Nelson, Howard Christy und Ned Bittenger.

Das Gesetz, welches diese Ausgabe erlaubte, wurde in den USA «Ego-Act» genannt. Jetzt wurde dem eitlen Treiben ein Ende gesetzt. Das Land spare dadurch eine halbe Million Dollar, heisst es, was verglichen mit gewissen anderen Ausgaben (etwa dem neuen Kampfflugzeug des Pentagons, das 98 Millionen kostet) eigentlich nicht so viel ist. Wären es nur etwas bessere Maler! Aber natürlich klopfen die Politiker fürs Porträt nicht bei einem Künstler an, der aus ihrem Gesicht dann moderne Kunst macht. Nein. Gefragt ist konservative, geradezu biedere Ästhetik. Leider (für die US-Staatsfinanzen) sind Preise von dergestalt malenden Künstlern vom gegenwärtigen Aufwärtssog kaum betroffen.

Bill Clinton präsentiert sein Porträt (noch bevor er ahnte, dass die berühmte Praktikantin als Schatten drin schlummert)

Bill Clinton präsentiert sein Porträt von Nelson Shanks (das war, bevor Clinton ahnte, dass die berühmte Praktikantin als Schatten drin schlummert).

Natürlich hat es an den Wänden des Capitols auch jede Menge historisch relevante Porträts. Malerisch sind sie allerdings kaum besser. Etwa das wirklich kitschige Konterfei von Bill Clinton. Nicht genug, dass es ein furchtbar hässlicher Ölschinken ist, hat der Maler namens Nelson Shanks erst noch eine alberne Anspielung auf Monica Lewinsky auf dem Bild versteckt. Der Schatten über dem Cheminée ist eigentlich unmotiviert und erst noch verdächtig kurvig. Der Maler gestand kurz vor seinem Tod der Presse, dass er in diesem Schatten das blaue Kleid Lewinskys (das er tatsächlich auf einem Kleiderständer ins Zimmer gehängt hatte) abgemalt hatte. Andere Absurditäten verbinden sich mit dem Porträt Arnold Schwarzeneggers, das er immerhin von seinem österreichischen Landsmann Gottfried Hellnwein malen liess. Nach der Trennung von seiner Gattin Maria Shriver liess er einen Knopf am Revers, der ihr Gesicht trug, entfernen.

Die Enthüllungen: Thomas Heiniger und Regine Aeppli vor ihren Abbildern (gemalt von Max Rieser resp. Marc-Antoine Fehr) Photos D. Meienberg, S. Bobst

Die Enthüllungen: Thomas Heiniger und Regine Aeppli vor ihrem Abbild (gemalt von Max Reiser resp. Marc-Antoine Fehr). Photos: D. Meienberg, S. Bobst

Und in der Schweiz? Natürlich lassen sich Schweizer Politiker diese Möglichkeit der Imagepflege nicht entgehen. In Zürich gibt es sogar eine gewisse Entsprechung des amerikanischen Ego-Gesetzes. Begründet wurde es vom Kaufmann Heinrich Wilhelm Schelldorfer 1919. Er hat dem Kanton Zürich 110’000 Franken geschenkt mit dem Ziel, jeden Zürcher Regierungspräsidenten und Bundesrat mit einem Porträt zu verewigen und in die «Ahnengalerie» des Kaspar-Escher-Hauses hängen zu lassen. Einzige Vorgabe war: keine Fotos. Dieses Geld war 2012 aufgebraucht. Da hatte der Maler Marc-Antoine Fehr Regine Aeppli gerade halb fertig. Seither zahlt die Fachstelle Kultur des Kantons immerhin 20’000 Franken pro Porträt, fast gleich viel wie die Amis.

Links wie rechts die gleichen Posen: Alt-Bundesräte Moritz Leuenberger und Christoph Blocher

Links wie rechts die gleichen Posen: Alt-Bundesräte Moritz Leuenberger und Christoph Blocher (Porträts von Bruno Müller-Meyer und Karl Landolt).

Vergeblich sucht man übrigens nach ästhetischen Unterschieden zwischen den politischen Blöcken. Das gewagteste Bild hat bisher der Zürcher Regierungsrat Thomas Heiniger (FDP) von sich selbst bestellt. Wer also erwartet hat, dass aus dem linken Lager besonders mutige ästhetische Vorstösse kommen, sieht sich enttäuscht. Moritz Leuenbergers Bildnis trägt gar Züge des milden sozialistischen Realismus – die knorrigen Hände im Vordergrund könnten von einem Dienstmaler des Arbeiter- und Bauernstaates stammen. Dem ist aber nicht so, der Maler heisst Bruno Müller-Meyer und war Leuenbergers Urlaubsgefährte in Oman. Er hat sich für die Aufgabe empfohlen, indem er sich ebenso über ein unstatthaftes Foto von M. L. in Badehose empört hatte wie der später von ihm Porträtierte. Das hat der Noch-Bundesrat damals, im Oktober 2008, selbst meinen Kollegen vom «Tages-Anzeiger» so erzählt.

Ich weiss ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich fände es schade, wenn es die Tradition nicht mehr gäbe. In den USA heisst es jetzt: Eine Fotografie genügt, man muss nicht grad zum Pinsel greifen. Die nächste Stufe: Sollen doch die Politiker ein Selfie von sich selbst machen! Das Volk spendiert den Selfie-Stick dazu. Ich bin dennoch für Öl. Aber bitte, liebe Staatsdiener, seid doch etwas mutiger und ein bisschen weniger eitel.

Die Abgeordnete XY in den Couloiren des Capitols

Die Abgeordnete Shirley Anita Chisholm schaut mahnend in die Couloirs des Capitols hinein.

Engadiner Prophezeiungen

Ewa Hess am Dienstag den 2. Februar 2016

Liebe Leute, was wissen wir? Alles und nichts zu gleich! Vor allem jetzt. Überall schwirrt die Information, wir sehen sie links, rechts, sie ergiesst sich auf unsere Bildschirme, wir wollen sie packen, verstehen, zu neuen Ufern damit aufbrechen … Und gerade, wenn wir denken, dass wir klüger geworden sind, zerfällt uns alles wieder in Stücke. Plop.

Was tun? Wie integrieren, konsolidieren, greifbar machen? Am Wochenende versammelte sich in Zuoz eine hochkarätige Truppe von Künstlern, Architekten, Kuratoren und anderen Denkern (womit die Denkerinnen fest mitgedacht sind), um der Sache mit den freifloatenden Fragmenten auf die Schliche zu kommen. Nach zwei Tagen dicht an dicht gehaltener Vorträge hier schon mal die Good News: Es gibt einen Weg.

Was: Engadin Art Talks  zum Thema «Traces and Fragments»
Wo: Im Gemeinschaftssaal der Chesa cumünela in Zuoz
Wann: 30. und 31. Januar 2016

Die Organisatoren Cristina Bechtler und Hans Ulrich Obrist, Dorfplatz in Zuoz, Pause für die rauchenden Köpfe

Die Organisatoren Cristina Bechtler und Hans Ulrich Obrist, Chesa cumünela in Zuoz, Pause zwischen den Talks. Bilder: Ewa Hess / Alex Hana / E.A.T.

Am zweiten Tag brachte es ein alter Herr auf den Punkt. Sein Name ist Giorgio Griffa und er wird dieses Jahr 80. Griffa ist ein Maler, kommt aus Turin, von der Ausbildung her ist er kein Künstler, sondern Jurist. Er sagte am Sonntag in Zuoz:  Wir müssen alle zu Dichtern werden.Um die Schnipsel des Wissens der Kakofonie zu entreissen. Dichten hat nämlich etwas mit «verdichten» zu tun. Und die Informationsstücke kann man, muss man sogar verdichten, auf eine kreative und intelligente Weise. Das Wissen bisher sei so etwas wie ein sinfonisches Konzert gewesen. Hier die Violinen, dort die Flöten, ab und zu die Trommel, und alles nach einer festen Partitur. Das Wissen heute, sagt Griffa, ist eher wie Free Jazz. Die Neuronen leuchten zunächst einmal chaotisch im Kopf auf und nur mit der Haltung einer gut gelaunten Alertheit kann man darin ein Muster erkennen – oder seine eigene Melodie dazu performen.

Giorgio Griffa als junger Maler in den 70-er Jahren, vor einem seiner Gemälde und während des Vortrags in Zuoz

Giorgio Griffa als junger Maler in den 70er-Jahren, vor einem seiner Gemälde und während des Vortrags in Zuoz.

Griffa muss es wissen, denn er macht sein Leben lang nichts anderes. Als er in den 70er-Jahren anfing, war er nah an der minimalistischen Kunst. Doch anders als seine Kollegen, wollte er diese nicht komplett von der Individualität des Künstlers entkoppeln. Ihm war es wichtig, dass in den Mustern, die er auf eine ungrundierte Leinwand anbrachte, die Hand des Malers noch erkennbar war. Und vor allem, mitten in der Arbeit hörte er mit dem Malen auf. Dieser Moment des willentlichen Aufhörens, das prononcierte «abstellen» des kreativen Prozesses, wurde so etwas wie sein Markenzeichen. Und, Hand aufs Herz, kennen wir nicht alle die alles beherrschende Macht des «switch off»? Nur wer sich aus dem Netz bewusst ausschalten kann, verheddert sich heute nicht in den endlosen Informationsschlaufen.

Kasper König wartet auf den Zug, Pascale Marthine Tayou mit bunten Energiekugeln, Eyal Weizmann erklärt, wie man reale Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus den Pixeln herauslesen kann

Kasper König wartet auf den Zug, Pascale Marthine Tayou mit bunten Energiekugeln, Eyal Weizmann erklärt, wie man reale Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus den Pixeln herauslesen kann.

Als einige von uns einige Stunden später auf den Zug nach Zürich warteten, sass der legendäre deutsche Kurator Kasper König auf dem Bänkchen des Zuozer Bahnhofs, eine bunte Strickmütze auf seinem Knie. «Wenn man dreissig Jahre an einem Konzept festhält», brummte König auf seine unnachahmliche Art, «kann man meistens irgendwann, mehrere Generationen später, damit wieder Furore machen.» Stimmt ja schon, lieber Herr König, doch nur wenn das betreffende Konzept wirklich gut ist, nicht wahr? Das von König ist übrigens ebenso solid wie das von Griffa – der ehemalige Direktor des Ludwig-Museums in Köln initiierte etwa schon 1976 die Skulptur-Projekte in Münster. Die gibt es nicht nur immer noch (alle 10 Jahre) – die Ausgabe 2017 ist gerade in Vorbereitung – das Konzept einer grossen Ausstellung zeitgenössischer Kunst draussen in der Provinz wurde seither zu einem Erfolgsmodell.

Fotograf Hans Danuser, Moderatoren Beatrix Ruf und Daniel Baumann, Maler Albert Oehlen und Julian Schnabel im Gespräch

Fotograf Hans Danuser, Moderatoren Beatrix Ruf und Daniel Baumann beim Anreichern der Drähte mit Energie, die Maler Albert Oehlen und Julian Schnabel im Gespräch.

Aber zurück zu Griffa. Sein Auftritt hatte etwas von dem eines Propheten. Mit leiser Stimme, konzentriert und ohne aufzuschauen, entrollte der bescheiden gekleidete Turiner Intellektuelle in seiner Rede nichts weniger als ein Konzept der neuen Zeit. Die Ära der Domination sei vorbei, sagte er, also die Zeit, als der Mensch vor allem dominieren wollte – die Natur, die Dinge, andere Menschen, andere Geschlechter oder Religionen usw. Deshalb würden wir jetzt eine andere Art der Interaktion brauchen. Da komme eben Free Jazz ins Spiel. Sozusagen ein Tanz der beweglichen Intelligenzen. Und zwar nicht nur zwischen Mensch und Mensch. Sondern auch zwischen Mensch und Natur. Ja, gerade der Kontakt, der Dialog mit der Intelligenz der Materie werde uns in Zukunft weiterbringen, sagte Griffa. Und verwies auf die magnetischen Kräfte, und die Art, wie die Lichtpartikel Objekte zum Leuchten bringen. Er selbst bewahrt seine Leinwände übrigens ohne Rahmen und aufeinandergeschichtet – die zufällig entstandenen Falten und Knitter bereichern so seine eigenen Muster.

Ein Werk von Giuseppe Penone (Sammlung H. Looser), Tayou im Gespräch mit der Koreanerin Koon XY A

Ein Werk von Giuseppe Penone (war in Engadin nicht zu sehen, und doch irgendwie präsent), Tayou im Gespräch mit der Koreanerin Koo Jeong A.

Zu diesem Credo passte an dieser prophetischen Tagung vieles. Etwa das Gespräch zwischen den Malern Albert Oehlen und Julian Schnabel, die zwar beide abstrakt malen, aber verschiedener nicht sein könnten.Die beiden gegensätzlichen Charaktere sprachen von ihren Gemälden wie von lebendigen Wesen. Schnabel sagte sogar, dass seine Leinwände, wenn sie fertig sind, unmerklich grösser wirken und aufatmen. Oehlens Werke, zu welchen er ein weit weniger liebevolles Verhältnis hat als Schnabel zu den seinen, lassen ihn dafür nicht los. Der Maler, den sein Werk quält, will aufhören, aber das Gemälde sagt: nein. Du musst noch ein bisschen ran. Auch das ein Beispiel für eine intelligente Interaktion Mensch-Materie.

Albert Oehlens Bild "Evolution" von 2002, Zabludowicz-Collection

Lässt den Schöpfer nicht los: Albert Oehlens Bild “Evolution” von 2002, Zabludowicz-Collection

Auch die minimalistische Performance der Koreanerin Koo Jeong A, welche der magnetischen Anziehungskraft von zwei Nägeln die Bühne überliess, feierte auf ihre stille Art das Thema. Und auch der fulminante Auftritt des aus Kameroun stammenden Künstlers Pascale Marthine Tayou, der das Publikum bunte Schlauchstücke auf zwei lange Drähte aufziehen liess und diese beiden mit der Energie des Saals angereicherten Objekte zu glühenden Energiekugeln formte. Tayou übrigens, der mit uns in der Rhätischen Bahn ins Tal runterfuhr, ist Kunstprofessor an der Ecole des Beaux Arts in Paris. Und wo findet sein Unterricht statt in Paris? Ich bin im Zug fast aufgesprungen von meinem Sitz, als er uns das sagte: Im ehemaligen Atelier des italienischen Arte Povera Naturmagiers Giuseppe Penone. Lucky us! Wollte ich rufen. Denn das Kunsthaus Zürich bekommt doch – hoffentlich klappt das – einige wunderbare Penone-Skulpturen aus der Sammlung von Hubert Looser. Und Penone war einer der Allerersten, die der Intelligenz der Natur Reverenz erwiesen.

Sylvie Fleury vor ihrer Eisskulptur, «Eternity Now» im Kirchhof von Zuoz

Sylvie Fleury vor ihrer Eisskulptur, «Eternity Now» im Kirchhof von Zuoz.

Am Samstag bekamen wir noch ein weiteres Beispiel für die Intelligenz der Materie präsentiert. Und wir begriffen – sie kann sich exakt an jener Stelle entfalten, an der die Dominanz des Menschen Verbrechen begeht. Der israelische Architekt Eyal Weizmann gab uns eine kurze dichte Einführung in das Fach der forensischen Architektur – einer Wissenschaft, die mit der Kenntnis der Naturgesetze die von Menschen und seinen Kriegsmaschinen angerichtete Verheerungen nachweisen kann. Weizmann analysiert im Auftrag von Menschenrechtsorganisationen Schnipsel von Bildern. Und kann so beweisen, wo unbemannte Drohnen mit ihren kleinen Missiles durch die Hausdächer dringen und Menschen umbringen, scheinbar ohne Spuren zu hinterlassen. So geschehen unter anderem in Palästina. Von dem progressiven Israeli stammt übrigens die Bezeichnung, Architektur sei «in Material gegossene Politik». Ja, auch sein Vortrag war eine Jam-Session über die Interaktion der menschlichen und materiellen Intelligenz.

Architekt Alfredo Brillenbourg mit dem unternehmer Beat curti, der Chef der Zürcher Manifesta erklärt sein Konzept, die Gründerin der EAT Cristina Bechtler im Gespräch mit beatrix Ruf, Direktorin des Stedelijk Museum in Amsterdam und Moderatorin der Veranstaltung

Architekt Alfredo Brillembourg mit dem Unternehmer Beat Curti (links), der Chef der Manifesta Christian Jankowski erklärt sein Konzept für Zürich (Mitte), die Gründerin der EAT, Cristina Bechtler, im Gespräch mit Beatrix Ruf, Direktorin des Stedelijk Museum in Amsterdam und Co-Organisatorin der Veranstaltung.

Eine mysteriös glitzernde Ergänzung zum Thema hat auf dem Zuozer Kirchhof die Genfer Künstlerin Sylvie Fleury geliefert. Gut, einige der Teilnehmer sagten unter vorgehaltener Hand – eine grosse Parfümflasche von Frau Fleury sei keine grosse Überraschung. Was sie dabei übersahen: Die Skulptur ist aus Eis. Ein Symbol der Konsumgesellschaft, inklusive der Aufschrift des Sponsors Gübelin, schmolz also vor sich hin im Schatten der kleinen Kirche. Quod eram demonstrandum: die Intelligenz der Materie.

Zwei Konzepte der Ewigkeit: Der Kirchturm von Zuoz und schmelzende Skulptur

Zwei Konzepte der Ewigkeit: Der Kirchturm von Zuoz und die schmelzende Skulptur Fleurys.