Dämmerung im Engadin

Blog-Redaktion am Dienstag den 30. Juni 2015

Ein Gastbeitrag von Nicole Büsing und Heiko Klaas*

Marilyn Monroe trifft auf Karl Marx, frei laufende Hühner in bunten Blumenwiesen auf All-over-Installationen. «Liquid Stories» nennt der Zürcher Sammler, Künstler und Hotelier Ruedi Bechtler ein von ihm kuratiertes Programm in seinem für Kunsthöhenflüge bekannten Hotel Castell in Zuoz. Als Gastkünstler sind diesmal die in Zürich lebende Schweizer Videokünstlerin Elodie Pong und das Basler Künstlerduo Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger angereist. Kuratorin Filipa Ramos und Stephan Kunz, der Direktor des Bündner Kunstmuseums Chur, setzten Akzente. Sechzig Kunstbegeisterte aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich haben geschaut, gestaunt und mitdiskutiert.

Was: «Art Weekend», jährlich stattfindendes dreitägiges Kunstfreunde-Treffen
Wo: Hotel Castell Zuoz, Engadin
Wann: 26.–28. Juni 2015, (nächstes «Art Weekend» Sommer 2016)

«Art Weekend»-Ritual im Sky xx von James Turrell (rechts Aussenansicht)

«Art Weekend»-Ritual im Skyspace Piz Uter von James Turrell (rechts Aussenansicht).                         Bilder: Heiko Klaas

Wir erinnern uns: Seit 1996 veranstalten Ruedi Bechtler und seine Frau Regula Kunz im familieneigenen Castell die «Art Weekends». Die ersten Veranstaltungen sind inzwischen als Künstler-Happenings legendär. Roman Signer liess hier einen mit Feuerwerkskörpern präparierten Tisch durch die verschneite Winterlandschaft fliegen. Erwin Wurm animierte die Teilnehmer zu absurden One-Minute-Sculptures. Und Pipilotti Rist veranstaltete nach dem Motto «Was will der Mensch an der Bar?» eine Art Workshop, aus dem die Konstruktion der legendären «Bar Rouge» hervorging – immer noch einer der beliebtesten Treffpunkte im Hotel Castell.

Heute läuft das so: Man trifft sich einmal im Jahr auf 1800 Meter Höhe, um mehr über Kunst zu erfahren, Insidertipps auszutauschen, Künstler hautnah zu erleben und ins Gespräch zu kommen. Bei gemeinsamen Wanderungen, von Künstlern angeregten Spielen, Kunstführungen durchs Hotel oder bei den Gesprächen während der gemeinsamen Essen auf der Sonnenterrasse von Tadashi Kawamata herrscht lockere Atmosphäre. Spröder Seminarcharakter jedenfalls kommt hier nicht auf.

Filipa Ramos, die in London lebende portugiesische Co-Kuratorin der Videoplattform Vdrome und Chefredaktorin des Onlinemagazins art-agenda, vermittelte ihre Begeisterung für das Werk der in Boston geborenen Schweizer Videokünstlerin Elodie Pong. Es gehe bei Pong ums Zeigen und Verbergen, eine Dialektik, die Ramos mit Querverweisen zu Sigmund Freuds Maskentheorie versah. Sie wies auch auf die Arbeit des US-Konzeptkünstlers Douglas Huebler hin sowie den Fischli/Weiss-Film «Der geringste Widerstand» (1980), in welchem die beiden als Ratte und Bär verkleidet staunend durch die Welt wandern.

Stills aus Elodie Pongs Arbeiten «xy» (links), «Secrets for Sale» (Mitte) und «Empire xy» (rechts)

Stills aus Pongs Arbeiten «Ersatz», «Secrets for Sale» und «After the Empire» (v. l.).

Pongs Video «After the Empire» (2008) erweist sich als die wunderbare Praxis, zu der die Theorie passt. In diesem Werk arbeitet sie mit Tänzern und Performern, die in die Rollen von Ikonen wie Marilyn Monroe, Elvis, Batman, Mickey Mouse oder Karl Marx schlüpfen. In einem humorvollen Mix aus anspielungsreichen Zitaten, Dialogen, kleinen Szenen, Posen und Songs entfaltet Elodie Pong ein Panorama der westlichen Kultur, ihrer Klischees und Stereotype: Es ist ein visueller Trip, in dem melancholische Momente sich immer wieder mit humorvollen Wendungen abwechseln.

Etwas nachdenklicher wurde es dann, als nach dem gemeinsamen Nachtessen Elodie Pong ihren einstündigen Videofilm «Secrets for Sale» (2003) vorstellte. In einem Bunker hatte die Künstlerin ein Setting aus mehreren Räumen mit Überwachungskameras aufgebaut. Freiwillige wurden dabei gefilmt, wie sie einer nach dem anderen von einer Stimme aus dem Off angeleitet wurden, vor der Kamera ihr persönliches Geheimnis zu erzählen. Dabei konnten sie sich wahlweise hinter einer Maske verbergen, die Stimme verzerren lassen oder auch ganz ohne Anonymisierung auftreten. Nach der häufig intimen, manchmal peinlichen und oft emotional vorgetragenen Offenlegung ihres Geheimnisses betraten die Protagonisten den letzten Raum der Installation. Dort trafen sie die Künstlerin, die über das Honorar verhandelte. Zehn Schweizer Franken empfanden viele als angemessen. Andere versuchten, einen höheren Preis für ihr Geheimnis herauszuschlagen. Erstaunlich: Ob sexueller Missbrauch, die Angst vor dem Tod oder das schlechte Gewissen einer Hobbygärtnerin, die Maulwürfe tödlichen Gefahren aussetzt – Geheimnisse vor der Kamera preiszugeben und als Teil einer Kunstaktion zu verkaufen, war für die rund 700 Personen, die Elodie Pong ursprünglich für ihr Video gecastet hatte, offenbar kein Problem. Der Zuschauer jedoch wird in ein Wechselbad der Gefühle zwischen Anziehung und Abstossung, Mitleid und Schadenfreude, Voyeurismus und Fremdschämen versetzt. Am Ende räumte auch Pong ein, dass sie die Arbeit an diesem Film als emotional belastend empfunden habe.

Gerda lenzlinger & Jörg Steiners Arbeiten «Seelenwärmer», «Lift Up» und «Jardin de Lune»

Steiners und Lenzlingers Arbeiten «Seelenwärmer», «Lift Up» und «Jardin de Lune».

Der Samstagvormittag gehörte dann ganz dem Basler Künstlerduo Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger, das auch für das Hotel Castell vor einigen Jahren eine Installation im Jägerstübli realisiert hatte. Die beiden Schweizer sangen zur Einstimmung ein mundartliches A-cappella-Lied, bevor sie ihre Präsentation mit frühen Arbeiten starteten. Schon in ihren ersten Kooperationen zeigt sich ihr ausgeprägter Humor und ihr Sinn für Details und ortsspezifische Situationen: Man erinnerte an die «Lift Ups», die während einer Reise um die Welt entstanden. Gerda Steiner hob dabei Personen, die sie während ihrer Reise traf, in die Höhe, während Jörg Lenzlinger auf den Auslöser drückte. Einen korpulenten Schiffskapitän schulterte die Künstlerin ebenso wie einen schmalen Inder.

Traumwandlerische Kombinatorik könnte man das Arbeitsprinzip der beiden nennen, die den Betrachter in eine fantastische Gegenwelt entführen – nicht selten indem sie ganze Räume mit gartenähnlichen Installationen verwandeln. Im Bündner Kunstmuseum Chur arbeiteten Steiner und Lenzlinger im Jahr 2013 eng mit dessen Direktor Stephan Kunz zusammen. Er lud das Künstlerpaar ein, in den Räumen des ehemaligen Naturhistorischen und Nationalparkmuseums die letzte Ausstellung vor dem Abriss des Gebäudes zu realisieren. Die beiden verwandelten das alte Gebäude in eine Wunderkammer aus Sammelsurien und Fundstücken, die langsam dem Verfall ausgeliefert war. Programmatisch war auch die Ausstellungsdauer: vom längsten bis zum kürzesten Tag des Jahres.

Eine Vorschau auf das neue Bündner Kunstmuseum Chur

Eine Vorschau auf das neue Bündner Kunstmuseum Chur: Der grösste Teil der Erweiterung ist unterirdisch.

Dann stellte Stephan Kunz vor, was nach dem Abriss des alten Gebäudes kommt: Den Erweiterungsbau für das Bündner Kunstmuseum Chur. Die Überraschung dabei: Der grösste Teil der neu hinzugewonnenen Ausstellungsfläche wird unterirdisch errichtet. Möglich wurde dieser Bau durch eine private Spende von 20 Millionen  Franken. Aus einem Wettbewerb gingen die spanischen Architekten Barozzi Veiga aus Barcelona als Sieger hervor. Die Eröffnung des Erweiterungsbaus, der das Museum, so hofft Stephan Kunz, in eine andere Liga katapultieren wird, ist für Juni 2016 geplant.

Im Engadin haben sich in den letzten Jahren einige einige Galerien angesiedelt. Der St. Moritzer Architekt Hans-Jörg Ruch, der auch einen Teil des Hotels Castell renoviert hat, hat die Galerien Tschudi und Monica de Cardenas in Zuoz und von Bartha in S-chanf zu attraktiven Ausstellungsorten umgebaut.  Monica de Cardenas empfing in ihrer aktuellen Ausstellung mit kinetischen Objekten, Lichtobjekten und begehbaren Treppenskulpturen des 1993 verstorbenen Mailänder Künstlers Gianni Colombo, die sie in enger Zusammenarbeit mit dessen Estate realisiert hat. Einen Ort weiter in S-chanf in der Galerie von Bartha führte der extra angereiste Künstler Beat Zoderer in seine Ausstellung mit Rasterbildern aus drei Jahrzehnten ein, die zum Saisonstart Ende Juli eröffnen wird, aber bereits gehängt ist. Eine Exklusiv-Preview, das lässt man sich gern gefallen.

JoinedArtweek

Installation von Tadashi Kawamata in der Nähe des Castell, Ruedi Bechtler, Terrassen-Lunch. Fotos Mitte und rechts: Heiko Klaas

Ein Ritual wird bei jedem «Art Weekend» wiederholt. Zur Stunde der Dämmerung trifft man sich im Skyspace von James Turrell etwas oberhalb des Hotelgeländes. Nach wenigen Minuten verstummen die Gespräche. Das nuancenreiche Lichtspiel im steinernen Rund mit der Öffnung zum Himmel versetzt in eine Art Trance. Jemand stimmt ein gesummtes Lied an. Ruedi Bechtler schnalzt mit der Zunge. Es wird Nacht im Hotel Castell. Zeit, das Erlebte in Ruhe auf sich wirken zu lassen.

* Nicole Büsing und Heiko Klaas sind seit 1997 als freie Kunstjournalisten und Kritiker tätig. Sie leben in Hamburg und Berlin. (Bild © Cathryn Drake)

An der ART entdeckt

Ewa Hess am Dienstag den 23. Juni 2015

Vieles wird am heutigen entfesselten Kunstmarkt kritisiert, auch von mir, doch eine der Nebenerscheinungen finde ich wunderbar: Die Neigung der Galerien, bisher verkannte Künstlerinnen und Künstler wiederzuentdecken. Der Markt ist trocken, die Käufer suchen Qualität, der Nachschub von tollen Werken, historischen oder aktuellen, ist beschränkt. Und so kommt es, dass man nochmals nach hinten schaut und oft auf diese Weise die Ungerechtigkeit der Geschichte korrigiert. Denn ja, es gibt Künstler, die so ungewöhnlich, so avantgardistisch oder so scheu bzw. widerspenstig sind, dass sie zu ihrer Lebzeit übersehen werden. Und, falls sie schon tot sind, auch später im Verborgenen bleiben. An der am Sonntag zu Ende gegangenen (tollen) Art Basel, bei der die Messeleitung die Galeristen explizit ermuntert hat, hochwertige historische Kunst mitzubringen, gab es für mich in dieser Beziehung richtige Offenbarungen. Ich teile sie mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser von Private View. Als Inspiration und auch als Tipp, falls Sie etwas Spielgeld zur Verfügung haben und es gegen Zeugnisse ephemerer Schönheit und exemplarischer Lebenshaltung tauschen möchten.

Ray Johnson (1927-1995), der Erfinder von Mail Art und so manchem anderen

Ray Johnson (1927-1995), der Erfinder von Mail Art und so manchem anderen.


 

Beginnen wir mit Ray Johnson. Ich sah eine wunderschöne Collage von ihm am Stand der New Yorker Galerie Richard L. Feigen & Co., die auch seinen Nachlass verwaltet. Der 1927 geborene Künstler war ein Wegbereiter für verschiedene Kunstströmungen. Seine Werke der 1950er-Jahre erinnern an Pop Art  (Jahre vor seinem Freund und manchmal Rivalen Andy Warhol). Johnson machte Performances, bevor es diese Bezeichnung überhaupt gab. Konzeptkunst, damals noch kaum vorhanden und heute praktisch Alleinbeherrscherin der Szene, war sein Sandkasten. Auch wenn er sich später über ihre gezierten Possen lustig machte (und uns allen, die wir des prätentiösen Konzeptkunst-Kauderwelschs müde sind, schon damals aus dem Herzen sprach). Und er war der Erfinder der Mail-Art, die damals den Gang zum Briefkasten bedingte. Johnson verbreitete seine Collagen und sibyllinischen Texte, indem er sie an ein riesiges Netz von Künstlerkollegen, Freunden und Fremden verschickte und diese ermunterte, den Ball seiner Inspiration aufzunehmen. Erinnert uns das an etwas? Ja, Johnson war ein analoges Social Medium, bevor es das Internet gab.

Ray Johnson «Untitled (Send to Brain Surgeon I)», 1974-76-1980-1985-1993-94,  collage, 38.10 x 38.10 cm., 30,000 Dollar

Ray Johnson «Untitled (Send to Brain Surgeon I)»

Vor zwanzig Jahren, an einem klirrend kalten Januartag, sprang Ray Johnson von einer Brücke im schönen Sag Harbor in den Hamptons, schwamm ins Meer hinaus und ertrank. Zwei Teenager sahen ihn springen und wollten die Polizei benachrichtigen, fanden aber den Polizeiposten nicht und gingen, anstatt das Leben des Unbekannten zu retten, ins Kino (das hätte ihm bestimmt gefallen). Erstaunlicherweise geschah das zu einem Zeitpunkt, als sein kommerzieller Erfolg gerade einzusetzen begann – was er nie suchte und sogar aktiv verhinderte, etwa als er 1990 von der Galerie Gagosian umworben wurde. Er war befreundet mit fast allen Grössen der amerikanischen Avantgarde jener Zeit, schon seit seiner Zeit am Black Mountain College, der avantgardistischen Kunstschule in North Carolina, der die amerikanische Kunst fast alles verdankt (ich erwähne hier nur die Namen einiger seiner Kommilitonen: John CageMerce CunninghamWillem de KooningBuckminster Fuller).

In den vergangenen Jahren begann Johnsons Ruhm stark zu wachsen, es gab Bücher, Artikel, Ausstellungen (alles, inklusive einer Timeline und schönen Videodokumenten) findet man auf der Website seines Nachlasses hier). Er wird ein Schwerpunktthema des Festivals Performa (NY) im November sein, und die Museen stehen offensichtlich Schlange bei Feigen, wie mir die nette Galeriedame an der Art erzählt hat. Dennoch, sagt sie, lagern noch stapelweise Kisten mit noch unbearbeitetem Material in einem unbenutzten Badezimmer der Galerie in New York, Arbeit genug für mehrere Generationen von Kunststudenten. So reich war das Lebenswerk dieses «Unbekannten».

Ray Johnsons Mail Art, Beispiele seines unnachahmlichen Humors

Ray Johnsons Mail Art, Beispiele seines unnachahmlichen Humors.

Die Arbeiten von Ketty La Rocca waren mir ebenfalls nicht bekannt – ich sah einige am Stand der Düsseldorfer Galerie Kadel Willborn. Sie haben mich sofort mit ihrer scheuen Grazie erobert. Ketty, was ich nicht wusste,  gehört zu den wichtigsten ersten Konzeptualisten in Italien. Sie starb 1976 mit nur 38 Jahren, und obwohl es nachher einige Retrospektiven gab, wurde ihr Name nicht allgemein bekannt. Schade! Überhaupt, die Italiener jener Zeit, aus den 60er- und 70er-Jahren, haben Kunst geschaffen, die ihrergleichen weit suchen muss. Ich denke daran seit meinem Besuch bei der Fondazione Prada Milano, weil die Bertelli-Pradas so viele tolle Werke in ihrer Sammlung haben. Viele dieser Künstler sind mittlerweile zu Marktstars geworden, wie Lucio Fontana oder Giuseppe Penone. Aber es gibt (gerade auch im konzeptuellen Bereich) noch so viel zu entdecken.

Ketty La Rocca und ihre Sprache der Hände

Ketty La Rocca und ihre Sprache der Hände.

Aber zurück zu Ketty. Sie entwickelte eine neue Sprache, die mit Händen zu tun hatte. Sie untersuchte deren Ausdrucksstärke, beschriftete sie mit Wörtern und versuchte, diese neue Kommunikationsmethode der existierenden Sprache entgegenzusetzen. Für die Frauen sei heute keine Zeit der Erklärungen, schreibt sie 1974 aus ihrer feministischen Perspektive, die hätten zu viel zu tun und überdies nur eine Sprache zur Verfügung, die ihnen fremd und feindlich sei. Sie seien der Gesamtheit beraubt bis auf die Sachen, die niemand beachte, und das seien viele, auch wenn sie geordnet werden müssten: «Die Hände zum Beispiel, zu langsam für weibliche Fähigkeiten, zu arm und zu unfähig, um das Hamstern fortzusetzen; es ist besser, mit Worten zu sticken.» Ich musste natürlich auch an die Arbeit Judith Alberts in der Grossmünster-Krypta denken, die ich vor drei Wochen hier vorgestellt habe und die eine weibliche «Händesprache» dem männlich geprägten Evangelium hinzufügt.

ketty La Roccas Werk «Il Mio Lavoro» von 1973 basiert auf einem Foto, in dem sie sich selber in ihrem Atelier aufgenommen hat und dann die Umrisse des Fotos mit Handschrift-Notizen nachgezogen hat. Es ist schon verkauft, der Preis war um die 20 000 Euro.

Ketty La Roccas Werk «Il mio lavoro» von 1973 basiert auf einem Foto, in dem sie sich selber in ihrem Atelier aufgenommen hat und dann die Umrisse des Fotos mit Handschriftnotizen nachgezogen hat. Es ist schon verkauft, für um die 20’000 Euro.

Kadel Willborn hat eine schöne schmale Publikation zu Ketty La Rocca herausgegeben, die den wunderbar poetischen Titel trägt: «The you has already started at the border of my I.»

Vito Acconcis Beiss-Performance

Vito Acconcis Beiss-Performance «Trademarks».

Die dritte Position, von der ich heute erzählen möchte, habe ich schon gekannt. Ich habe sie bei Grieder Contemporary vor einem Jahr nochmals gesehen, doch damals konnte ich dem Werk nicht genug Ehre erweisen. Jetzt war Damian Grieder mit seiner Acconci-Präsentation in Basel (in der «Features»-Sektion) und ich war wieder restlos begeistert. Vito Acconci ist heute 75 Jahre alt und ähnlich wie die zwei oben Beschriebenen prägte er die 70er-Jahre mit seinen Gedichten, Aktionen und Konzepten. Mit «Seedbed» (1972) hat er seine Karriere begründet. Achtzehn Tage lang lag Acconci unsichtbar unter einer Holzrampe in der Galerie Ileana Sonnabend. Besucher konnten ihn nicht sehen, aber aus dem Lautsprecher hören. Es wurde gemunkelt und den Geräuschen nach schien es wahrscheinlich, dass der Künstler dort unten masturbierte, während er Ungehöriges über die über ihn wandernden Galeriebesucher murmelte. Der heilige Nimbus einer Kunstgalerie wurde ganz gehörig erschüttert.

Bei Grieder sind von Acconci persönlich adnotierte Fotografien seiner diversen Aktionen zu sehen. Etwa: «Trademarks». Da hockt er im Schneidersitz vor einer weissen Wand und beisst sich in alle Körperteile, die er erreicht. Detailfotos zeigen einige der Bissspuren, die er sich 1970 in seinem Atelier zufügte. Weil ich direkt von Ketty La Rocca kam, musste ich daran denken, wie spektakulär es war, eine solche Performance von einem Mann vorgeführt zu bekommen. Die Beschäftigung mit dem eigenen Körper und Auto-Aggression waren für lange Zeit das verschämte Spielfeld der Frauen. Die Integration dieser Elemente zeigt eine besondere Sensibilität des Künstlers. Seit den 1980er-Jahren hat er sich übrigens ganz der Architektur und dem Design zugewandt,  mit dem Ziel, zukunftsweisende, partizipatorische Architektur-Kunst-Projekte durchzuführen.

Die Höhe der Eierstöcke

Ewa Hess am Dienstag den 9. Juni 2015

Ein heller Sommerabend lag auf dem Löwenbräu-Areal wie eine warme Babydecke. Es war die Ruhe vor dem Sturm, denn am kommenden Wochenende ist das Zurich Contemporary Weekend – das Wochenende vor der Art Basel. Dem Rummel zuvorkommend, haben die Galerien Gregor Staiger und Freymond-Guth schon letztes Wochenende eröffnet. Ihre zwei ganz unterschiedlichen, tollen Ausstellungen haben davon profitiert – wir konnten uns auf sie voll und ganz einlassen. Es gab dabei zwei herrlich unangepasste Frauen zu entdecken.

Was: «Moonblood/Bloodmoon», Lucy Stein bei Gregor Staiger,
«Sono Vietate Le Discussioni Politiche», Dani Gal bei Freymond-Guth Ltd. Fine Arts
Wann: Eröffnung war am Freitag, 5. Juni, Dauer Stein bis 18.7., Dauer Gal bis 4.7.
Wo: Beide im Löwenbräu, Gregor Staiger Limmatstrasse 268, Freymond-Guth Limmatstrasse 270

Ein Marmorblock mit der Inschrift «sono vietati gli discussioni politici» von Dani Gal, Galerist Jean-Claude Freymond-Guth und sein Hund, Werke von Lucy Stein in der Galerie Gregor Staiger

Ein Marmorblock mit der Inschrift «Sono vietate le discussioni politiche» von Dani Gal, Galerist Jean-Claude Freymond-Guth (und sein Hund), Werke von Lucy Stein in der Galerie Gregor Staiger

Der Grund, weshalb ich von zwei Frauen spreche, obwohl Dani Gal ja ein männlicher Künstler ist, liegt daran, dass wir das Werk von Gal schon seit einer Weile kennen und bewundern – er ist ja einer der interessanteren Künstler, die im blinden Winkel zwischen Geschichte und Kunst Wahrheiten aufdecken, die zugleich historisch und auch brandaktuell sind. Dani Gal kannte ich also, nicht aber seine neuste Arbeit, die sich «A Woman of Valor» nennt und ein filmisches Porträt der 90-jährigen Menschenrechtsaktivistin Hedy Epstein ist. Ich habe – mea culpa – noch nie von Frau Epstein gehört, und ich bin froh, diesen Mangel nun behoben zu haben. Die Holocaust-Überlebende setzt sich für Entrechtete ein, und zwar aller Nationalitäten und Couleurs. Sie nahm am International Gaza Freedom March teil und wurde erst letztes Jahr erneut verhaftet, als sie an einer Demonstration gegen die Polizeiwillkür in Ferguson (USA) teilnahm.

Hedy Epstein bei ihrer Verhaftung während der Ferguson-Demo in St. Louis, als sie für Gaza einen Hungerstreik machte, in Dani Gals schönem Film «A Woman of Valor», 2015

Hedy Epstein bei ihrer Verhaftung während der Ferguson-Demo in St. Louis (links), beim Hungerstreik für Gaza (Mitte), in Dani Gals schönem Film «A Woman of Valor», 2015.

Die andere Frau ist Lucy Stein, eine junge englische Künstlerin mit vielerlei Begabungen, die wie eine Filmheldin aussieht und auf eine ebenso britische wie kluge Art den vielen Klischees, die es über Kunst von Frauen gibt, ein Schnippchen schlägt. Bei Gregor Staiger sind ihre neuen Malereien ausgestellt – sie sind, ganz abgesehen von allen Interpretationen und Bedeutungsspielen, auch sehr schön anzusehen – leicht pastos, an der Grenze zur Figuration flimmernd, formal ausufernd.

Lucy sagt gerne provokante Sachen, etwa dass sie es mag, wenn ihre Werke wie «am Rande eines hysterischen Anfalls» aussehen. Was im vorliegenden Fall insofern präzise zutrifft, als die quadratischen Gemälde laut der Auskunft, die sie mir selbst an der Vernissage in ihrem sympathisch lispelnden Englisch gab, eine «Eierstock-Energie» zum Ausdruck bringen. Die Werke sind übrigens auf halber Höhe an der Wand aufgehängt, damit der Dialog mit dem besagten Organ direkt stattfinden kann. Ich kam müde nach einer hektischen Woche in die Galerie – nennt es Selbstsuggestion, wenn ihr wollt –, aber die Begegnung mit dieser Kunst hat mich erholt. (Das tut aber die Begegnung mit guter Kunst oft, auch ohne den Umweg über die Eierstöcke.)

Lucy Stein (Mitte) und ihre Werke - Marie Lusa reicht ihr ein Bier

Ein multibegabtes freies Wesen: Lucy Stein (Mitte) und ihre «Moonblood»-Werke.

Hedy Epstein und Lucy Stein, die eine 1924 in Kippenheim, Süddeutschland, geboren, die andere eine 1979 zur Welt gekommene Professorentochter aus Oxford: Sie haben mich beide an diesem friedlichen Abend in Zürich mit Bewunderung für unangepasste weibliche Lebenshaltungen erfüllt. Wie viel Mut braucht eine Holocaust-Überlebende, um gegen die unwürdigen Lebensbedingungen der Menschen in Gaza zu kämpfen? Erstaunlicherweise eine ganze Menge. Gerade kürzlich sprach ich mit der Kunsthaus-Kuratorin Cathérine Hug über das «never again», welches nach den Nazigräueln des Zweiten Weltkriegs zu einem Gründungsmythos des neuen, vereinten Europas wurde (in der am 12. Juni beginnenden Kunsthaus-Ausstellung «Europa» ist übrigens auch ein schönes Werk von Dani Gal vertreten). Hedy Epstein geht aber einen riesengrossen Schritt weiter und sagt: «Never again? Soll das denn nur für uns Juden gelten?» Klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Danke für die Erinnerung, Dani Gal und Hedy Epstein.

Die Malerin Lucy Stein andererseits, mit allen modernen Freiheiten ausgestattet (und auch mit dem Wissen um die moderne feministische Theorie), behält sich die Luzidität des Blicks, um die immer noch vorhandenen weiblichen Beschränkungen auf die Schippe zu nehmen. Unter anderem diese: dass eine Frau nicht hemmungslos Frau sein darf. Dass sie immer mit einem rationalen Korrektiv im Hinterkopf dem Klischee von der Furie Frau etwas entgegensetzen soll. Lucy tut es aber nicht, sie geht aufs Ganze. Zelebriert Obsessionen. Wertet das Verachtete auf. Macht sich über die Welt lustig, indem sie auch über sich selber lacht.

Sie ist Dichterin, Musikerin, ein obsessives, multibegabtes freies Wesen. «Moonblood, Bloodmoon» nennt sie ihre Schau bei Gregor Staiger. Dazu legt sie ein Gedicht auf: «I bled Moonblood as we passed though the threshold, without asking permission…» Schwellen passieren, ohne um Erlaubnis zu fragen? Genau.

Löwenbräu-Terrassenstimmung: Ugo rondinones Werk vor dem Abendhimmel, Künstler Dani Gal, Oscar Weiss mixt Pimm's

Löwenbräu-Terrassenstimmung: Ugo Rondinones Werk vor dem Abendhimmel, Künstler Dani Gal (Mitte) , Oscar Weiss mixt

Als wir, erquickt von der Begegnung mit Mut, Engagement und Schönheit, danach auf der Terrasse des Löwenbräu sassen, war den meisten philosophisch zumute. Der Himmel glühte sanft, Ugo Rondinones Regenbogenschrift «Love Invents Us» bekam vor den rosa Wolken im Hintergrund eine fast überirdische Intensität. Kunsthistorikerin Laura Arici diskutierte mit Galerist Gregor Staiger über die Schriften von Kunsttheoretikern, Migros-Museum-Kurator Raphael Gygax lachte mit dem Zeichner Marc Bauer, Künstlerin Loredana Sperini war da, natürlich auch Dani Gal und Lucy Stein, die ein Stipendium der Tate St. Ives hat und bereits wenige Tage später bei einer Riesenveranstaltung in Cornwall die Gastgeberin spielen sollte. Ich selbst hatte ein langes Gespräch mit der Keramikerin Grazia Conti Rossini Schifferli, auch Modemacherin Sissi Zöbeli vom Modelabel Thema Selection war da (ich hatte eine Bluse von ihr an) und der Kunstexperte der Stadt, Alex Ritter. Zu den Würstchen vom Grill gab es von Oscar Weiss gemixte Pimm’s-Cocktails… Schön wars.

Zur Ausstellung Moonblood/Bloodmoon  gibt es übrigens eine wunderbare schmale Publikation «Feminax», erschienen in 1000 Exemplaren – die Grafikerin Marie Lusa gehört gemeinsam mit Gregor Staiger zum starken Duo hinter dem Programm der Galerie

Das Judith-Evangelium

Ewa Hess am Dienstag den 2. Juni 2015

Am Anfang war das Wort. Wirklich? In der Krypta des Grossmünsters ist das Wort gerade Kunst geworden. Als eine Schrift an der Wand, von einer fleissigen Frauenhand angebracht. An der Eröffnung der jährlichen «Kunst in der Krypta»-Ausstellung bezeichnete sich der Eröffnungsredner Christoph Vögele als «Kunstvermittler, also Seelsorger». Ist entlang dieser Logik Kunst Gebet? Manchmal schon, finde ich. Was denken Sie?

Was: Die Installation «Prolog» in der Krypta des Grossmünsters in Zürich – «Kunst in der Krypta No 3»
Wo: In der Kellerkrypta der Kirche, dort, wo man die Statue Karls des Grossen bestaunen kann
Wann: Eröffnung war am Donnerstag, 28. Mai, die Ausstellung dauert bis am 2. Juli

Zürichs Wahrzeichen Grossmünster und seine von Karl dem Grossen bewachte  Krypta

Zürichs Wahrzeichen Grossmünster und die von Karl dem Grossen bewachte Krypta.

Liebe Leserinnen und Leser, vor genau einem Jahr habe ich von der Installation Mario Salas im Grossmünster berichtet (hier), die mich sehr beeindruckt hat. Und auch dieses Jahr hat Pfarrer Martin Rüsch eine denkwürdige Wahl getroffen. (Künstler Peter Radelfinger und Kuratorin Bigna Pfenninger waren auch  daran beteiligt). Kennen Sie Judith Albert? Die Künstlerin lebt jetzt in Zürich, stammt aber aus Obwalden; eine Aura der mythischen Bergregion umgibt sie wie der Duft einer frisch gemähten Heuwiese. Sie ist eine Poetin, ihre Videos sind oft wie kleine Gedichte, die sich den einfachen Sachen zuwenden. Faule Äpfel etwa, die sie am Strassenrand findet. Sie hebt sie auf und schneidet sie im Video mit ihrer schönen grossen Hand entzwei. Abstrakte Schönheit der fortschreitenden Verwesung marmoriert das Fruchtfleisch, das Fallobst wird zum Abbild von… Ja, wovon? Von der Vergänglichkeit des Lebens ebenso wie vom verschwenderischen Reiz des Unnützen. In letzter Zeit hatte Judith Albert in Gruppenausstellungen auch Auftritte als Neo-Dadaistin gehabt, etwa mit einem Video, in dem sie sich beinahe nackt und nur in Gesellschaft eines grossen Kraken räkelt.

Videoarbeiten von Judith Albert: Vallotton nachempfundene «Nude with an orange scarf”, 2009 und «Vanitas II», auch 2009

Videoarbeiten von Judith Albert: Vallotton nachempfundene «Nude with an Orange Scarf», 2009, und «Vanitas II», 2007.

In der Krypta zeigt sich Frau Albert als eine gewiefte Theologin, treibt sie doch ein raffiniertes Spiel mit der Heiligen Schrift und ihrer Auslegung. (Kein Wunder übrigens, sie hat schon mal, gemeinsam mit ihrem Team, die ästhetische Erneuerung der wunderbaren Solothurner Kathedrale betreut. Dort kann man den zentralen Tisch mit einem Tischtuch aus weissem Marmor bewundern. Das steinerne Tuch sieht mit seinen Bügelkanten und Stickereien so aus, als ob es gerade frisch aus dem Wäscheschrank käme, sehr schön.) Aber eben: In der Zürcher Krypta, unter den Wahrzeichen-Doppeltürmen… Ich weiss nicht, ob Sie schon mal dort waren. Es ist ein karger Raum mit Säulen, Bögen und diffus hereinscheinender Morgensonne, dominiert von einem grossen Kerl, Karl dem Grossen, Schwert und Zepter inklusive.

Keine Konkurrenz zu Karl, viel mehr eine leise Subversion

Keine Konkurrenz zu Karl, viel mehr eine leise Subversion

Pfarrer Rüsch hat uns später verraten, dass es für die Kunstinstallationen schwierig ist, die dominante Stellung Karls des Grossen in der Krypta zu konkurrieren. Mario Sala hat es letztes Jahr ganz gut geschafft, indem er seine Eierschalenschnüre von Karls Kopf zum heiligen Knäckebrot im Fenster spannte und so die Energie tatsächlich von der weltlichen Figur in Richtung einer Himmelsmacht lenkte. (Auch wenn die Eierschalen offensichtlich nicht bei allen Kirchgängern beliebt waren, hörte ich am Donnerstag – einigen waren sie zu trivial, sie liessen sie eher ans Rührei zum Frühstück denn an den Ursprung allen Lebens denken. Im Ei ist aber beiderlei Symbolik drin, wenn also manche ans Frühstück anstatt an Höheres dachten, wird das wohl an ihnen selbst gelegen haben.)

Judith Albert aber – halten Sie das für weibliche List, wenn Sie wollen – versucht es gar nicht erst mit der Konkurrenz. Ihre Videoarbeit «Prolog» ist von subtil-subversiver Natur. Zwei Bildschirme, diskret, doch perfekt in die Symmetrie der Säulen komponiert, zeigen die Hände der Künstlerin, die den ersten Satz des Johannesevangeliums aus Folienbuchstaben als eine Leuchtschrift «bastelt». «In the beginning was the Word» heisst der Satz – am Anfang war das Wort. Und hier schon geht es mit dem Vexierspiel los, denn Alberts Arbeit funktioniert auch als Bild. Die Buchstaben, die sie verwendet, klebt sie sich nämlich auf die Hand, und um sie in den Satz einzufügen, löst sie sie von der Hand mit einer Nadel. Ein sehr sinnlicher Vorgang, denn die Haut der Hand kommt ein bisschen mit, hebt sich, bevor die Buchstaben losgelöst werden. Der Loop ist acht Minuten lang, man könnte aber auch länger schauen, denn die Sache versetzt einen in eine leichte Trance.

«Prolog»: Buchstaben auf der Hand,  die Künstlerin und ihre Schwester Ruth, Jacqueline Burckhardt diskutiert mit Peter Radelfinger

«Prolog»: Buchstaben auf der Hand (Grafik der Begleitpublikation:Prill Vieceli Cremers), die Künstlerin und ihre Schwester Ruth, Jacqueline Burckhardt diskutiert mit Peter Radelfinger

Schon unten in der Krypta begannen die Diskussionen. Die Kunsthistorikerin Jacqueline Burckhardt, eine der beiden legendären Chefinnen der Kunstzeitschrift «Parkett» (die andere ist Bice Curiger), äusserte mir gegenüber einen leisen Zweifel, ob das Wort am Anfang überhaupt stehen kann, denn es müsse sich doch schon eine Form aus dem Chaos erheben, damit ein Nennungsprozess überhaupt in Gang kommen kann. Ich, die ich ganz und gar dem Wort gehöre, hielt dagegen. Mit dem Argument, dass eine Nennung die Form erst möglich mache. Frau Burckhardt wird übrigens am 2. Juli ein Publikumsgespräch im Grossmünster bestreiten.  Im Parkett-Verlag ist auch ein Buch über die Polke-Fenster des Grossmünsters herausgekommen. Man kann es hier bestellen. Oben, im Hauptraum der Kirche, ging es mit der Diskussion weiter. Christoph Vögele, der sympathische Konservator des Kunstmuseums Solothurn, wies uns darauf hin, dass Alberts Werk sehr präzis auf das Grossmünster zugeschnitten ist, gehörte doch die buchstabengetreue Auslegung der Bibel zu den Hauptanliegen Huldrych Zwinglis, der von hier aus die Deutschschweizer Reformation anführte.

Augusto Giacometti und Sigmar Polke (links) haben die Fenster des Grossmünsters entworfen

Augusto Giacometti und Sigmar Polke (links) haben die Fenster des Grossmünsters entworfen

«Qualität des Kunstwerks ist das Allerwichtigste», sagte Pfarrer Rüsch, der zum Thema «Kunst im sakralen Raum» soeben einen Aufsatz im neuen «Visarte»-Heft veröffentlicht hat und bevor er Pfarrer wurde Kunst studiert hat. Damit wollte er wohl andeuten, dass, gerade wenn man in einer Kirche ausstellt, keine Kitschkunst erlaubt sei. Er hat gut reden! Sein bildlos wunderschönes Münster, wo man zwischen den wunderbaren Augusto-Giacometti-Fenstern und den neuen, nicht weniger erhebenden Sigmar-Polke-Fenstern betet, ist da ein stolzes Vorbild. Mir lag die Frage auf der Zunge, was der Grossmünster-Pfarrer zu Christoph Büchels Installation in Venedig sagt – Private View hat berichtet. Darf man das, eine Moschee in einer ehemaligen Kirche als Kunstprojekt einrichten? Wenn Sie sich dazu äussern mögen, Herr Pfarrer, bitte sehr. Es interessiert uns. Die Kommentarspalte heisst Sie willkommen.

Kunstmuseum-Solothurn-Chef und Eröffnungsredner Christoph Vögele im Gespräch mit Grossmünster-Pfarrer Martin Rüsch, Künstlerinnen Elodie Pong und Judith Albert

Kunstmuseum-Solothurn-Chef und Eröffnungsredner Christoph Vögele im Gespräch mit Grossmünster-Pfarrer Martin Rüsch, Künstlerinnen Elodie Pong und Judith Albert.

Wir standen um den Tisch mit Brot und Wein (wobei das Brot ein knusprig gebackenes Früchtebrot war) und kamen auch auf leichtere Themen. Die Künstlerin Elodie Pong und die Filmemacherin Anka Schmid waren da – Schmids schöner neuer Dokfilm über Frauen, die wilde Tiere zähmen, «Wild Women – Gentle Beasts», kommt im Herbst in die Kinos. Premiere war im April in Nyon – die Kritik war begeistert. Schmid und Peter Radelfinger, hat sich herausgestellt, haben gemeinsam an der ZHdK einen Kurs über den «Kuss im Film» bestritten. Ein gutes Thema! Auf meine Bitte hin haben die beiden Dozenten eine züchtige Demonstration des Seminarthemas gewagt. Peter Radelfinger hatte übrigens gerade die Vernissage seines neuen Buchs «Falsche Fährten» (Edition Patrick Frey) hinter sich. Ein denkwürdiges Buch, in das er alles reinpackt, was er seit Jahrzehnten so als «Material» sammelt. Fantastisch, doch der Titel weist schon darauf hin, dass das unmittelbare Erleben der Königsweg zur Erkenntnis ist und bleibt. Doch davon vielleicht ein anderes Mal, liebe Gemeinde.

Die Vorführung des Seminarthemas: «The kiss» by Anka Schmid & Peter Radelfinger

Die Vorführung des Seminarthemas: «The Kiss» by Anka Schmid und Peter Radelfinger.