Pariser Frivolität

Giovanni Pontano am Samstag den 19. Dezember 2015

Wer gemeint hat, dass Zürich mit der Sammlung Koerfer im Kunsthaus seinen erotischen Höhepunkt im Kunstjahr 2015 schon hinter sich hatte, sah sich letzte Woche getäuscht: Der kleine, vom Fotografen und Grafiker Adi Ehrat geführte Kunstraum ES16 (für Edenstrasse 16) hat für ein eingeweihtes Insiderpublikum grad eben eine wunderbar pudrig verführerische Show des deutschen Fotografen Jonas Unger abgehalten. Nur wenige Tage waren ganze zweihundert sogenannte «workprints» voll erotischer bis obszöner Gesten aus schwer romantisiertem Rotlichtmilieu zu sehen, eine rohe Auswahl von Fotos also, bevor die endgültigen «final prints» abgezogen werden. Der Fotograf hat über ein ganzes Jahr hinweg die Proben um 11 Uhr in der Früh in einem kleinen verspukten Pariser Erotiktheater mit Namen Chochotte verfolgt – und ganz offensichtlich genossen.

Was: Fotoausstellung «Chochotte» von Jonas Unger (DE)
Wo: Kunstraum ES16 Offspace, by Adrian Ehrat, Edenstrasse 16, 8045 Zürich
Wann: Vernissage 9. Dezember, bis 24.12. noch «Wintersalon»

Der Galerist Adi Ehrat in vollem Ornat vor den ausgestellten Werken

Der Galerist Adi Ehrat in vollem Ornat vor den ausgestellten Werken.

Genossen haben die Vernissagenbesucher die meisterhafte kuratorische Inszenierung der Fotografien durch den Paten der Zürcher Grafiker und Artdirectors, Beda Achermann, der einen – erneut – rohen Industrieraum mit wenigen präzisen Eingriffen in eine Art Boudoir verwandelt hat. Die Prints fanden sich zusammengefügt zu zwei Fotowänden und ergaben so ein fast filmisches Werk.

Workprints des deutschen Fotografen Jonas Unger

Workprints des deutschen Fotografen Jonas Unger.

Eine weitere Hommage war zweifelsohne dem Werk eines (weiteren) Erotomanen, dem italienischen Designer Carlo Mollino, gewidmet, denn ein episch langer und schwerer Samtvorhang trennte Privates von noch etwas Privaterem. Mollino hatte seine Models gerne und oft spärlich bekleidet vor schweren Samtvorhängen seiner Turiner Wohnung abgelichtet, selbstverständlich ganz im Verborgenen. Erst nach seinem Ableben wurden Hunderte von Polaroids mit erotischen Fotografien gefunden – und werden heute teuer gehandelt. Diese Reminiszenz passte ganz ausgezeichnet zu den ausgestellten Abzügen. Wobei Mollinos Werk daneben wie das eines Klosterschülers ausgesehen hätte. So ändern sich Zeiten und Sitten.

Das Kunstvölkchen an der Bar

Das Kunstvölkchen an der Bar.

An einer behelfsmässig gezimmerten Bar schenkte H. G. Hildebrandt seinen Gin and Tonic («Gents») aus – selten hat dieser besser gemundet. Und um 10 Uhr trat, man hatte es schon geahnt, dann auch noch eine Burlesque-Tänzerin auf. Das Kunstvölkchen war für einmal ganz glückselig vereint.

Besucherinnen in der «chambre separée»

Besucherinnen in der «chambre separée».

Eine Burlesque-Tänzerin - wie könnte es anders sein?

Eine Burlesque-Tänzerin – wie könnte es anders sein? Fotos: G. Pontano, © Jonas Unger bei Unger

Die nächsten Tage über wurde auf Reservation gekocht, aphrodisierend selbstredend – und eh man es sich versah, war die Schau auch schon wieder vorbei! Nach diesem furiosen Intermezzo hält die besinnliche Weihnachtszeit nun definitiv auch an der Edenstrasse 16 Einzug: Bis Heiligabend findet eine bunt gemischte Weihnachtsausstellung mit Künstlern der Galerie unter dem Titel «Wintersalon» statt. Und wenn man Glück hat, erwischt man noch einen Hauch aus dem Chochotte. Etwas Pariser Frivolität kann in diesen Tagen nicht schaden.

Ähnlichkeiten und Wahlverwandtschaften

Ewa Hess am Dienstag den 15. Dezember 2015

An diesem Abend stimmte einfach alles. Es war Advent, doch blieb die Hektik vor der Tür. Das Wohnquartier öffnete sich ohne jegliche Anbiederung dem zeitgenössischen Kunstgeschehen. Der Galerist machte unaufgeregt die Honneurs, während dem kuratierenden Künstler die Freude über den gelungenen Coup aus den Augen leuchtete. Putzmunter wirkten die Werke – sie hatten es gut zusammen.  Aber erst mal der Reihe nach.

Was: Gruppenausstellung «Interjektion». Künstler: Kevin Aeschbacher, Irene Düring, Markus Gadient, Lori Hersberger, Angelika Loderer, Clemens Wolf und Sigmar Polke. Kuratiert von Lori Hersberger.
Wo: Galerie Clemens Gunzer, Hottingerstrasse 44 in Zürich.
Wann: Vernissage 10.12.2015, bis 23. Januar.

Von links: Skulptur «Cola» von Angelika Loderer, Clemens Wolfs schwarzes Epoxy-Gemälde «Parachute Painting #9», Markus Gadients «Zyklus Wildenstein Nr. 277»

Von links: Skulptur «Cola» von Angelika Loderer, Clemens Wolfs schwarzes Epoxy-Gemälde «Parachute Painting», Markus Gadients Ölbild aus der Reihe «Wildenstein».

Meine früheste Erinnerung an ein Werk des Basler Künstlers Lori Hersberger sind natürlich die schwimmenden Teppiche im Arsenale während Harald Szeemanns unvergessener erster Venedig-Biennale von 1999. Szeemann hatte damals ein Werk des jungen Künstlers (Lori war damals 35 Jahre alt, er ist Jahrgang 1964) in Berlin gesehen und erkannte sofort das Potenzial. Er lud ihn ein, das soeben als Ausstellungsbühne entdeckte Arsenale zu bespielen, und der Künstler hat den bärtigen Visionär nicht enttäuscht. Seine monumentale Installation «Archaic Modern Suite» mit auf dem Kanalwasser floatenden Secondhandteppichen hat zum Glanz dieser berühmten Biennale beigetragen, mit der Szeemann das venezianische Event damals so gut wie neu erfunden hat. Seither haben wir viele Phasen im Werk von Lori H. gesehen. Eine Zeit lang malte er in leuchtendem Acryl (das Werk «Ghost Bayou» bei Gunzer stammt von 2003), dann gab es auch die Neonröhrenphase. Jetzt, soviel ich das überblicke, interessieren ihn grosse metallene Skulpturen, die er mit Vakuum verformt.

Lori Hersberger vor seinem Bild «Ghost Bayou» von 2003 in der Galerie Gunzer und 1999 vor seiner Arsenale-Installation in Venedig

Lori Hersberger an der Vernissage vor seinem Bild «Ghost Bayou» und 1999 vor seiner Arsenale-Installation in Venedig.

Der Salzburger Galerist Thaddäus Ropac hat Hersbergers künstlerische Neugierde als «dreidimensional» beschrieben, was in dieser Gruppenschau besonders gut zur Geltung kommt. Auch hier bringt Hersberger – als Kurator – Älteres, Jüngeres, Bewährtes, Intimes und auch Queres zusammen, und es passt. Das Tüpfelchen auf dem i ist das magische Werk «Interferenzbild» von Sigmar Polke: Ein intensiv leuchtender perlmuttartig schimmernder dünner Farbfilm auf schwarzem Tonpapier scheint sich darauf vom unteren zum oberen Bildrand zu bewegen. Das Bild hat der Galerist in die Gruppenschau eingebracht – es steht ebenfalls zum Verkauf. Für einen Preis unter einer halben Million ist es meiner Meinung nach hier günstiger zu haben, als ich ähnliche Werke auch schon an den Messen gesehen habe.

 

Galerist Clemens Gunzer vor Sigmar Polkes «Interferenzbild» (im vordergrund die Skulptur «Aschenbecher» von Angelika Loderer, ein Blick von Aussen in die Galerie am Hottingerplatz, Tobias Müller von der Galerie Bruno Bischofberger vor Polke

Galerist Clemens Gunzer neben Sigmar Polkes «Interferenzbild» (im Vordergrund die Skulptur «Aschenbecher» von Angelika Loderer), ein Blick von aussen in die Galerie am Hottingerplatz, Tobias Müller von der Galerie Bruno Bischofberger vor Polke.

Clemens Wolfs dunkles, massiges Gemälde «Parachute Painting», welches er mit schwerem, dicken Epoxy-Lack auf Fallschirmseide angebracht hat, war ein perfektes Gegenstück zum transparent-transzendenten Polke. Mich hat es allerdings einigermassen schockiert, dass ich die Malerei von Markus Gadient nicht gekannt habe – die Bilder sind wunderbar. Der 57-jährige Basler Künstler verbindet Figuratives und Expressives in seinen grossen Tableaus (Öl auf Baumwolle), die offensichtlich nach Natur gemalt sind und vor einer gefühlsstarken Pinselführung nicht zurückschrecken. Kevin Aeschbachers «geschnürte Wolke» war das verbindende Glied zwischen den malerischen Höhenflügen und den augenzwinkernd nüchternen Skulpturen Angelika Loderers, die etwas so einladend Unprätentiöses an sich hatten, dass alle Anwesenden am liebsten eine nach Hause genommen hätten (einige haben es auch getan, die grössere Skulptur etwa wurde für, soviel ich hörte, 7000 Franken verkauft).

Irene Dürings Wandstickerei «I Wish I Had Known In That First Minute», Irene Düring und Niklaus Künzler, Kevin Aeschbachers «Charismalimboindiafoxtrottfuckface»

Irene Dürings Wandstickerei «I Wish I Had Known in That First Minute», die Künstlerin Düring im Gespräch mit Niklaus Künzler von Phillips, Kevin Aeschbachers «Charismalimboindiafoxtrottfuckface».

Auch die hauchdünne «Wandstickerei» von Irene Düring passte perfekt. Man hatte keine Lust, wieder nach Hause zu gehen, und kam ins Plaudern. Mit Tobias Müller, dem Direktor von Bruno Bischofbergers Galerie, unterhielt ich mich über die Ähnlichkeiten von Kunsthändlern und Schauspielern (ein Beitrag vom Februar 2015, nachzulesen hier). Nun, Tobias war mit meinem Vergleich zwischen dem charismatischen, zu früh verstorbenen Kunsthändler Thomas Ammann und dem «Mad Men»-Schauspieler Jon Hamm nicht einverstanden. Nein, nein, Thomas Ammann habe viel eher Jude Law, dem «Alfie»-Darsteller (dem zweiten, nach dem legendären Michael Caine, natürlich), geglichen. Liebe Leute, Tobias weiss es – er ist Thomas Ammanns Neffe. Akzeptiert bitte hiermit mein Korrigendum.

Michael Fassbender, Niklaus Künzler, Papa und Sohn Vito Schnabel

Michael Fassbender, Niklaus Künzler, Papa Julian und Sohn Vito Schnabel.

(Der ebenfalls anwesende Niklaus Künzler, der in Zürich tätige Fachmann des Auktionshauses Phillips, gleiche übrigens eher dem Hollywood-Beau Michael Fassbender, haben wir uns geeinigt.)

Am Samstag hat Galerist Clemens Gunzer (gleicht übrigens, meiner Meinung nach, Edward Norton) schon wieder eine Eröffnung – diesmal in Kitzbühel, wo der Österreicher auch eine Galerie unterhält. Was uns alle natürlich an die Zeit erinnerte, als Thomas Ammann Bruno Bischofbergers Filiale in St. Moritz führte. Und daran, dass in der gleichen Lokalität in zwei Wochen der junge Vito Schnabel seine St. Moritzer Venue eröffnen wird – er hat die Räume von Bischofberger übernommen. Den wiederum kennt er seit Kindesbeinen, weil sein Vater, der Maler Julian Schnabel, Bischofbergers hochgeschätzter Künstler ist.

Ach, ist diese Welt nicht klein?

 

 

 

 

 

Die Sache mit dem Blut

Ewa Hess am Dienstag den 8. Dezember 2015

Die blutige Messerattacke an der Art Basel Miami Beach passt so gut in dieses gewalttätige Jahr, dass man sie ebenfalls für einen Terrorakt halten könnte. Um einen solchen scheint es sich jedoch nicht zu handeln. Viel eher war es eine geistig verwirrte Tat der New Yorker Studentin Siyuan Zhao (man vermutet psychische Probleme). Es ging blitzschnell, die hübsche kleine Person im geblümten Kleid und karierter Hose holte ihr hochwertiges Papierzuschneidemesser der Marke X-Acto hervor und stach dreimal auf eine andere Frau ein. Die Messe wurde nicht unterbrochen und konnte mit einem Besucherrekord und den Meldungen von lukrativen Verkäufen abgeschlossen werden.

Art Basel Miami Beach: Die Installation «Swamp of Sagitarius», die Künstlerin Naomi fisher (zweite von links), der Angriff, der wie eine Performance wirkte

Art Basel Miami Beach: Die Installation «Swamp of Sagitarius», die Künstlerin Naomi Fisher (Zweite von links), der Angriff, der wie eine Performance wirkte.

Mir gab die Geschichte mit der Papiermesserattacke zu denken. Die junge Frau soll etwas von «Ich musste sie bluten sehen» gemurmelt haben. Es war fast eine Autoaggression, denn die Angegriffene hat wie eine ältere Schwester der Angreiferin ausgesehen: auch bildhübsches asiatisches Gesicht, lange dunkle Haare, braves Outfit. Viele hielten den ganzen Spuk für eine Performance, zumal sich die Szene in der Nähe der Installation «Swamp of Sagitarius» ereignet hatte. In dieser Ecke der Messe, genannt Nova, fungierte der astrologisch angehauchte «Sumpf des Schützen» als eine Art Oase, wo man auf bequemen Stühle inmitten wohlriechender Wachsskulpturen sass und sich in Sachen Kunstkauf anhand von Horoskopzeichnungen  beraten lassen konnte (das war ironisch gemeint, wohlverstanden). Der Mastermind hinter der «Sumpf»-Installation war Naomi Fisher, aufstrebende Künstlerin aus Miami. Fisher ist bereits mit einigen Performances aufgefallen, eine von ihnen hiess sogar «What’s a Little Blood Amongst Friends». Das wusste allerdings die Amok laufende Kunststudentin mit ihrem Papiermesser wohl nicht. Die Verletzungen mit der kurzen X-Acto-Klinge waren übrigens (und Gott sei Dank) nicht tief, und das Opfer konnte bereits aus dem Spital entlassen werden.

«Was hat aber diese Faszination mit dem Blut auf sich?», fragte ich mich. Denn in der Tat gehört der signalfarbene Lebenssaft oft zu den Mitteln, mit welchen die Performance-Künstler (und, fast öfter noch, Künstlerinnen) die Dringlichkeit ihrer Botschaft erhöhen. Die Übermutter der performativen Kunst, Marina Abramovic, hat sich einige Male blutig verletzt während ihrer Performances; der weissbärtige Österreicher Hermann Nitsch zog es vor, literweise Rinderblut zu vergiessen; der Engländer Marc Quinn formte seinen Kopf aus dem geronnenen Eigenblut (die Skulptur muss in einem gläsernen Kühlschrank ausgestellt werden) und Phil Hansen klagte den koreanischen Diktator Kim Jong-il mit Blut auf Bandagen an. Abramovic pflegt stolz zu beteuern, wenn sie von ihren Performances spricht: «Das Messer ist echt, das Blut ist echt, und die Gefühle sind echt.» Echtes Blut soll im Gegensatz zu Ketchup in Film und Theater die Kunst als die existenziellste aller performativen Sparten ausweisen.

eigenblut: Marc Qinns «Self», Literweise Rinderblut: Hermann Nitschs «Orgien Mysterien Theater», Marina Abramovics «Der Kuss»

Eigenblut: Marc Quinns «Self», literweise Rinderblut: Hermann Nitschs «Orgien-Mysterien-Theater», Marina Abramovics Rasierklingen-Performance «The Lips of Thomas».

Es mag ein Zufall sein, dass Siyuan Zhao ausgerechnet an der Kunstmesse den Stimmen in ihrem Kopf, die Blut forderten, Folge leistete. Ende des Jahres 2015, in dem so viel echtes Menschenblut mutwillig vergossen worden ist, wird es einem dennoch in Erinnerung an all die blutigen Performances mulmig. Auch das bringt uns das traurige Ereignis in der Ferienstadt Miami zu Bewusstsein: dass diese Bilder, welche nun in den kranken Köpfen spuken, schon längst da waren. Gehören sie zu der archaischen Ausstattung des menschlichen Geistes? Möglich.

Private View

Blutige Kunst: Werk des österreichischen Künstlers Hermann Nitsch. Foto: Keystone

Jedenfalls beklagen wir, gerade an den zu den wichtigsten Kunstevents gewordenen Messen, die schwindende Authentizität des Kunstgeschehens. Andererseits hat sich aber die Gewalt, das Leiden, welches die Künstler seit Jahrzehnten als ein Werkzeug der Intensität angewandt haben, auf eine unheimliche Art und Weise verselbstständigt. Die Bilder von Verletzungen, ja, wenn man an Nitsch denkt, sogar von den ästhetisierten Massakern, spuken in den Köpfen. Vielleicht haben sie das schon immer, aber ausgerechnet jetzt scheinen sie mit kranker Gewalt in die freie Wildbahn hinauszubrechen.

Zwischen Hochglanz und Naturtrip

Claudia Schmid am Dienstag den 1. Dezember 2015

Das erste Kunstwerk ist zerstört, bevor es die Leute richtig wahrnehmen: An Kristina Buchs Bodenarbeit, einem Teppich mit rätselhaften Mustern und Zeichen, putzen sich die Besucher beim Eingang die Füsse ab. Erst beim Rausgehen merken sie, dass es sich um ein Werk gehandelt hat. Die Ausstellung «Jungs, hier kommt der Masterplan», mit deren Eröffnung die Kunsthalle Basel am Samstag ihren Beitrag zur diesjährigen Regionale geliefert hat, ist voll solcher subtiler Überraschungen.

Was: Eröffnung der Regionale-Ausstellung «Jungs, hier kommt der Masterplan» in der Kunsthalle Basel.
Wo: Basel, am Samstag, dem 28.11.
Wann: Bis 3.1.2016. Infos zu der ganzen Regionale hier.

Basler Überraschungen: Ein Kunstwerk zum füsse abtreten

Basler Überraschungen: Plakat der Ausstellung, Kristina Buchs Kunstwerk zum Füsseabtreten (rechts).

Etwa die zwei Videoarbeiten von Lotte Meret Effinger. Präzise montiert die Berlinerin, die in Karlsruhe lebt und an der HFG Karlsruhe studiert hat, perfekt gestylte Bilder zwischen Hochglanz und Naturtrip: Da tröpfelt schwarzer Nagellack zwischen die Finger und werden Augenlinsen in Grossaufnahme ins Auge geführt, da werden Lippen bemalt und verzogen, und plötzlich kommen einem Wildschweine und Fasnachtslarven im Wald entgegen.

Von links nach rechts: co-Kurator Claudio Vogt, Kunsthalle Chefin Elena Filipovic, Bild aus dem Video von ........

Co-Kurator der Schau Claudio Vogt; Kunsthalle-Chefin Elena Filipovic (weisses Kleid) vor einem Werk von Philipp Schwab; eine Edition von Sophie Jung.

Effinger ist eine von acht Künstlerinnen und Künstlern, die dieses Jahr an der Regionale in der Kunsthalle teilnehmen. Alle sind sie Anfang der Achtzigerjahre geboren, haben eine Kunsthochschule besucht und leben in der Region. Denn nicht nur Basel, sondern das ganze Dreiland ist wiederum Teil der Regionale, die dieses Jahr zum 16. Mal stattfindet und aus der traditionellen Weihnachtsausstellung hervorgegangen ist.

Sie ist die einzige Kunstausstellung, die in drei Länder führt und die Besucher am Eröffnungsweekend dementsprechend fordert: Am Samstag standen nicht weniger als zehn Vernissagen in zehn Institutionen auf dem Programm. Die Besucher, darunter Galerist Stefan von Bartha oder Haus-Konstruktiv-Chefin Sabine Schaschl, schwirrten deshalb nur husch, husch durch das ehrwürdige Gebäude: Es gab nicht nur in der Kunsthalle viel zu sehen. Sogar der Basler Stadtlauf zog neben der Kunsthalle vorbei, weswegen die ganze Stadt in verschwitzten Turnkleidern und Turnschuhen unterwegs war – die Kunsttraube natürlich ausgenommen.

Galerist stefan von Bartha, Basels Kulturchef Philippe Bischoff (hielt die Eröffnungsrede), ein Wildschwein im Effingers Video

Galerist Stefan von Bartha, Basels Kulturchef Philippe Bischoff (hielt die Eröffnungsrede), ein Wildschwein im Video von Effinger.

Philippe Bischoff, Leiter Abteilung Kultur von Basel-Stadt, erinnerte bei seiner Eröffnungsrede daran, dass das Öffnen und Überwinden von Grenzen, die seit den Anschlägen in Paris besonders fragil und bewacht sind, in der Kultur besonders wichtig sei. Auch da war natürlich Elena Filipovic, neue Direktorin der Kunsthalle. Aber was heisst hier «neu»? «Eigentlich bin ich ja schon ein Jahr da. Die Zeit ist extrem gerast. Und das ist ein gutes Zeichen. Ich habe mich keinen Moment in Basel gelangweilt.» Mit Filipovic hat sich auch das Team der Kunsthalle verändert. So ist Claudio Vogt mit den blonden Mèches neu mit an Bord, der einen guten Draht zu jungen Künstlern hat und die Regionale mitkuratiert hat.

Die Jungfrauschaft der Basler Kunstszene: Lotte Meret Effinger, Künstlerin Sarah Bernauer vor ihrer Installation "Mily Ways", Stammgast in der Kunsthalle: Boutique-Besitzerin Corinne Grüter

Die Jungfrauschaft der Basler Kunstszene: Künstlerin Lotte Meret Effinger vor einem ihrer Videos, Künstlerin Sarah Bernauer und ihre Installation «Mily Ways», und Boutiquebesitzerin Corinne Grüter, ein Stammgast in der Kunsthalle.

«Jungs, hier kommt der Masterplan» ist der Titel eines Tocotronic-Lieds aus den Neunzigern und tönt aufs Erste einfach mal cool. Was genau der Masterplan der Ausstellung ist, bestimmten die Künstler gleich selbst. Den vielleicht besten Schachzug spielte Johannes Willi: Der 32-Jährige, der sich diesen Sommer einen Namen mit dem Konzert von Beethovens fünfter Sinfonie aus selbst gebastelten Instrumenten im KKL gemacht hat, bespielte einen Raum mit seiner «Free Willi»-Installation «Ruf der Freiheit». Er versuchte, «sich überflüssig zu machen». Im Vorfeld hatte er Freunde darum gebeten, ihm Kunstwerke zu schenken.

Der Künstler Johannes Willi vor seiner Installation, die ihn überflüssig machen soll sowie ein brennendes Kleid von Louise Guerra

Der Künstler Johannes Willi vor seiner Installation, die ihn überflüssig machen soll, sowie ein brennendes Kleid von Louise Guerra.

Um die 40 Exponate, die sich teilweise auf das Thema Freiheit respektive den Wal beziehen, sind in dieser kleinen Gruppenausstellung zusammengekommen. Angeschrieben sind sie nicht, man muss schon selber draufkommen, von wem sie stammen. Aber eigentlich ist es auch egal, wer was gemacht hat. Denn mit seiner Arbeit inszeniert Willi eine anonyme Gruppenausstellung – und das Künstlergeschenk. Nicht mal aufgehängt hat Willi die Kunstwerke selbst – das haben Vorkurs-Studenten gemacht. Willi hat dabei geübt, sich zurückzunehmen und zuzulassen, «dass andere Dinge tun, die ich so nie gemacht hätte». Er hat sich also in mehrfacher Weise vom «Masterplan» befreit – und plant zwei Fortsetzungen seiner «Free Willi»-Ausstellung. Die werden wie die Walfilme heissen: «Free Willi – Freiheit in Gefahr» und «Free Willi – die Rettung». Was er retten möchte, bleibt sein Geheimnis. Es könnte sein, dass unser aller Freiheit (von den selbst geschaffenen modernen Zwängen) auf dem Spiel steht. In diesem Sinn und gerade in der hektischen Jahreszeit: Never forget your free will(i).

Ein Grenzenloses Treffen: Der Auftakt zur Regionale in der Kunsthalle Basel

Ein grenzenloses Treffen im Zeichen der Kunst: Der Auftakt zur Regionale in der Kunsthalle Basel.