Ein Gastbeitrag von Nicole Büsing und Heiko Klaas*
Marilyn Monroe trifft auf Karl Marx, frei laufende Hühner in bunten Blumenwiesen auf All-over-Installationen. «Liquid Stories» nennt der Zürcher Sammler, Künstler und Hotelier Ruedi Bechtler ein von ihm kuratiertes Programm in seinem für Kunsthöhenflüge bekannten Hotel Castell in Zuoz. Als Gastkünstler sind diesmal die in Zürich lebende Schweizer Videokünstlerin Elodie Pong und das Basler Künstlerduo Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger angereist. Kuratorin Filipa Ramos und Stephan Kunz, der Direktor des Bündner Kunstmuseums Chur, setzten Akzente. Sechzig Kunstbegeisterte aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich haben geschaut, gestaunt und mitdiskutiert.
Was: «Art Weekend», jährlich stattfindendes dreitägiges Kunstfreunde-Treffen
Wo: Hotel Castell Zuoz, Engadin
Wann: 26.–28. Juni 2015, (nächstes «Art Weekend» Sommer 2016)

«Art Weekend»-Ritual im Skyspace Piz Uter von James Turrell (rechts Aussenansicht). Bilder: Heiko Klaas
Wir erinnern uns: Seit 1996 veranstalten Ruedi Bechtler und seine Frau Regula Kunz im familieneigenen Castell die «Art Weekends». Die ersten Veranstaltungen sind inzwischen als Künstler-Happenings legendär. Roman Signer liess hier einen mit Feuerwerkskörpern präparierten Tisch durch die verschneite Winterlandschaft fliegen. Erwin Wurm animierte die Teilnehmer zu absurden One-Minute-Sculptures. Und Pipilotti Rist veranstaltete nach dem Motto «Was will der Mensch an der Bar?» eine Art Workshop, aus dem die Konstruktion der legendären «Bar Rouge» hervorging – immer noch einer der beliebtesten Treffpunkte im Hotel Castell.
Heute läuft das so: Man trifft sich einmal im Jahr auf 1800 Meter Höhe, um mehr über Kunst zu erfahren, Insidertipps auszutauschen, Künstler hautnah zu erleben und ins Gespräch zu kommen. Bei gemeinsamen Wanderungen, von Künstlern angeregten Spielen, Kunstführungen durchs Hotel oder bei den Gesprächen während der gemeinsamen Essen auf der Sonnenterrasse von Tadashi Kawamata herrscht lockere Atmosphäre. Spröder Seminarcharakter jedenfalls kommt hier nicht auf.
Filipa Ramos, die in London lebende portugiesische Co-Kuratorin der Videoplattform Vdrome und Chefredaktorin des Onlinemagazins art-agenda, vermittelte ihre Begeisterung für das Werk der in Boston geborenen Schweizer Videokünstlerin Elodie Pong. Es gehe bei Pong ums Zeigen und Verbergen, eine Dialektik, die Ramos mit Querverweisen zu Sigmund Freuds Maskentheorie versah. Sie wies auch auf die Arbeit des US-Konzeptkünstlers Douglas Huebler hin sowie den Fischli/Weiss-Film «Der geringste Widerstand» (1980), in welchem die beiden als Ratte und Bär verkleidet staunend durch die Welt wandern.
Pongs Video «After the Empire» (2008) erweist sich als die wunderbare Praxis, zu der die Theorie passt. In diesem Werk arbeitet sie mit Tänzern und Performern, die in die Rollen von Ikonen wie Marilyn Monroe, Elvis, Batman, Mickey Mouse oder Karl Marx schlüpfen. In einem humorvollen Mix aus anspielungsreichen Zitaten, Dialogen, kleinen Szenen, Posen und Songs entfaltet Elodie Pong ein Panorama der westlichen Kultur, ihrer Klischees und Stereotype: Es ist ein visueller Trip, in dem melancholische Momente sich immer wieder mit humorvollen Wendungen abwechseln.
Etwas nachdenklicher wurde es dann, als nach dem gemeinsamen Nachtessen Elodie Pong ihren einstündigen Videofilm «Secrets for Sale» (2003) vorstellte. In einem Bunker hatte die Künstlerin ein Setting aus mehreren Räumen mit Überwachungskameras aufgebaut. Freiwillige wurden dabei gefilmt, wie sie einer nach dem anderen von einer Stimme aus dem Off angeleitet wurden, vor der Kamera ihr persönliches Geheimnis zu erzählen. Dabei konnten sie sich wahlweise hinter einer Maske verbergen, die Stimme verzerren lassen oder auch ganz ohne Anonymisierung auftreten. Nach der häufig intimen, manchmal peinlichen und oft emotional vorgetragenen Offenlegung ihres Geheimnisses betraten die Protagonisten den letzten Raum der Installation. Dort trafen sie die Künstlerin, die über das Honorar verhandelte. Zehn Schweizer Franken empfanden viele als angemessen. Andere versuchten, einen höheren Preis für ihr Geheimnis herauszuschlagen. Erstaunlich: Ob sexueller Missbrauch, die Angst vor dem Tod oder das schlechte Gewissen einer Hobbygärtnerin, die Maulwürfe tödlichen Gefahren aussetzt – Geheimnisse vor der Kamera preiszugeben und als Teil einer Kunstaktion zu verkaufen, war für die rund 700 Personen, die Elodie Pong ursprünglich für ihr Video gecastet hatte, offenbar kein Problem. Der Zuschauer jedoch wird in ein Wechselbad der Gefühle zwischen Anziehung und Abstossung, Mitleid und Schadenfreude, Voyeurismus und Fremdschämen versetzt. Am Ende räumte auch Pong ein, dass sie die Arbeit an diesem Film als emotional belastend empfunden habe.
Der Samstagvormittag gehörte dann ganz dem Basler Künstlerduo Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger, das auch für das Hotel Castell vor einigen Jahren eine Installation im Jägerstübli realisiert hatte. Die beiden Schweizer sangen zur Einstimmung ein mundartliches A-cappella-Lied, bevor sie ihre Präsentation mit frühen Arbeiten starteten. Schon in ihren ersten Kooperationen zeigt sich ihr ausgeprägter Humor und ihr Sinn für Details und ortsspezifische Situationen: Man erinnerte an die «Lift Ups», die während einer Reise um die Welt entstanden. Gerda Steiner hob dabei Personen, die sie während ihrer Reise traf, in die Höhe, während Jörg Lenzlinger auf den Auslöser drückte. Einen korpulenten Schiffskapitän schulterte die Künstlerin ebenso wie einen schmalen Inder.
Traumwandlerische Kombinatorik könnte man das Arbeitsprinzip der beiden nennen, die den Betrachter in eine fantastische Gegenwelt entführen – nicht selten indem sie ganze Räume mit gartenähnlichen Installationen verwandeln. Im Bündner Kunstmuseum Chur arbeiteten Steiner und Lenzlinger im Jahr 2013 eng mit dessen Direktor Stephan Kunz zusammen. Er lud das Künstlerpaar ein, in den Räumen des ehemaligen Naturhistorischen und Nationalparkmuseums die letzte Ausstellung vor dem Abriss des Gebäudes zu realisieren. Die beiden verwandelten das alte Gebäude in eine Wunderkammer aus Sammelsurien und Fundstücken, die langsam dem Verfall ausgeliefert war. Programmatisch war auch die Ausstellungsdauer: vom längsten bis zum kürzesten Tag des Jahres.

Eine Vorschau auf das neue Bündner Kunstmuseum Chur: Der grösste Teil der Erweiterung ist unterirdisch.
Dann stellte Stephan Kunz vor, was nach dem Abriss des alten Gebäudes kommt: Den Erweiterungsbau für das Bündner Kunstmuseum Chur. Die Überraschung dabei: Der grösste Teil der neu hinzugewonnenen Ausstellungsfläche wird unterirdisch errichtet. Möglich wurde dieser Bau durch eine private Spende von 20 Millionen Franken. Aus einem Wettbewerb gingen die spanischen Architekten Barozzi Veiga aus Barcelona als Sieger hervor. Die Eröffnung des Erweiterungsbaus, der das Museum, so hofft Stephan Kunz, in eine andere Liga katapultieren wird, ist für Juni 2016 geplant.
Im Engadin haben sich in den letzten Jahren einige einige Galerien angesiedelt. Der St. Moritzer Architekt Hans-Jörg Ruch, der auch einen Teil des Hotels Castell renoviert hat, hat die Galerien Tschudi und Monica de Cardenas in Zuoz und von Bartha in S-chanf zu attraktiven Ausstellungsorten umgebaut. Monica de Cardenas empfing in ihrer aktuellen Ausstellung mit kinetischen Objekten, Lichtobjekten und begehbaren Treppenskulpturen des 1993 verstorbenen Mailänder Künstlers Gianni Colombo, die sie in enger Zusammenarbeit mit dessen Estate realisiert hat. Einen Ort weiter in S-chanf in der Galerie von Bartha führte der extra angereiste Künstler Beat Zoderer in seine Ausstellung mit Rasterbildern aus drei Jahrzehnten ein, die zum Saisonstart Ende Juli eröffnen wird, aber bereits gehängt ist. Eine Exklusiv-Preview, das lässt man sich gern gefallen.

Installation von Tadashi Kawamata in der Nähe des Castell, Ruedi Bechtler, Terrassen-Lunch. Fotos Mitte und rechts: Heiko Klaas
Ein Ritual wird bei jedem «Art Weekend» wiederholt. Zur Stunde der Dämmerung trifft man sich im Skyspace von James Turrell etwas oberhalb des Hotelgeländes. Nach wenigen Minuten verstummen die Gespräche. Das nuancenreiche Lichtspiel im steinernen Rund mit der Öffnung zum Himmel versetzt in eine Art Trance. Jemand stimmt ein gesummtes Lied an. Ruedi Bechtler schnalzt mit der Zunge. Es wird Nacht im Hotel Castell. Zeit, das Erlebte in Ruhe auf sich wirken zu lassen.
* Nicole Büsing und Heiko Klaas sind seit 1997 als freie Kunstjournalisten und Kritiker tätig. Sie leben in Hamburg und Berlin. (Bild © Cathryn Drake)