Magisches Eis für Paris

Ewa Hess am Dienstag den 24. November 2015

Liebe Leserinnen und Leser, wie klingt das Eis, wenn es schmilzt?

Es zischt ganz leise. Hören Sie hier mal rein: «Ice Watch». Für ihr Projekt haben der dänisch-isländische Künstler Olafur Eliasson und der Geologie-Professor Minik Rosing zwölf Eisklumpen beim Nuuk-Fjord in Grönland gefischt. Es war keine schwierige Sache, denn im Land des ewigen Eises verflüssigt sich zurzeit gerade sowieso alles. Ständig brechen Brocken von der Eiskappe ab. Mit einem Lasso kann man mit einigem Geschick so eine Eisscholle schnell einfangen.

Eliasson und Rosing haben die Eisbrocken in grosse Kühlschränke gepackt, in welchen man sonst Crevetten auf die Reise zum Supermarkt schickt und nach Paris verschifft. Hier hätten diese während der Klimakonferenz Cop21 auf der Place de la République in Paris gut sichtbar vor sich hin schmelzen sollen. Man stelle sich vor: zwölf eisige Riesen (sie wiegen gemeinsam 80 Tonnen) in Uhrenformation dahinschmelzend – ein starkes Sinnbild dafür, dass es klimatisch fünf vor zwölf ist.

Eisernte im Nuuk-Fjord, Transport der Blöcke, Olafur Eliassons «Ice Watch» von 2013 in Kopenhagen

Eisernte im Nuuk-Fjord, Transport der Blöcke, Olafur Eliassons «Ice Watch» von 2013 in Kopenhagen.

Klar ist nach den Anschlägen in Paris jetzt alles anders, und die Klimakonferenz selbst ist mit mehreren Fragezeichen versehen. Ihre Durchführung vom 30. November bis zum 11. Dezember wird zwar bekräftigt, doch es ist unsicher, ob einige Teilnehmer vielleicht doch die Teilnahme absagen. Oder kommen, im Gegenteil, mehr? Wird man eher bereit sein, über das Klima zu diskutieren? Oder wird die klimatische Bedrohung von der terroristischen überschattet?

Ich habe Olafur Eliasson und einige andere Protagonisten der Kunst-&-Design-Bewegung im Zusammenhang mit dem Klimawandel am Wochenende in Wien getroffen. Warum engagieren sich so viele Künstler für die Verteidigung des Klimas? Eine Frage, über die man nicht lange nachzudenken braucht. Es gibt eine Ähnlichkeit zwischen der Schönheit der klimatischen Offenbarungen und der künstlerischen Kreativität, so viel ist sicher. Die wechselnden Gezeiten, die visuelle Kraft von vergänglichen Wetterbildern, die Leichtigkeit des Wolkenhimmels, die Dramatik eines Gewitters, das Anrollen einer Ozeanwelle… Muss man noch mehr Beispiele aufzählen? Der Planet, die Mutter aller Künstlerinnen und Künstler, verschwendet sich an uns. Gut, dass es parallel zur Cop21 die Sektion ArtCop21 gibt, eine Art weltweites Festival, das im Dezember in Paris kulminieren soll.

Francesca von Habsburg mit dem «Stay»-Panel an der Eröffnung der Schau von Olafur Eliasson in Wien, Eliassons Sonne im Winterpalais, Eliasson beim Vortrag in der Ausstellung

Francesca von Habsburg mit dem «Stay»-Plakat an der Eröffnung der Schau von Olafur Eliasson in Wien, Eliassons Sonne im Winterpalais des Prinzen Eugen, Eliasson beim Vortrag in der Ausstellung.

Olafur Eliasson jedenfalls ist zuversichtlich, dass es mit dem «Ice Watch» in Paris klappt. Die Eisblöcke hängen zwar zurzeit irgendwo auf der Route zwischen Grönland und Frankreich in ihren grossen Kühlschränken fest, doch Eliasson sagt: «Das wird schon werden.» «Alles, was unsere kulturelle Identität ausmacht, fällt der Wut der IS-Terroristen zum Opfer», sagt der Künstler, der mit seinem grandiosen «The Weather Project» 2003 in der Tate Modern berühmt geworden ist. «Ich spüre einen starken Willen aller, sich diesem aggressiven Furor entgegenzusetzen und dem Ausdruck freier Meinung im öffentlichen Raum eine Chance zu geben.» Anstelle von Blumen, sagt Eliasson, möchte er seine «magischen Eisblöcke» am leidgeprüften Pariser Platz niederlegen. Er ist überzeugt, dass dem Eis aus der Antarktis ein besonderes Glühen innewohnt. «Die Menge Eis, die unterwegs nach Paris ist», sagt Eliasson, «ist übrigens nur ein Zehntel dessen, was in Grönland in einer Sekunde wegschmilzt.» Die kühle Präsenz der Eisblöcke könne kalte Datenmengen auf eine emotionale Weise den Menschen klarmachen.

Beuys Eicheln wachsen weiter, der Künstler an der Schaufel 1982, Radical Action Reaction im Jardin des Plantes

Beuys Eicheln wachsen weiter (links), der Künstler mit einer Schaufel 1982 (Mitte), der Vorhang für einen Baum: So soll der Vorhang der «Radical Action Reaction» im Jardin des Plantes aussehen.

Der Deutsche Joseph Beuys war übrigens einer der Ersten, die sich künstlerisch für das Thema Umwelt starkmachten. Er pflanzte 1982 zur Documenta 7 exakt 7000 Eichen in Kassel. Ziel des Projektes war in seinen eigenen Worten «Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung». Diese Idee nimmt jetzt anlässlich der Cop21 das englische Künstlerpaar Ackroyd und Harvey wieder auf: mit seiner monumentalen Installation «Radical Action Reaction». Die beiden Engländer lassen aus den Eicheln der ursprünglichen Beuys-Eichen in Kassel weitere Eichengenerationen zu Bäumchen heranwachsen und pflanzen sie überall in Frankreich. Im Jardin des Plantes in Paris bauen sie zusätzlich einen monumentalen Vorhang aus Gras, um dem Baum, der grünen Lunge des Planeten, einen effektvollen Auftritt zu verschaffen.

Auch mit von der Partie an der Cop21 in Paris ist die TBA21 Foundation von Francesca von Habsburg, die mit ihrer Ankündigung, von Wien nach Zürich umzuziehen (hier nachzulesen), zuletzt für viel Wirbel gesorgt hat. Von Habsburgs eigenes Forschungsprojekt, «The Current», eine Abfolge von Expeditionen in die Südsee, wird in Paris vorgestellt. An Bord des Stiftungsschiffs Dardanella kommen Wissenschafter und Künstler zusammen, um der Rettung der Ozeane gemeinsam Auftrieb zu geben. Einige Expeditionen fanden schon statt, weitere werden folgen.

In Wien will man natürlich die tatkräftige Mäzenin gerne behalten. An der Eröffnung der Ausstellung «Baroque, Baroque», welche Eliasson im Winterpalais des Prinzen Eugen eingerichtet hat, wurde der Kunstpatronin das Bittplakat «Stay» überreicht – «Bleib»– mit den Unterschriften von Kulturpersönlichkeiten der österreichischen Kapitale, was sie sichtlich gefreut hat.

Kurator Damian Christinger in der Installation des brasilianischen Künstlers Ernesto Neto, «The Current» in action

Kurator Damian Christinger in der Installation des brasilianischen Künstlers Ernesto Neto, «The Current» in Aktion.

Die Gespräche mit der Zürcher Stadtverwaltung gehen dennoch weiter – ergebnisoffen, wie es aus dem Umkreis der Stiftung heisst. Eine weitere Verbindung der TBA21 zu Zürich wird auf jeden Fall künftig in der Person des Kurators Damian Christinger aufrechterhalten. Der bisherige Galerist der Zürcher Galerie Christinger de Mayo, der mit seiner interdisziplinären Schau «Das Fremde ist nur in der Fremde fremd» 2014 im Rietberg-Museum aufgefallen ist, wird 2016 eine «The Current»-Expedition leiten. Die aktuelle Ausstellung von Monica Ursina Jäger ist die letzte seiner Galerie an der Ankerstrasse.

Piktogramm des Horrors

Ewa Hess am Montag den 16. November 2015

Innert weniger Stunden haben sich Tausende des Zeichens bemächtigt: Ein mit leicht zu zittern scheinender Hand gezeichnetes Peace-Symbol, dessen inneres Dreieck dem Eiffelturm gleicht, dem Wahrzeichen von Paris. «Peace for Paris» wurde nebst der in den Farben der Tricolore eingefärbten Profilfotos sowohl auf Facebook wie auf Twitter zum meistgeteilten Piktogramm des Horrors. Die Zeichnung habe Banksy angefertigt, hiess es schon bald – dem grossen Konsumverweigerer der Kunstwelt traute man zu, eine solche Chiffre für das kollektive Entsetzen schnell entwerfen zu können.

Acht Minuten nach Mitternacht: Jean Julliens Post auf Twitter, dreizehn Minuten nach Mitternacht: Der falsche Banksy bemächtigt sich des Zeichens

14. November, acht Minuten nach Mitternacht: Jean Julliens Post auf Twitter (links), dreizehn Minuten nach Mitternacht: Der falsche Banksy bemächtigt sich des Zeichens.

Zu Unrecht, wie sich zeigt. Die Zeichnung hat der französische Künstler Jean Jullien voll Kummer gekritzelt und gleich nach Mitternacht auf seinen Accounts geteilt. Eine Person, die sich auf Twitter @therealbanksy nennt und für Banksy ausgibt (und auf diese Weise über eine Million Follower gesammelt hat) schnappte das Bild sofort und postete es ebenfalls. Die vielen Retweets dieses Posts trugen die Verwirrung in Bezug auf die Autorenschaft ins weltweite Netz hinaus. Der richtige Banksy unterhält zwar seit 2007 einen Twitter-Account, dessen einziger, oft wiederholter Inhalt aber besagt: «Banksy is not on Twitter». Am Wochenende fügte er seiner Homepage in der Sektion «Question + Answers» die Bekräftigung an, dass er sich auf Social Media nicht äussert. Denkt man über die Sache etwas länger nach, scheint einem logisch, dass das Zeichen nicht von ihm stammen kann – Banksys Zeichensprache fehlt die Direktheit der Piktogramme. Seine Graffitis, auch wenn sie manchmal wie Kinderzeichnungen aussehen, sind komplexer in ihrer Symbolik.

Diesen Update zu seiner Homepage hat Banksy erst am Wochenende hinzugefügt - seine Art, der Usurpierung einer falschen Autorschaft entgegenzuwirken

«Banksy is not on Facebook and is not on Twitter». Dieses Update zu seiner Homepage hat Banksy erst am Wochenende hinzugefügt – wohl um der falschen Autorenschaftzuschreibung entgegenzuwirken.

Wer ist aber der wahre Autor des «Peace for Paris»-Zeichens? Jean Jullien ist 32, in Paris geboren, hat in London studiert und lebt wahrscheinlich immer noch dort, wenn er auch seinen genauen Wohnort zurzeit nicht verraten möchte. Er hat inzwischen einige Interviews gegeben. Er zeichne meistens, um Menschen zum Lachen zu bringen, sagte er in diesen, «doch diese Zeichnung war meine direkte Reaktion auf Trauer». Der Zeichner hat auch früher politische Aktualität kommentiert, auch die brutalen Attacken auf  «Charlie Hebdo» in Paris. Die Verwirrung um die Autorenschaft sei ihm übrigens egal, das sei kein guter Zeitpunkt, um sich wegen der Urheberrechte aufzuregen.

Jean Jullien, der Zeichner des «Peace for Paris»

Jean Jullien, der Zeichner des «Peace for Paris». Foto: Daniel Arnold

Julliens satirische Begabung ist gefragt, erst vor wenigen Tagen hat die «Süddeutsche Zeitung» eine Serie seiner Zeichnungen veröffentlicht, die peinliche Begrüssungsmomente schildern. Er beobachtet genau und mokiert sich meist nur leise über seine Umwelt und ihre diversen Absurditäten: die tägliche Verlogenheit, die Feriengewohnheiten, die Kommunikationspannen. Wie viele im Ausland lebende Franzosen hat er die Schreckensstunden am Freitag, dem 13. am Fernsehen mitverfolgt.

Ältere Prints von Jean Jullie: Louis-Vuitton-Burka, die Bräune des Handynutzers

Ältere Prints von Jean Jullien: Louis-Vuitton-Burka, die Bräune des Handynutzers.

Die französischen Künstler und Kulturschaffende haben ihrem Entsetzen sonst weniger bildlich Ausdruck gegeben. Der algerisch-französische Bildhauer und Zeichner Adel Abdessemed etwa, der Algerien verliess, weil er mit dem agressiven Islamismus nicht zurecht kam, sagte die Eröffnung seiner Ausstellung in Los Angeles ab, wie er der Zeitung «Le Figaro» erzählte. «Diese Verrückten, die Mord und Selbstmord nicht scheuen, die kenne ich schon», sagt er, «ich bin bereits vor ihnen geflohen. Ich weiss wie sie funktionieren und ich weiss, wie sie rekrutiert werden. Ein gut funktionierender Mechanismus, der mich an die Hitlerjugend erinnert – das jugendliche Bedürfnis nach Utopie wird brutal ausgebeutet». Abdessemed selbst ist vor zwei Jahren anlässlich seiner Ausstellung in Doha unter Androhung einer Fatwa gezwungen worden, eine seiner Skulpturen aus der Ausstellung zu entfernen. Die Skulptur, fünf Meter gross, zeigte Zinedine Zidane und Marco Materazzi in der berühmten Kopfstoss-Szene der Fussball-WM von 2006. Unklar, was den Fanatikern daran nicht passte, sie wurde schliesslich wegen «Idolatrie» aus Katar entfernt.

Die der «Idolatrie» angeklagte Skulptur von Abdemessed wird aus Doha (Katar) entfernt

Die Zidane-Skulptur von Adel Abdessemed in Doha, Katar.

Die Filmemacherin Agnes Varda, von mehreren Medien belagert, weigerte sich übrigens standhaft, die ihr wohlfeil scheindenden Betroffenheitsfloskeln zu äussern. Das sei nicht ihre Art, sagte sie. Sie müsse erst nachdenken. Und auch die 90-jährige Künstlerin und Dichterin Etel Adnan, über die ich letzte Woche berichtet habe und die gerade im Haus Konstruktiv eine schöne Ausstellung hat, schrieb einen nachdenklichen Satz als Kommentar zum Geschehen, den Hans Ulrich Obrist auf Instagram postete: «Der Terror ist unser kollektives Versagen. Das Leben der Triumph der Natur».

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We are family

Ewa Hess am Dienstag den 10. November 2015

Liebe Leserinnen und Leser, wir wollen hier bestimmt nicht zu einer biografisch gefärbten Interpretation der Kunst aufrufen. Doch es gibt sie, die Herzlinien im Werk von Künstlerinnen und Künstlern. Wer wollte wichtige Einflüsse über Generationsgrenzen hinweg verneinen? Lebenslange Allianzen ausser Acht lassen? Wahlverwandtschaften negieren?

An Fragen wie diese dachte ich im Haus Konstruktiv, in dem drei ganz verschiedene Ausstellungen zurzeit so viel Interessantes bieten, dass man den Wunsch in sich aufkeimen spürt, sie kämen nacheinander ins Programm und nicht alle aufs Mal.

Installation von Latifa Echakhch im Haus Konstruktiv

Installation von Latifa Echakhch im Haus Konstruktiv.

Da haben wir doch einerseits die (einem Preisgeld verdankte) Installation der in Marokko geborenen, in Martigny lebenden Latifa Echakhch. Eine rätselhafte junge Künstlerin, zwischen Abstraktion und Poetik pendelnd. Die im Haus Konstruktiv gefeierte Auszeichnung ist bei weitem nicht ihr erster Preis. Vor zwei Jahren hat sie mit «Goodbye Horses» im Kunsthaus Zürich schon eine verträumte, verlassene, an Zirkus erinnernde Kulisse installiert, die Rätsel aufgab. Ihr aktueller Rummelplatz im Haus K ist kraftvoller, alptraumhafter, mit grossen, fast bedrohlichen Pappfiguren, die eine emotionale Teilnahme ebenso erzwingen wie verweigern.

Worauf ich aber mit der Familie hinaus will – Latifa lebt ja im Wallis. M und M – Marokko und Martigny, das klingt zunächst einmal nach: gar nicht verwandt. Darum, als ich vor drei Jahren den Schweizer Künstler Valentin Carron in Martigny besuchte – er bereitete sich damals auf seinen Auftritt im Schweizer Pavillon der Biennale Venedig vor – fragte ich ihn nach seiner kulturellen Verwandtschaft mit Latifa Echakhch.

Valentin Carron, seine Installation «The Great Turn into...»

Valentin Carron, seine Installation «The Great Turn into…».

Die beiden sind nämlich ein Paar, auch Eltern, und teilen sich in Martigny ein Atelier. Zu meinem Erstaunen gab mir damals Carron eine Antwort. Der sonst äusserst auf Diskretion bedachte Künstler konnte nicht umhin, mich auf eine Parallele hinzuweisen, die auf der Hand lag. Frau Echakhchs Eltern kommen zwar aus Nordafrika, doch bereits dreijährig kam die Künstlerin mit ihren Eltern, die dort Arbeit fanden, nach Frankreich. Folglich wuchs sie in Aix-les-Bains auf, einem halb industriell, halb touristisch geprägten Ort in den Savoyer Voralpen.

Latifa Echakhch und ihre Installation «Jasmin» von 2012

Latifa Echakhch und ihre Installation «Jasmin» von 2012.

Ich habe damals in meinem Porträt über Carron («Martigny mon Amour») versucht zu zeigen, wie sehr die spröde Sensibilität dieses Künstlers mit der spezifischen Verfasstheit von Martigny zusammenhängt, einem eigentlich nicht so malerischen Ort inmitten majestätischer Landschaft. Und hier sehe ich auch die Verzahnung der biografischen und der künstlerischen Identität bei Echakhch. Auch ihr Werk wirkt ein bisschen wie eine Ausgrabung, wie eine Spur des seltsamen Geschehens, das wir Aktualität nennen, wahrgenommen von wenig verstehenden kommenden Generationen in einer diffusen Zukunft. Carron und Echakhch sind für mich grossartige Vertreter der Generation um die 40, schmerzhaft auf Ehrlichkeit bedachte Suchende im Transitland zwischen dem (allzu?) sorglosen Nachkriegswohlstand und der chaotischen Hypermoderne.

Etel Adnan und eines ihrer malerischen Werke im Haus Konstruktiv

Etel Adnan und eines ihrer malerischen Werke im Haus Konstruktiv.

Um wie viel ganzheitlicher wirkt dagegen das Engagement der 90-jährigen Etel Adnan, der eine weitere Ausstellung im ehemaligen EWZ-Gebäude an der Sihl gewidmet ist. Auch Adnan ist eine Wanderin zwischen den Kulturen und den Identitäten. Geboren wurde sie 1925 in Beirut, ihre Mutter war eine christliche Griechin aus Smyrna, ihr Vater ein syrischer General der osmanischen Armee. Nachdem die Weltkarte in der Folge des Ersten Weltkriegs neu geformt wurde, wuchs Etel im Libanon auf, sie sprach Griechisch und Türkisch zu Hause, Arabisch auf der Strasse und Französisch in der Schule. Beflügelt von der romantischen Tradition von Rimbaud, Baudelaire and Rilke, schrieb sie mit 20 ihre ersten Gedichte und bekam ein Stipendium an der Sorbonne.

Simone Fattal und Etel Adnan

Simone Fattal und Etel Adnan.

Dann kamen die 50er-Jahre mit den algerischen Kriegen, und angewidert von der französischen Kolonialarroganz siedelte Adnan nach Kalifornien über. Auch dort ereilte sie ein kriegerischer Konflikt, Proteste gegen den Vietnamkrieg und soziale Ungerechtigkeit bilden den Hintergrund ihrer in den USA entstandenen Werke. Dann ging es zurück nach Beirut, wo sie eine französische Zeitschrift gründete («Al Safa») und ihre berühmteste literarische Figur erfand (oder der Wirklichkeit nachempfand), eine syrische Emigrantin namens Marie Rose, die im Zusammenhang mit ihrem Engagement für palästinensische Flüchtlinge von den rechten christlichen Milizen gekidnappt und ermordet wurde, angeblich für den Verrat an ihrer Religion. Dann lebte Adnan wieder sehr lange in Kalifornien, und jetzt ist sie wieder in Paris zu Hause, im ehemaligen Haus von Albert Camus.

Und fast die ganze Zeit war und ist Simone Fattal bei ihr, eine Künstlerin mit ähnlich verwinkelter Vita – geboren 1942 in Damaskus, Studium der Philosophie in Beirut und Paris. Die beiden Frauen haben gemeinsam, als Paar, den geschichtlichen und geografischen Strapazen die Stirn geboten, sich ihre Freiheitsliebe, Souveränität und – sogar! – ihren Idealismus bewahrt. Beide erfahren sie jetzt, in ihren späten Jahren, wie so manche ihrer Generationsgenossinnen eine Intensivierung des Interesses an ihrer Arbeit.

Ein Blick in die Ausstellung von Simone Fattal bei Karma International

Ein Blick in die Ausstellung von Simone Fattal bei Karma International.

Und – glückliches Zürich! – wie es der Zufall (oder die Absicht) so will, hat Simone Fattal auch gerade eine Ausstellung hier, nämlich bei der Galerie Karma International in Wipkingen. Die schlichte abstrakte Malerei von Etel Adnan und die archaischen Keramikskulpturen von Simone Fattal sollte man unbedingt am gleichen Tag ansehen, auch wenn man dafür die Stadt durchqueren muss (ist ja nicht weit, das ist ja auch das Gute an Zürich). Die gleiche heitere, unverbogene Menschlichkeit in beiden Lebenswerken! Vernünftiger Massstab, traditionelles Material, nachvollziehbare Emblematik. Kein Wunder, sind die Enkelgenerationen so wild nach diesen älteren Damen, deren kreative Kraft und das seelische Rüstzeug, trotz biografischen Rissen, in einer solid und menschlich zusammengefügten Welt zu gründen scheinen.

Atelier Hächler in Lenzburg, ein Blick von oben

Atelier von Peter Hächler in Lenzburg, ein Blick von oben.

Die letzte Familiengeschichte betrifft die Schweiz. Eine Schweiz, wie man sie gerne sieht und gerne für verloren erklärt. Ein nüchternes Land mit einer tief verwurzelten Liebe zu Struktur und Material, modern von innen heraus und abseits jeder Mode künstlerisch brillant. Ich spreche von der dritten Schau im Haus Konstruktiv: Peter Hächler (1922–1999). Peter Hächler, der in seinem heimatlichen Lenzburg ein wunderbares skulpturales Werk schuf, dem nicht die Weltbühne beschieden war, das aber innerhalb der Schweizer Kunstgenealogie eine wichtige Rolle einnimmt. Nicht zuletzt dank der – wieder – biografischen Weiterschreibung dessen in der Arbeit seiner Tochter Gabrielle Hächler, die gemeinsam mit ihrem Partner Andreas Fuhrimann wichtige Akzente in der Schweizer, und nicht nur Schweizer, Architektur setzt.

Skulpturale Bauten von Gabrielle Hächler und Andreas Fuhrimann: Zielturm am Rotsee, Haus Presenhuber in Vnà

Skulpturale Bauten von Gabrielle Hächler und Andreas Fuhrimann: Zielturm am Rotsee, Haus Presenhuber in Vnà.

Das Museum zählt Peter Hächler «zu den renommiertesten und formalästhetisch radikalsten Bildhauern der Schweiz», das ist bestimmt nicht übertrieben. Ein Blick in das im Haus Konstruktiv nachgebaute Atelier des Künstlers liefert einen überwältigend wirksamen Beweis dieser Behauptung. Man erkennt die fast wissenschaftlich beflissene, und doch kreativ verspielte Arbeit, die hier stattfand: einige wenige Grundmodule wurden unendlich variiert, der Rautenwürfel, der Rhomboeder, drei- oder vierseitige Prismen fügen sich spielerisch zu verblüffenden Organismen, die Wegbegleiter scherzhaft «Hächleroide» nannten. Von Hächler stammen viele Werke im öffentlichen Raum in der ganzen Schweiz, und er entwarf auch ganze Arealgestaltungen wie beim Kantonsspital Aarau (zusammen mit Ernst Häusermann und Charles Moser), beim Berufsbildungszentrum in Weinfelden (mit Charles Moser) oder bei der Gewerbeschule Lenzburg. Im Buch «Was ein Haus in sich selbst verankert» über die Arbeit des Architekturbüros Fuhrimann/Hächler wird sehr schön beschrieben, wie das vom Vater Hächler (gemeinsam mit Pierre Zoelly) gebaute Atelier-Haus in Lenzburg das räumliche Vorstellungsvermögen der Tochter Gabrielle prägte. In der Tat wirken die berühmtesten Bauten des Duos wie etwa das Künstlerhaus am Uetliberg, das Haus Presenhuber in Vnà oder der Zielturm des Ruderverbands am Rotsee sehr skulptural.

«Habe ich nun alle beleidigt?»

Ewa Hess am Dienstag den 3. November 2015

Liebe Leute, ich bin besorgt. Seit Monaten führt die Zeitschrift «The Art Newspaper» die Umfrage unter den prominenten Kuratoren und Künstlern durch. Die Frage: Wozu dient Kunst? Ich las das bisher nicht, denn (Sie kennen mich vielleicht schon ein bisschen), Definitionshuberei interessiert mich weniger als lebendige Kunst. Da ich aber heute etwas Zeit hatte, schaute ich in die Serie hinein und bin echt erschrocken. Diese Menschen – lauter ernst zu nehmende Kuratoren und Kunstkenner – schlagen Alarm. Es geht ihnen auch gar nicht um die Definitionsfrage an sich, sondern um den aktuellen Zustand des Kunstbetriebs.

Neil McGregor, der Direktor des British Museum, schreibt, dass es erst der brutalen Zerstörungen im Irak und in Syrien bedurft habe, um uns den Sinn der grossen Kunstdenkmäler vergangener Zeiten ins Bewusstsein zu rufen, deren Ruf durch die Aufklärung ramponiert gewesen sei.

Chris Dercon, der zurücktretende Chef der Tate Modern, stellt nüchtern fest, dass die steigenden Preise der Kunstwerke nicht von einer Steigerung ihres gesellschaftlichen Werts begleitet worden seien (er wechselt bald folgerichtig in die Theaterbranche nach Berlin. Mal sehen, ob er dort den kulturellen Einfluss ausüben kann, den er in der von vier Millionen Menschen jährlich besuchten Tate Modern nicht konnte).

Der chinesische Künstler Xu Bing vergleicht Kunst mit einem Tumor – der durch sein Wachstum den krankhaften Zustand des Gesamtorganismus offenbart (!).

Und der italienische Nobelpreisträger Dario Fo sagt, dass unsere gegenwärtige Kultur in Desinformation gründe. Dass eine Leere, eine Langeweile, ein Mangel an Involviertheit herrschten und vor allem die Unlust, etwas wirklich Neues zu entdecken.

Der Klagechor: Neil McGregor, Chris Dercon, Xu Bing, Robert Storr, Dario Fo

Der Klagechor: Neil McGregor, Chris Dercon, Xu Bing, Robert Storr, Dario Fo.

Einer hat aber dem Ganzen die Krone aufgesetzt: Der amerikanische Kurator und Kunsthistoriker Robert Storr. Der ehemalige Chef der 52. Biennale in Venedig, heute 66 Jahre alt, hat einen apokalyptischen Text verfasst, dunkel und ehrlich wie ein schwarzer Diamant. Ich habe ihn hier übersetzt. Lesen Sie ihn selbst:

«Wie noch nie wird Kunst von allen Seiten bedrängt.

Von einer Seite greifen sie brutale ideologische Bilderstürmer an. Die Taliban und die Isis sind nur die schlimmsten unter ihnen. In ihrem Gefolge die Marodeure, sie plündern die archäologischen Stätten, Landhäuser und Kirchen. Diese «bad guys» tragen Schwarz (Turbane, Masken, Helme, geschneiderte Anzüge).

Andere tragen Weiss. Sie «machen es richtig, um Gutes zu tun». Dabei lieben sie die Kunst zu Tode. Angeführt wird diese Truppe von den Oligarchen aller Art, die Trophäenkäufe von den Messen in die Freihafenlager verfrachten und von dort in Privatmuseen und wieder zurück in einer Art Perpetuum mobile des unsichtbaren Kapitalüberflusses. An ihnen kleben die Schmeichler, die sie «inspirieren», und «Berater», die ihre Transaktionen schmieren. Dicht gefolgt von einer Armee von Kunsthändlern, Auktionatoren und Mittelsmännern (-frauen) diverser Couleur, welche die Eigenschaften der Kunstwerke – und ihre Preise – unermüdlich aufschäumen.

Danach folgt das Feld des Nonprofitvolks. Staatlich besoldete und im Privatsektor eingenistete Kulturbürokraten, Museumsdirektoren Kuratoren und Pädagogen, Biennalen-Wiederholungstäter, die einen nimmer endenden Zyklus von Ausstellungen, Bühnenevents, Kommissionen und Interventionen ausrollen und damit nolens volens die Aktien des gerade Angesagten manipulieren. Masslos produktiv, sind diese Kulturfabrikanten auch ihr eigenes Kulturproletariat.

In einer losen Formation, Tinte spritzend, digital schnaufend, erscheint danach ein Schwarm von Journalisten, Kritikern und Wissenschaftern. Sie bieten Sprache und Ideen feil, kommentieren am Laufmeter das Fortschreiten des Desasters und stellen mit ihrem Getöse sicher, dass ein bombastischer Diskurs über jedes Engagement und jede Einsicht triumphiert.

Habe ich nun alle beleidigt? Ich hoffe es. Muss ich mich entschuldigen? Nein, weil nur einer, der mittut, die anderen Mitläufer auch erkennen kann. Wir sind alle für dieses Unglück verantwortlich, sind alle schuldig, diese Monster geschaffen zu haben und selber zu Monstern geworden zu sein. Jeder, jede von uns hat in seiner eigenen Weise dazu beigetragen, dass ein authentisches Erleben von Kunst fast unmöglich erscheint, dass es uns selbst nicht möglich ist, eigene Gedanken und Gefühle zu erforschen, ohne zu erschrecken, ohne Wut oder Ekel zu empfinden, ohne sich der eigenen Mittäterschaft bewusst zu werden. Wir müssen dieses Karussell anhalten. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät, auf das ästhetische Äquivalent des hippokratischen Eids zu schwören: vor allem dem Patienten keinen weiteren Schaden zuzufügen.»

Lauter Monster und Missgeburten: Antonius-Altar (Detail) von Hieronymus Bosch

Lauter Monster und Missgeburten: Antonius-Altar (Detail) von Hieronymus Bosch.

Wow. Ist es wirklich so schlimm? Andererseits: Das Dunkle, Grandiose des Textes empfinde ich persönlich als tröstend. Man kann dieses Schlachtgemälde direkt vor seinem geistigen Auge sehen: die Bösewichte in Schwarz und die Pharisäer in Weiss, um sie herum die schnaufenden Tintenspritzer, die schmierigen Aufschäumer. Eine herrliche Dystopie, in der keiner von Schuld frei ist. Als wäre es ein Gemälde von Hieronymus Bosch.

Das ist eben das Gute an der Kunst: Auch wenn sie die Hölle ausmalt, berührt sie manchmal den Himmel.