Dreiecke in Ekstase

Claudia Schmid am Dienstag den 29. September 2015

Das muss wieder mal gesagt sein: Im Helmhaus geht in Zürich die Sonne am schönsten unter. Kaum ein Ausstellungsraum kann bei diesem von der Limmat reflektierten Licht, das abends die Räume in einen Goldfilm taucht, mithalten. Auch die Aussicht auf fotografierende Touristen und die Altstadt ist bei schönem Wetter superb. Für eine Ausstellung mit dem Wort «Liebe» im Titel also mehr als perfekt. Kein Wunder, kamen am Donnerstag alle zur Vernissage – inklusive der Stadtpräsidentin in High Heels.

Was: Vernissage der Ausstellung «Das Dreieck der Liebe»
Wo: Helmhaus Zürich
Wann: Donnerstag, 24. September 2015 (Ausstellungsdauer bis 22.11.)

Helmhaus im Herbst: Goldenes Licht und heisse Abstraktion

Helmhaus im Herbst: Goldenes Licht und heisse Abstraktion.

Auch am diesem Abend war das Helmhaus wieder mal in dieses goldene Licht getaucht, und man hätte sich stundenlang auch Schrott angeschaut, so schön war alles erleuchtet. Bei der Vernissage «Das Dreieck der Liebe» gab es aber natürlich keinen Schrott zu sehen, sondern viel Sex, Körper und strenge Linien aus der Zürcher Kunstszene von jetzt und damals. Der Kurator der Ausstellung, der Kulturanthropologe Michael Hiltbrunner, hat dafür Werke ausgewählt, die Zürichs Extrempositionen zwischen Abstraktion und Körperlichkeit zeigen. Im besten Fall vereinen sich diese Gegensätze in der «dritten, vereinenden Kraft von Liebe und Mystik» – was eben das Dreieck ergibt.

Guckiguck: Kleinteiliges und Explizites von André Gelpke, Ton auf pink kommt gut: Sabina Baumann, Vernissagen-Ekstase im Treppenhaus

Guckiguck: Kleinteiliges und Explizites von André Gelpke (links), Ton auf Pink kommt gut: Sabian Baumann (Mitte), Vernissagen-Ekstase im Treppenhaus.

Für alle, die das mit dem Dreieck immer noch nicht gerafft haben, hier ein (kommentierter) Ausschnitt aus dem Ausstellungstext:

«Dem Aufspannen von Körperlichkeit und Abstraktion vor dem Hintergrund der Liebe liegt die Idee zugrunde»

(so weit, so gut)

«dass Körperlichkeit und Abstraktion nicht zu trennen sind»

(wirklich nicht? wir dachten immer, es seien Gegensätze?)

«so wie die Pythagoreer für alle Erscheinungen auch eine Zahl zu bestimmen suchten»

(aha, ja so, wenns die Pythagoreer taten, dann wollen wir das gelten lassen).

«Die Zahl 3 ist Symbol für Ende, Mitte und Anfang, und somit für das All. Dieses All, das Unendliche in der Mathematik, steht oft für das Göttliche und ist zentraler Gegenstand der Mystik.»

(Gemeint ist wohl hier die Kuratoren-Mystik?)

«Dies liegt der Konzeption der Ausstellung zugrunde: das Dreieck nicht als Form, sondern als Spannungsverhältnis zwischen Körperlichkeit, Abstraktion und dem dritten, kaum fassbaren kosmisch-unendlichen Element.»

(Okay, und wir dachten in unserer Naivität, dass wenn man Liebe sagt, man auch Liebe meint – und nicht «ein kaum fassbares kosmisch-unendliches Element». Aber natürlich, wo bliebe sonst die Mystik?)

Helmhaus-Hausherr Simon Maurer, Kurator Martin Hiltbrunner, rechts: Stadtpräsidentin auf dem Sprung ans Filmfestival

Helmhaus-Hausherr Simon Maurer und Kurator Michael Hiltbrunner vor einem Werk von Cristina Fessler (l.), Stadtpräsidentin auf dem Sprung ans Filmfestival.

In seiner Rede wird Kurator Hiltbrunner schon etwas deutlicher, wenn nicht zu sagen derber: «Viele Dreiecke sind in der Ausstellung nicht zu sehen. Dafür entschuldige ich mich», sagt er. Laut Helmhaus-Leiter Simon Maurer habe sich Hiltbrunner dafür an die «Königsdisziplin» gewagt – «nämlich nicht nur eine Ausstellung auszurichten, sondern damit auch gleich eine eigene These aufzustellen». Welche These? Ist immer noch nicht so klar, aber nicht zuletzt will die Ausstellung auch zeigen, dass Zürich schon immer zwischen kühler Kalkulation und heisser Ekstase pendelte. Dafür hatte es eigentlich Dreiecke und Kugeln genug unter den schönen Exponaten.

Essai de simulation de la manie aiguë, 1972, eine Radierung von Johannes Gachnang, Eva Kurz, o.T. (Wir in Irenes Höschen), Fotografie, 2015, C-Print, 10.5 x 7 cm, Walter Pfeiffer, Ohne Titel, 1979, Courtesy Galerie Sultana, Paris

Dreiecke und Kugeln: «Essai de simulation de la manie aiguë», 1972, eine Radierung von Johannes Gachnang (links), Eva Kurz, o.T. (Wir in Irenes Höschen), Fotografie, 2015, C-Print (Mitte) und Walter Pfeiffers Ohne Titel, 1979, Courtesy Galerie Sultana, Paris.

Für Corine Mauch, die die Ausstellung mit eröffnet, ist heute eher ein Abend der heissen Ekstase: Sie muss im Anschluss auch noch an die Eröffnungsnacht des Zurich Film Festival «abzischen» und ist denn auch mit Abstand am festlichsten gekleidet: Sie trägt ein rotes Kleid und ultrahohe Absatzsandalen aus Lackleder. Wirklich Zeit, die Ausstellung in Ruhe anzuschauen, hat sie nicht.

Dabei macht es richtig Spass, sich im gleichen Raum von den bunten Geometrien einer Verena Loewensberg und den kleinen, expliziten Siebzigerjahre-Aktfotografien eines André Gelpke verführen zu lassen. Dank Arbeiten von 1937 bis heute ist die Bandbreite gross, und alle sind angesprochen: Die Besucher Mitte 30 finden ihre Kollegen bei den kleinformatigen Nackt- und Unterhosenbildern von Eva Kurz (*1979) wieder; die Älteren entdecken Arbeiten der frühen F+F-Schule, von Manon oder Max Bill, wieder; die Jüngeren von Tobias Madison oder Rico & Michael.

Pseudo-Versace-Stil: Die Auslegeware von Michael und Rico

Pseudo-Versace-Stil: Die Auslegeware von Rico & Michael.

Das gleichnamige Künstlerduo, das sich von Beginn weg mit Körperlichkeit und Selbstdarstellung beschäftigt hat, bringt eine begehbare Bodeninstallation mit dekonstruierten Selbstporträts im Pseudo-Versace-Stil ins Helmhaus. «Ist recht praktisch; Meterware und einfach zu pflegen», sagen die beiden. Hinter ihnen steht Walter Pfeiffer. Der Fotograf, dank knallblauem Outfit immer von weitem sichtbar, will aber nicht auf ihrem PVC-Boden posieren, sondern führt uns zu seiner eigenen Arbeit – natürlich Akte. Mit seinen reizenden, blutjungen Assistenten Samuel Haitz und Jeannie Coco Schneider bildet er ein Dreieck, das sinnbildlich für diese generationenübergreifende Ausstellung steht.

Walter Pfeiffer mit seiner reizenden Doppelassistenz

Walter Pfeiffer mit seiner reizenden Doppelassistenz: Jeannie Coco Schneider und Samuel Haitz.

Tanz mit den Divas

Ewa Hess am Dienstag den 22. September 2015

John Armleder ist einer unserer wichtigsten Künstler, liebe Leserinnen und Leser, und heute will ich von einer aussergewöhnlichen Arbeit des Malers, Performers und Konzeptkünstlers aus Genf berichten. Ich habe sie in einer meiner Lieblingsgalerien entdeckt – bei Susanna Kulli im Kreis 4 in Zürich.

Was: «Jericho» von John M. Armleder
Wo: Galerie Susanna Kulli, Dienerstrasse 21, 8004 Zürich (Di–Fr 13–18, Sa 11–16)
Wann: Bis auf weiteres

John Armleder und Susanna Kulli 1963 beim Einrichten der ersten Ausstellung in St. Gallen

John Armleder und Susanna Kulli 1983 beim Einrichten der ersten gemeinsamen Ausstellung in St. Gallen – es war die vierte Ausstellung der jungen Galerie Kulli überhaupt.

Es ist eine kleine Galerie, aber lasst euch nicht täuschen. Susanna Kulli ist unsere Marian Goodman, obwohl sie natürlich viel jünger ist als die allseits respektierte amerikanische Galeristin, die so viele tolle europäische Künstler als Erste in den USA vertrat – und still going strong mit Räumen in Paris und London! Susanna Kulli hat ihre Pioniertätigkeit in St. Gallen begonnen. In ihrem Programm machte sie von Anfang an keine Kompromisse, und in ihrem künstlerischen Urteil blieb sie bis heute unbeirrt. In ihrer zweiten Ausstellung überhaupt zeigte sie schon Gerhard Merz, in der vierten John Armleder. Wenig später war bei Susanna Kulli übrigens der andere wunderbare Romand dran, Olivier Mosset. 1993 widmete sie eine Schau dem jungen Thomas Hirschhorn. Den Namen hat damals zuvor noch niemand gehört.

Und erst vor wenigen Jahren hat mir die unermüdlich entdeckungsfreudige Galeristin das Werk von Bertold Stallmach vorgeführt, eines 31-jährigen in Zürich lebenden Künstlers, das mich mit seiner innovativen Energie verblüfft hat. Heute kennt man Stallmach besser, und bestimmt steht Kullis Interesse wieder am Anfang einer internationalen Karriere.

So kommt es, dass die inzwischen gross und grösser gewordenen früheren Schützlinge, die in der Weltliga mitmischen, mit ihren unkonventionellen Arbeiten schnurstracks in die Galerie Susanna Kulli marschieren. Sie wissen – hier wird man verstanden und unterstützt. Und just von Armleder hängt bei Frau Kulli seit einigen Monaten eine Arbeit an der Wand, die im Werk des Genfers absolut einmalig ist – die einzige, in welcher er sich mit Fotografie auseinandersetzt.

Susanna Kulli in ihrer Galerie vor dem Werk «Jericho»

Susanna Kulli in ihrer Galerie vor dem Werk «Jericho»

Ich wollte dieses «Jericho» schon lange anschauen gehen, am Samstag fand ich endlich Zeit. Und muss es sofort mit euch, liebe Leserinnen und Leser, teilen, denn es ist eine wunderbare Geschichte. Es handelt sich bei diesen 88 Fotos eigentlich um ein Fundstück. Der Künstler selbst hat sie mit seiner dafür berühmten feinen Hand  arrangiert. Es war eine Schachtel, die bei einem Fotohändler stand. Armleder schaute ein Bild nach dem anderen an – und siehe da, es war eine ganz und gar ungewöhnliche Sammlung. Lauter Bilder von Showbusiness-Stars, die entweder gerade fotografiert werden oder gar zurückfotografieren.

Was heute gang und gäbe ist, nämlich dass jeder knipst so wie er atmet, war in den Jahren, aus welchen diese Bilder stammen, eher eine Ausnahme. In schönster Fluxus-Manier nimmt Armleder (die Arbeit ist auf 2013 datiert) den in der Fotoschachtel gefundenen Ton auf und beschäftigt sich mit dem Thema auf seine Weise. «Mir kommt es wie eine der Performances Armleders  vor», sagt die Galeristin zu «Jericho». Es sei, als ob der Künstler mit dem Thema tanzen würde. Und auch mit den unbekannten Fotografen, welche diese Bilder geschossen haben sowie den leicht verblichenen Filmdivas, die hier abgebildet sind.

Was man aber in der Ausstellung nicht sieht, liebe Leser, sind die Fotorückseiten. Da die Bilder gerahmt an der Wand hängen, sind die Rückseiten unsichtbar. Aber die gehören unbedingt dazu. Die Galeristin hat sie eingescannt und zeigte sie mir am Bildschirm. Wir kamen ins Rätseln und manchmal auch ins Kichern! Schön wars.

Darum hier, nachfolgend, eine veritable Private View – nur für Euch, liebe Leserinnen und Leser, einige der Bilder und ihre Rückseiten. Enjoy.

Vorderseite

Vorderseite: Zwei Fotojägerinnen.

Rückseite: Man hält es für wichtig, Caroline Kennedy zu erwähnen. Dass man die Schauspielerin Ali McGraw sowieso erkennt, nahm man vielleicht selbstverständlich an

Rückseite: Man hält es für wichtig, Caroline Kennedy, die Tochter von J.F.K., rechts zu erwähnen. Dass man die Schauspielerin Ali MacGraw (links) sowieso erkennt, nahm man vielleicht als selbstverständlich an.

Den erkennt man

Den erkennt man, oder?

«The Killing Fields» - es muss in einer Drehpause entstanden sein

«The Killing Fields» – das Porträt muss in einer Drehpause entstanden sein.

Shirley McLaine, natürlich, und der Mann mit der Kamera?

Shirley MacLaine, natürlich, und der Mann mit der Kamera?

Der junge Alain Delon, who else. Am Set von «The Yellow Cadillac»

Aha, natürlich, der junge Alain Delon. Am Set von «The Yellow Rolls-Royce».

Eine mysteriöse Szene mit einem beleibten Kerl im Vordergrund

Eine mysteriöse Szene mit einem beleibten Kerl im Vordergrund.

Marlon Brando

Es ist Marlon Brando, April 1980 – wohl nicht am Set von «The Formula», sondern bei einem privaten Ausflug des Schauspielers.

Gepflegtes Heim...

Gepflegtes Heim …

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… von den Hollywoodstars Stewart Granger und Jean Simmons.

Was wird hier Ingrid Bergmann an die Hand gemalt?

Was wird hier Ingrid Bergmann auf die Hand gemalt?

Makeup-Touchups

Make-up-Touch-ups, fotografiert von Yul Brynner auf dem Set von «Anastasia» in London. «It is the first American-made movie in which Miss Bergmann has appeared since she left the U.S. eight years ago …» Wir schreiben das Jahr 1956.

Sterbeszene?

Eine Leidensszene aus?

Offensichtlich

Diese Rückseite gibt Rätsel auf. William Read Woodfield, muss man wissen, ist jener eigentlich wenig erfolgreiche Drehbuchautor, der der Serie «Mission Impossible» zu ihrem frühen Erfolg verholfen hat, indem er «magische Tricks» in den Plot eingeführt hat (er war Hobby-Magier). Danach wurde er Filmfotograf und erlangte eigenartigen Ruhm als einer jener Fotografen, die Marilyn Monroe am Pool fotografiert hatten, als sie sich entschloss, das Badekostüm komplett abzulegen (s.g. Blue Pool Aufnahmen). Doch welche Filmszene fotografierte er hier? Und wer ist die oder der mysteriöse F.P.G., dem das Foto zugeeignet ist? Die Dame könnte junge Liz Taylor sein…

Das muss doch die fotografierende Kleopatra sein.

Hier erkennt man die Protagonistin sofort, vor allem am Kostüm. Es fotografiert: die Kleopatra.

 

Natürlich, the one and only Liz Taylor

Natürlich, the one and only – Liz Taylor.

Erwartungsvoller kann man die Kamera wohl nicht im Anschlag halten.

Erwartungsvoller kann man die Kamera wohl nicht im Anschlag halten.

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Und schon wieder ist die weniger bekannte angeschrieben: Lauren Hutton (rechts). Die links kennt man auch heute, natürlich Geraldine Chaplin.

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Kann man den Finger hoch halten mit französischem Akzent?

Jericho_John Armleder_0012a_back_Galerie Susanna Kulli

Ja, denn es ist das Jahr 1934 und Maurice Chevalier kommt gerade in New York an, das seinem Pariser Charme restlos verfällt.

Geheimnisse des Urwalds

Ewa Hess am Dienstag den 15. September 2015

Die Kunst und die Wissenschaft sind ja Schwestern, und selten war das so offensichtlich wie heute. Die zeitgenössische Kunst, ihrem konzeptuellen Entwicklungspfad folgend, gefällt sich in der Erforschung der neuen Territorien ganz nach dem «Raumschiff Enterprise»-Motto «Where no man has gone before». In «Star Trek» war damit der Weltraum gemeint, doch, liebe Leserinnen und Leser, auch bei uns auf der alten Kugel Erde gibt es noch Unerforschtes! Und wie. Ich war letzte Woche in Wien, wo gerade eine Delegation des Volkes Huni Kuin aus dem Amazonas weilt, und durfte einen kurzen Blick in die Geheimnisse der Urwalds werfen. Ich sage nur: wow!

Was: Ausstellung «Aru Kuxipa – Sacred Secret», Ernesto Neto und die Huni Kuin
Wo: Thyssen-Bornemisha Contemporary (TBA 21) im Augarten, Wien
Wann: Noch bis 25. Oktober 2015

Delegation aus dem Urwald: Die Gäste aus dem Volk der Huni Kuin mit der traditionellen Gesichtsbemalung

Delegation aus dem Urwald: Die Gäste aus dem Volk der Huni Kuin mit der traditionellen Gesichtsbemalung und dem Kopfschmuck.

TBA 21 steht für Thyssen-Bornemisza Contemporary (wobei 21 das 21. Jahrhundert meint). Thyssen-Bornemisza als Name andererseits ist in der Schweiz alles andere als ein Fremdwort: Baron Hans Heinrich Thyssen-Bornemiszas Weltklasse-Kunstsammlung, einst in der Villa Favorita in Lugano untergebracht, empfindet mancher Kunstliebhaber immer noch als einen empfindlichen Verlust für die Schweiz. Die Sammlung verliess Lugano 1993 und ist jetzt in Madrid zu Hause – im Museo Thyssen-Bornemisza, vollgepackt mit den schönsten Bildern von Holbein, Cranach, Dürer, Ghirlandaio, Gauguin, Van Gogh und, und, und… Damals war es ein Thema, ob die Schweiz auch genug getan habe, um die Sammlung zu halten. Nun ja, es ist eh zu spät, um die Sache zu erörtern, eins ist aber sicher: Lugano, wo man jetzt mit dem neuen Kulturzentrum LAC das kultivierte Image zu reparieren versucht, würde mit der Thyssen-Sammlung heute ganz anders dastehen.

Die Hausherrin Francesca von Habsburg lernt von dem Volk der Huni Kuin. Rechts: Ernesto Neto erzählt

Die Hausherrin Francesca von Habsburg (ganz links und rechts) nimmt Teil an den Ritualen der Huni Kuin.

Das Wiener TBA 21 ist eine Initiative der Tochter des Barons, die ganz in der Tradition ihrer Familie eine beherzte Kunstförderin ist und mit ihrem Engagement ganz neue Wege beschreitet: Ich spreche von Francesca von Habsburg. Eine geborene Thyssen-Bornemisza, hat die Gründerin von TBA 21 durch ihre Verbindung mit Karl von Habsburg-Lothringen in die einst kaiserliche Familie eingeheiratet, sodass sie, wäre das alte Europa noch intakt, heute Kaiserin von all den farbigen Ländern wäre, die einst unter der k. u. k. Krone vereint waren. Zurückschauen ist indes ihre Sache nicht. Kunst versteht Frau von Habsburg als Abenteuer und als ein Instrument der Welterkenntnis. Ganz im Sinne der alten Symbiose der Wissenschaft und der Kunst. Der isländisch-dänische Künstler Olafur Eliason etwa hat schon unter ihrer Ägide seine «Little Suns» kreiert, kleinste sonnenbetriebene Kraftwerke, die mobile Modernität auch in den elektrisch unerschlossenen Teilen der Welt ermöglichen.

Enstpannte Erzählkultur: Ernesto Neto hält seinen Vortrag liegend, die Zuhörer machen es ihm nach

Entspannte Erzählkultur: Ernesto Neto hält seinen Vortrag liegend, die Zuhörer machen es ihm nach.

Überhaupt, das Ursprüngliche, ganz Alte, Verborgene und Unerforschte mithilfe der modernsten Errungenschaften des menschlichen Geistes erstens zu bewahren und zweitens für die sinnvolle Entwicklung des Planeten fruchtbar zu machen, könnte als ein Motto über der Tätigkeit von TBA 21 stehen. Zum Programm der Stiftung gehören auch Expeditionen in entlegene Winkel des Planeten auf dem stiftungseigenen Expeditionsschiff Dardanella. Wissenschafter, Künstler und Denker sind jeweils an Bord.

Zu den Kontakten mit den Huni Kuin ist TBA 21 über die langjährige Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Starkünstler Ernesto Neto gekommen. Seit mehreren Jahren ist Neto fasziniert von dem indigenen Volk, welches im Amazonasgebiet Brasiliens und Perus lebt. Erste Kontakte mit der Zivilisation waren für die Huni Kuin (oder Kaxinawa, wie sie sich auch nennen) traumatisch. Brasilianische Gummiplantagenbesitzer und  peruanische Gummizapfer säuberten das Gebiet von den «wilden Indianern», die Mehrheit ihrer Ethnie wurde ausgelöscht. Heute sind sie in einem Prozess der Wiederentdeckung ihrer Traditionen, Glaubenssysteme und Praktiken begriffen.

Die Botschafter ihrer Kultur: Links mit dem charmanten Lächeln der Schamanensohn Txana

Die Botschafter ihrer Kultur: Links mit dem charmanten Lächeln der Schamanensohn Txana Bane, oder wie in seinem Pass steht: Fabiano Maia Sales. Als angehender Schamane ist er auch Künstler und Historiker, der sich für die Anliegen der Huni Kuin in Europa starkmacht.

Ernesto Neto seinerseits ist einer der bedeutendsten Künstler Brasiliens: Seine Ausstellungen waren in Bilbaos Guggenheim-Museum ebenso wie im New Yorker Moma zu sehen. Seine von der Decke hängenden Strukturen – sinnliche, interaktive Installationen – kennt man auf der ganzen Welt. Die Schau «Aru Kuxipa – Sacred Secret» hat Neto gemeinsam mit Künstlern, Pflanzenheilern und Schamanen aus dem Amazonasgebiet erschaffen.

Rituale gehören zum Begleitprogramm der Schau, und ich darf an einem teilnehmen. Es wird erzählt. Neto erzählt, die Huni Kuin erzählen. Von den Pflanzen, die sie wie sich selbst kennen und zu Heilungszwecken brauchen, von ihrem ganzheitlichen Verständnis des waldigen Universums. Man übersetzt, wie man kann – die einen sprechen Huni Kuin, die anderen Portugiesisch oder Englisch. Der Duktus der Erzählungen ist langsam, getragen, ganz in der Tradition des Stammes und seiner oralen Traditionen. Dazwischen stehen wir auf, singen und tanzen.

Die Installation von Ernesto Neto im Augarten ist wie so oft bei ihm zum Reinkuscheln einladend, rechts: Damit die Übersetzung besser gelingt ein gemeinsamer Kurzpaffer

Die Installation von Ernesto Neto im Augarten ist wie so oft bei ihm interaktiv und einladend, rechts: Damit die Übersetzung besser gelingt ein gemeinsamer Kurzpaffer.

Im Kern des Ganzen steht ein Begriff aus der modernen Anthropologie: Die sogenannte indigene Moderne. Die Huni Kuin nennen das «Aru Bena», «neue Ära», in der der Austausch der bisher isolierten Völker mit der Welt auf Augenhöhe stattfindet. Die modernste Technik hat nämlich eine diskrete Entwicklungsstufe erreicht, die bei der Erfassung und Weiterreichung der Traditionen hilfreich sein kann, ohne aggressiv in die Bräuche einzugreifen. Söhne und Töchter der Schamanen sind selber Filmemacher, Forscher, Botschafter, die das neue Bewusstsein der Völker stärken. Gemeinsam erforscht man die Pflanzen und findet in Workshops heraus, wie man ihre Kraft  noch besser nutzen kann. Ein Thema ist auch das Buch «Una Isi Kayawa» («Buch der Heilung»), das von dem 2008 verstorbenen Visionär und Schamanen Agostinho Manduca Mateus Ĩka Muru initiiert wurde und als eine Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle des Botanischen Gartens in Rio de Janeiro auf speziell beschichtetem Papier, welches sich im Urwald nicht zersetzt, herausgegeben wurde. Eine englische Ausgabe wird von TBA 21 für 2016 geplant.

Neto und die Weisheit des Waldes: Teile der Installation und ein Gespräch mit den Zuschauern

Teile der Installation (links und rechts),  Ernesto Neto im Gespräch mit den Zuschauern.

Und wenn wir schon bei Pflanzen sind: Nein, über eine eigene Ayahuasca-Erfahrung kann ich nicht berichten. Ernesto Neto und die Huni Kuin haben zwar im Wiener Augarten mit der rituellen (und berüchtigten) Bewusstseinserweiterungs-Droge experimentiert, ich bin aber zu spät gekommen. Ehrlich gesagt, war ich auch ein bisschen froh darum, denn ich habe gelesen, dass man vor dem Becher mit dem säuerlich schmeckenden Blättergebräu einen anderen Drink zu sich nehmen soll, der den Darm reinigt. Die Huni-Kuin-Gäste Txana, Zezinho und Francisco Arnaldo haben zudem berichtet, von seltsamen Geistern des Augartens heimgesucht worden zu sein. Der Verdacht fiel sofort auf den Geist des 1975 verstorbenen österreichischen Bildhauers Gustinus Ambrosi, jenes umstrittenen (post-)faschistischen Künstlers, dessen Museum auch im Augarten zu Hause ist.

So ist es eben mit dem Austausch. Er läuft nicht nur in eine Richtung. Und nicht nur der Urwald hat seine dunklen Geheimnisse.

Organisches Wissen: eine Zeichnung aus dem Buch des Heilens, Struktur einer Skulptur von Neto

Organisches Wissen: Eine Zeichnung aus dem «Buch des Heilens», die Struktur einer Skulptur von Neto.

 

 

 

 

Wie melkt man die Sammler?

Ewa Hess am Dienstag den 8. September 2015

Jetzt mische ich mich auch noch ein, liebe Leserinnen und Leser! Bis jetzt wollte ich nämlich höflich schweigen zum Buch «Management von Kunstgalerien» von Magnus Resch, über das so viel diskutiert wird in der Kunstszene. Da jetzt aber sogar die seriöse «The Art Newspaper» der Debatte einen Platz einräumt, muss ich meiner Entrüstung über das Machwerk Ausdruck verleihen. Der 31-jährige Deutsche will darin den Galeristen beibringen, wie sie ihren Job richtig machen sollen. Doch er treibt seine Begeisterung für die Industrialisierung des Kunstmarktplatzes einfach zu weit. Vielleicht sind viele der Galeristen eher Aficionados als Geschäftemacher. Vielleicht krankt das Business daran. Aber die Genesung, dessen bin ich mir ganz sicher, liegt nicht darin, dass man Sammler melkt und die Künstler übervorteilt.

Allein schon das Vokabular! Die Künstler sollen in «arme Hunde», «Cash Cows» und «Stars» unterteilt werden. Wer zu keiner der drei Kategorien gehört, ist ein «Fragezeichen». Auch scheint die Analyse der Wirklichkeit etwas unter den eigenen Vorlieben des Schreibenden gelitten zu haben. Etwa: «Eine Galerie, die keine Getränke an der Vernissage ausgibt, wird deutlich weniger Besucher empfangen als die Galerie, die Getränke offeriert – dabei ist die Qualität der Kunst völlig unerheblich», heisst es etwa im Buch. Und der Wert der Kunst (die bei Resch «Kernprodukt» heisst) wird als eine Mischung aus: Dekoration, Investition, Diskussion und Inspiration definiert.

Die Künstler-Matrix nach Magnus Resch Quelle: «Management von Kunstgalerien», Hatje-Cantz-Verlag 2015

Die Künstler-Matrix nach Magnus Resch. Quelle: «Management von Kunstgalerien», Hatje-Cantz-Verlag 2015

Reschs Ratschläge kann man eigentlich sofort wieder vergessen. Die Vernissagenbesucher haben vielleicht nicht nur edle Gedanken im Kopf, für einen Gratisdrink kommen sie nun mal bestimmt nicht. (Ausser einigen wenigen armen Teufeln, die ihren Alkohol-Fix brauchen, mehrere Gläser runterkippen und sofort wieder gehen, doch die kaufen bestimmt keine Kunst, lieber Herr Resch!)

Weitere Vorschläge des neunmalklug auftretenden Experten stammen auch aus der Wirtschaftstrickkiste, und erst noch aus einer, die müffelt: Give-aways für die Kunden (Armbänder mit Künstlerlogo? – als ob wir nicht genug davon im Corporate-Bereich hätten!), Sammler am Programm beteiligen, (so quasi «Bei uns in der Galerie kann jeder das Programm gestalten») und Kollaborationen mit anderen Firmen (etwa mit Restaurants oder Dekobuden). Vielen Dank! Wenn die Kunstszene jemals daran dachte, sich selber jegliche Autorität abzugraben, dann wären diese Anweisungen eine gute Anleitung dazu.

Das ist alles zudem sehr Nineties. Überhaupt hat der Sunnyboy Resch, selbst erst 1984 geboren, seltsamerweise gar nichts von einem zeitgemässen Nerd mit Neigung zu Konspirationstheorien, dafür alles von einem hedonistischen Grossangeber à la Leonardo DiCaprio in «The Wolf of Wall Street». Letztes Jahr wurde er etwa mit einem 11-Sekunden-Video berühmt, in dem er sich selber beim Skifahren im Sonnenschein filmt und «Wooohuu» schreit, um nachher seine Freunde zu fragen: «Ob es bei euch gerade auch so toll wie bei mir ist? Aj daut it!» Unter dem Hashtag #idautit – stolz zu seiner germanischen Aussprache des englischen «I doubt it» stehend – wurde er zum Spottobjekt der Social Media, womit seltsamerweise immer auch Bewunderung und Nachahmung einhergehen.

«Wuhuuu»: Magnus Reschs Beitrag zur Selfie-Kultur. Quelle: Youtube

Resch, der in St. Gallen, Harvard und London Ökonomie studiert hat, selbst eine Galerie schon betrieben haben soll (die hat allerdings nicht viele Spuren hinterlassen), ist auch der Gründer und Herausgeber der Larry’s List, eines Bezahlservice für Kunsthändler, in dem die Vorlieben und Profile der Sammler auf der ganzen Welt erforscht und dann an den Abonnenten verkauft werden. Auch dort hat der Jungunternehmer lustige Ideen verwirklicht – etwa Sammlerkarikaturen im Stil der sprechenden Pillen in «The Minions». Ist das nicht zum Schenkelklopfen? Man kann die Sammler sammeln!

Die Sammler als Sammelobjekt, wenn mich nicht alles täuscht ist der erste von links in der zweiten Reihe «unser» Michael Ringier Quelle: «Larry's List»

Die Sammler als Sammelobjekt. Der Erste von links in der hinteren Reihe: Michael Ringier. Der Fünfte von rechts vorne: Uli Sigg.

Warum ich aber auf die ganze Sache zu sprechen komme, ist eine traurige Wahrheit, die sich hinter Reschs zynischen Ratschlägen versteckt: In der ganzen Aufwertung und Globalisierung der zeitgenössischen Kunst haben die Galerien schon irgendwie das Los der Niete gezogen. Die Umfrage, aus der Resch die Legitimation für sein Buch bezieht, brachte es zutage: Von 8000 Galerien auf der ganzen Welt, die teilgenommen haben, hat die Hälfte weniger als 200’000 Dollar Umsatz, und ein Drittel ist in den roten Zahlen. Kein Wunder, die Galerien müssen heutzutage so viel mehr leisten: Archive der Künstler führen, Ausstellungsservice gewährleisten auf der ganzen Welt, konstant Präsenz markieren an den teuren Messen, und kaum ist einer berühmt, springt er schon ab zu einem der Big Players. Auktionshäuser wildern zudem im Primärmarkt und markieren Spitzenpreise, die auf die Dauer schwer zu halten sind. Was tun?

Resch sagt: Nehmt nicht 50, sondern 70 Prozent des Verkaufspreises. Und weil er selbst merkt, dass sich die um gute Künstler buhlenden Galerien das nicht leisten können, schlägt er eine Abstufung der Beteiligung vor nach dem Prinzip: Wer schon hat, dem wird noch mehr gegeben. Also eben: Die Cash-Cow-Künstler würden dann immer noch 50 und die «Poor Dogs» nur noch 30 Prozent bekommen. Der Hinweis, dass die meisten Galerien immer noch keine Verträge mit ihren Künstlern abschliessen, ist schon zweckdienlicher: So können diese nach Lust und Laune selber aus dem Atelier Verkäufe tätigen und auch problemlos nach Jahren der Aufbauarbeit zu einem «wichtigeren» Galeristen abhauen.

Überhaupt könnten mehr Selbstbewusstsein und weniger Einzelgängertum schon ein Teil der Lösung sein. Anstatt sich als «gehobenes Gästeservice» den Restaurants anzudienen (Vorschlag Resch), könnten die Galerien, denkt man, eher den Austausch und die Solidarität untereinander stärken. Gemeinsam ist es leichter, stark aufzutreten. Und es gibt nun mal Dienstleistungen, die selbst bei konkurrierenden Betrieben gemeinsam ausgelagert werden könnten – vergleichbar mit dem Zustellservice der Zeitungen.

Denn von der Misere – und das ist das Traurigste an der Sache – sind gerade die sympathischsten Kunstmarktteilnehmer betroffen: die Idealisten. Sie in Geldmaschinen mit Dollarzeichen in den Augen zu verwandeln, wäre für mich ein schlimmeres Szenario als die «Invasion of Body Snatchers».

Emotionslose Geschäftsmaschinen im Anzug:  Werbung für den 1956-Film «Der Angriff der Körperfresser»

Emotionslose Geschäftsmaschinen im Anzug: Werbung für den Film «Invasion der Körperfresser».