Das Märchen von den zwei Bars

Ewa Hess am Dienstag den 31. März 2015

Es gab einmal… zwei Bars. In Zürich. Die eine war aus Abfall, die andere aus Mahagoni. Die eine war im ehemaligen Drögelerquartier, die andere am Bellevue. Beide waren cool. Und Künstler liebten sie beide. Und dann haben die beiden Bars kurz entschlossen (fast) die Rollen getauscht. Sie sehen: Es ist eine Geschichte wie die von der Gold- und der Pechmarie.

Wann: am Freitag, 27.3.2015, in Zürich
Was: Eröffnung der Roth-Bar bei Hauser & Wirth und einer der letzten Abende in der Krönlihalle-Bar

Ach, Zürich. Eine Stadt, die es faustdick hinter den Ohren hat. Meistens kann sie ja nicht aus ihrer Haut heraus. Selbst wenn sie ausflippt, geschieht es nach Plan. Man flippt von da bis dorthin aus. Und während mans tut, misst man das Ausmass des Exzesses millimetergenau mit einem Lineal nach. Doch, liebe Leserinnen und Leser, auch wenn sie jetzt denken, das sei kein richtiger Spass: Im besten Fall ist dieses Planen und den-kühlen-Kopf-Behalten genau das, was der Doktor zwecks besonders raffinierten Amüsements verschrieben hat.

Am Freitag war das so. Denn die Galerie Hauser & Wirth (H&W) der Power-Player unter den Löwenbräu-Galerien, mittlerweile mit riesigen Spaces in London, New York, Somerset und anderswo vertreten, hat beschlossen, sich an ihre Gründerzeit zu erinnern. Also an die späten Achtzigerjahre, Zürichs wilde – nicht die wildeste, aber wildere als jetzt – Zeit. Die Zeit, als die Galerie auf Wunsch des Künstlers Dieter Roth eine Bar an der Fabrikstrasse betrieb. Die aus lauter altem Krempel bestand.

Dieter Roths «Economy Bar» in den Räumen der Galerie Hauser & Wirth im Löwenbräu

Dieter Roths «Economy Bar» in den Räumen der Galerie Hauser & Wirth im Löwenbräu.

Die Bar von der Fabrikstrasse wurde später aueinandergenommen und nachgebaut und stand einige Zeit in der Zürcher Wohnung von Manuela und Iwan Wirth. Man nannte sie «Bar 2». Dann gab es andere Bars, dieser nachempfunden. In Zürich wurde am Freitag die sg. «Economy Bar» eröffnet. Ich weiss nicht, ob Dieter Roth zufrieden gewesen wäre. Dieser tolle Künstler ging ja immer an die Schmerzgrenze, seine Happenings gingen so weit, dass jeden im Raum ein bedrohlicher existenzieller Schwindel ergriff. Doch die Wiedereröffnung seiner Bar in den Räumen der Galerie war nach den Massstäben von uns Normalsterblichen ein tolles Fest. Die Stadtpräsidentin Corine Mauch hielt eine Rede, und man merkte es ihr richtig an, dass sie am liebsten die neue Bar für illegal erklärt hätte – nicht aus Abneigung oder Formalismus, sondern nur damit sie noch echter sei. Leider geht das nicht. Die eidg. bewilligte Illegalität wurde noch nicht erfunden, und, um ehrlich zu sein, es ist gut so. Unser zivilisatorisch fortgeschrittenes Leben hat auch so genug Widersprüche in petto.

(l.n.r.) DJ Untitled Campolongo, Björn Roth, Schauspieler und Performer Martin Engler

DJ Untitled Campolongo, Björn Roth, Schauspieler und Performer Martin Engler (v. l. n. r.).

DJ Untitled Campolongo legte dann Afrika Bambaataa und Shango Message auf (Vinyl natürlich), auf den Bildschirmen liefen alte Startrek-Videos, der deutsche Schauspieler Martin Engler intonierte Dieter Roths «Mayonnaisen-Ballade», während der Enkel Oddur Roth sich mit dem so besungenen Lebensmittel bekleckerte. Der Sohn Björn Roth inspizierte alles, indem er freundlich lächelnd auf und ab spazierte. James Koch (ehemals Fondation Beyeler, jetzt H&W) und Kollege Florian Berktold hüteten als perfekte Gastgeber im Gedränge die Honoratioren, und sogar der oberste Boss Iwan Wirth, sonst überall auf der Welt anzutreffen, war persönlich anwesend und tauschte sich von Ohrmuschel zu Flüstermund (wegen des Lärms) mit dem Art-Basel-Chef Marc Spiegler aus.

Zwei Mal Mayo: In der Performance von Oddur Roth als Duschmittel, auf dem Hot-Dog-Stand El Companero als Ziermittel für Würstchen

Zweimal Mayo: In der Performance von Oddur Roth als Duschmittel, auf dem Hot-Dog-Stand El Companero als Ziermittel für Würstchen.

Doch nach und nach, muss ich hier petzen, schlichen die Gäste aus der veredelten Prolo-Bar raus und pilgerten an einen anderen Ort (manche Dame auf ihren High Heels leicht hinkend), um einem umgekehrten Phänomen Tribut zu zollen: der aus Trash nachgebauten Edelbar! Ich tat es ihnen nach und erlebte mein blaues Wunder (ähm, pardon, eher grünes). Ein Grüppchen privater Aficionados hat die Kronenhalle-Bar perfekt, wenn auch im leicht kleineren Massstab ganz anderswo nachgebaut. Fantastisch! Sie heisst Krönlihalle-Bar und ist fast ununterscheidbar. Alles wie in der richtigen, von Trix und Robert Haussmann genial entworfenen Bar an der Rämistrasse 4. Komplett mit Diego Giacomettis Lampen, dem engen Windfang samt Pendeltüre und der Tür darüber, dem Mahagoni und dem langen Tresen, mit Barhockern, die den weiter unten sitzenden Gästen die Hinterteile der Tresentrinker präsentieren. Nur den Mirò über den Marmortischchen hat man etwas schematisch wiedergegeben.

Welche ist richtig, welche falsch? Ich verrate es nicht, aber sicher ist eine der beiden die Krönlihalle-Bar und die andere die richtige Kronenhalle-Bar.

Welche ist richtig, welche falsch? Ich verrate es nicht, aber sicher ist eine der beiden die Krönlihalle-Bar und die andere die richtige Kronenhalle-Bar.

Es war bumsvoll, denn die Krönli gab es nur im März. Es waren letzte Tage. Darum, liebe Leserinnen und Leser, muss ich Sie und Ihre von mir angestachelte Neugier auf später vertrösten. Denn ich bin sicher, dass das Kunstprojekt «falsche Kronenhalle», dieses Wunderding aus Tapete und Plastik, in einer nicht allzu fernen Zukunft im Museum landet. Dann können Sie es auch bewundern. Aber ob sie es so lustig haben werden, wie wir es am Freitag hatten … Ich hoffe es! Vorläufig aber: Schöne Ostern!

Die Krönlihalle-Bar: voll und toll

Die Krönlihalle-Bar: voll und toll

Ah, und übrigens: die Roth-Bar bei Hauser & Wirth hat jetzt zwei Monate lang jeden Donnerstag, Freitag und Samstag offen, ab 18 Uhr bis spät in die Nacht.

Der amerikanische Beuys

Giovanni Pontano am Dienstag den 24. März 2015

Das Werk des US-Amerikaners Paul Thek zählt zu den herausragenden Werken der Kunst nach 1945. Theks Einzigartigkeit für die Kunstgeschichte dieser Zeit ist vergleichbar mit derjenigen von Joseph Beuys. Ebenso wie dieser sprengte er den Werkbegriff und erweiterte die Wahrnehmung von Kunst und Leben. Thek gilt als Paradebeispiel eines «artist’s artist», der seit jeher junge Künstler beeinflusste, aber nicht die gebührende Anerkennung im Kunstmarkt fand.

Was: «Paul Thek – Ponza and Roma»
Wo: Mai 36 Galerie, Rämistrasse 37, Zürich
Wann: Vernissage am Samstag, 21.3., Ausstellung bis 25.4.

Doch seit ein paar Jahren erreicht diese lange nur Insidern bekannte Position weitherum Beachtung. Theks erste grosse Retrospektive fand 2010 im Whitney Museum in New York statt, 2015 zeigt das Boijmans-van-Beuningen-Museum in Rotterdam seine Arbeiten, und die umfangreichste Sammlung von Theks Werken befindet sich heute in dem wunderbar von Peter Zumthor architektonisch konzipierten Kolumba-Museum in Köln. Eine wichtige Ausstellung fand, lange ists her, im Jahr 1995 in der Kunsthalle Zürich statt. Höchste Zeit also für ein Lebenszeichen in Zürich, die Galerie Mai 36 mit ihrem feinen Gespür und ihrem Anspruch an Qualität ist hierfür zweifellos der richtige Ort. Es ist eine Ausstellung von musealem Format. Die meisten Arbeiten wurden zusammengetragen aus privaten Sammlungen oder aus Museumsbesitz, nur weniges ist überhaupt käuflich erwerbbar.

Unmittelbare Lebenskraft

Unmittelbare Lebenskraft: Theks Bilder «Pompeian Grapes», «Fleurs de mal», «Ponza Landscape», alle 1975.

Die ganze Karriere über hat Paul Thek (1933–1988) seine Kunst geflutet mit persönlichen Erfahrungen über die teils heitere, teils traurige Eigentümlichkeit, lebendig zu sein. Die zauberhafte Serie von Arbeiten, die in Italien entstanden sind, zählt eindeutig zur ersten Kategorie, der heiteren. Erschöpft vom Künstlerleben in New York und von grossen internationalen Erfolgen – gleich an zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben der Documenta in den Jahren 1968 und 1972 nahm Thek teil –, zog sich der Künstler nach Rom, im Besonderen aber auf die kleine, südlich von Rom gelegene Insel Ponza zurück. Später kam er immer und immer wieder an denselben Fleck Erde zurück. Von diesen Reisen legt die intime Ausstellung bei Mai 36 Zeugnis ab.

Meer, Meer und immer wieder Meer

Meer, Meer und  Meer: Weitere 1975 auf Ponza entstandene Bilder Paul Theks.

Paul Thek selbst schreibt in einem Brief über seine Arbeit in Ponza, dass dort «eternal painting», eine Malerei für die Ewigkeit, möglich sei, so positiv färbe die Landschaft auf ihn ab. Und das trifft zu, die Werke zeugen von einer unmittelbaren Kraft des Erlebens. Die Natur würde ihn «spirituell und kreativ» nähren, beschreibt der Künstler diesen Zustand. Ohne die Lieblichkeit und Ursprünglichkeit von Ponza, steht in einem der wie Reliquien ausgestellten Skizzenbücher, würde er nicht leben können. Diese Urkraft ist in der Ausstellung spürbar. Der Künstler verwandelt vermeintlich banale Gegenstände wie etwa eine Tomate in eine Abbildung romantischer Sehnsucht nach dem Leben.

Eine intime Ausstellung von musealer Bedeutung

Eine intime Ausstellung von musealer Bedeutung: Aufzeichnungen Theks und Selbstporträtstudien von 1970.

Die Stillleben strahlen eine zarte Gelassenheit aus, mäandrieren aber auch zwischen Symbolik und Objekt, zwischen Verwundbarkeit und Schönheit. Eine noch intensivere Wahrnehmung lassen die Landschaftsabbildungen zu. Meer, immer wieder Meer und dazu die wilde und gleichzeitig liebliche Natur der zerklüfteten Insel. Man kann lange vor diesen Bildern verweilen: Es sind nicht nur Abbildungen, sondern gemalte Erfahrungen von Erlebtem und nun Vergangenem. Ein wunderbarer Tag am Strand stirbt, wenn er für unser Auge nicht mehr sichtbar ist. Der Künstler hält die Essenz davon am Leben.

Die ungewöhnlichsten Architekten

Ewa Hess am Dienstag den 17. März 2015

Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber ich mag Sachen, die ich nicht auf Anhieb verstehe. Sie haben das höchste Inspirationspotenzial. So stand ich am Dienstag euphorisiert im Architekturausstellungssaal am Hönggerberg und schaute leicht überwältigt drein. Es sei eine klassische Architekturausstellung, sagte jemand, weil überall Zeichnungen, Skizzen, Pläne und Fotos hingen, die man erst richtig anschauen musste, bevor man das allgemeine Prinzip verstand. Nachdem ich mich aber im Universum des belgischen Architekturbüros De Vylder / Vinck / Taillieu sorgfältig umgeschaut hatte, musste ich heftig widersprechen. Eine weniger klassische Architekturausstellung kann man sich kaum vorstellen. «Einblick in eine Parallelwelt» kommt der Sache näher.

Was: Ausstellung «Architecten de vylder vinck taillieu» im Rahmen der gta-Exhibitions-Ausstellungsreihe
Wann: Mittwoch, 11. März 2015, bis Sonntag, 5. April 2015, Montag bis Freitag von 10 bis 18 Uhr, am Wochenende und an Feiertagen geschlossen
Location: ETH Zürich, Hönggerberg, HIL, gta-Exhibitions

De Vylder Vinck Tailleu: Bushaltestelle in Krumbach, das um einen Baum herum gebaute Haus Bern Heim Beuk

De Vylder Vinck Tailleu: Bushaltestelle in Krumbach, das um einen Baum herum gebaute Haus Bern Heim Beuk.

Die Architekten: Inge Vinck, Jan de Vylder, Jo Taillieu

Die Architekten: Inge Vinck, Jan de Vylder, Jo Taillieu.

Das belgische Büro mit den beiden «V» im Namen ist ein stiller Star unter den international geachteten Architekten. Ich sage Architekten, doch eigentlich sind sie Künstler. Ihre Entwürfe sind auf eine bescheidene Art spektakulär, streng und doch verspielt. Oft sind es kleine präzise Massnahmen, die Gedankenräume öffnen. Bekannt ist zum Beispiel das wunderbare Haus Bern Heim Beuk, das um einen Baum gebaut ist. Oder eine Bushaltestelle im Bregenzerwald, die irgendwo abseits des urbanen Glamours einfachen Schutz mit einem kompliziert gefalteten Metalldach bietet. Für ihre Einzelschau am Hönggerberg haben die drei Belgier zuerst mit kleinen durchdachten Eingriffen und vielen Backsteinen den etwas sterilen Saal aufgepeppt und dann im Hauptsaal nicht den materiellen, sondern den geistigen Reichtum ihres Büros ausgebreitet.

Konkret heisst das: Sie stellen alles vor, was sie inspiriert und beeinflusst. Meist Werke und Ideen von Lehrern, Freunden, Vorbildern. Ich stand gerade vor einem seltsamen Exponat, es war das Modell eines Hauses, an dem drei klassisch eingefasste Buchbände klebten. Was konnte das bedeuten? «Het Woordenhuis» stand daran. Die Erklärungen zu den Exponaten haben die beiden Ausstellungsmacher Fredi Fischli und Niels Olsen in Form von ausgedruckten E-Mails gestaltet – E-Mails von einem der drei Belgier an die Ausstellungsmacher, Kommentare zu den Menschen, die sie hier vorstellten. «Koen Deprez», stand in dem E-Mail, «is a lot.» Das wars. Ich legte die Stirn in Runzeln. Da kam ein Mann auf mich zu und sagte: «You look at my house of words? I am Koen Deprez.»

Het Woords Huis (links), das Modell mit den Romanen(Mitte), Koen Deprez himself

Das echte Het Woordenhuis (links), sein symbolisches Modell mit den Romanen (Mitte), Koen Deprez himself.

Koen Deprez ist vielleicht der ungewöhnlichste Architekt, den ich je getroffen habe. Auch er ist ein Künstler, Schriftsteller, Grafiker und Philosoph. Er erklärte mir, was es mit dem Haus der Worte auf sich hatte. Er wurde eines Tages von einem Ehepaar kontaktiert. Sie fanden das alte Haus, in dem sie schon 20 Jahre wohnten, langweilig und wollten es umbauen. Man hat ihnen Deprez empfohlen, und sie kamen zu ihm, um einen Neubau zu planen. «But I really liked the old house», sagte Deprez. Er versprach dem Paar, über ihr Haus nachzudenken. Er besuchte das Haus, ging von Zimmer zu Zimmer, nahm Gegenstände in die Hand und sass wie abwesend auf dem Sofa. Dann verschwand er wieder. Und kam erst ein halbes Jahr später wieder, mit einem Roman in der Hand.

Die Geschichte – darf ich es gestehen? – rührt mich. Der Architekt hat, anstatt das alte Haus durch (s)einen Neubau zu ersetzen, einen Roman geschrieben, der im Haus spielt. Alle Gegenstände, die im Roman vorkommen, gibt es wirklich dort. Deprez hat Geschichten erfunden, Menschen und Begebenheiten, die sich im Haus hätten abspielen können. Und er sagte zu seiner Bauherrschaft: «Lest das Buch. Vielleicht ändert es etwas an eurem Verhältnis zum Haus.» Und ja. Sie waren verzaubert. Sie sahen das Haus mit neuen Augen. Statt zu bauen, hat ihnen Deprez das Haus neu erfunden. Nicht eine Ecke, nicht ein Möbelstück wurde geändert. Der Architekt aber versprach, alle fünf Jahre einen weiteren Roman zu liefern. Ist das nicht wie ein Märchen? Und das Paar lebt noch glücklich dort.

Koen Deprez: Elegy for Joseph Brodsky oder Night Study

Koen Deprez: Elegy for Joseph Brodsky oder Night Study.

Deprez erzählte mir dann, dass er seither Häuser nur noch nach literarischen Werken baut. Etwa nach einem Gedicht des russischen Dichters Joseph Brodsky. Dieses Haus – und falls ich es richtig verstanden habe, denn diese Belgier nuscheln manchmal, wurde es wirklich gebaut – verfügt über eine nach oben ausklappbare Plattform, auf der die Bewohner des Hauses zum Himmel schauen können. Ein flaches Haus mitten auf dem Land, aus dem sich eine Art ausklappbares Planetarium erheben kann… Wenn das nicht fantastisch ist! Der wunderbare Dichter Brodsky (der leider seit 1996 tot ist) fände es sicher toll. Aber, ehrlich gesagt, Jules Verne bestimmt auch.

Das Restaurant Michel in Groot Bijgaarden von Koen Deprez, dem Werk «Mythologies» von Roland Barthes nachempfunden

Das Restaurant Michel in Groot Bijgaarden von Koen Deprez, dem Werk «Mythologies» von Roland Barthes nachempfunden.

Wie sagte es Joseph Brodsky in seiner Nobelpreisrede? «Es gibt keine Liebe ohne Erinnerung, keine Erinnerung ohne Kultur, keine Kultur ohne Liebe. Deshalb ist jedes Gedicht ein Faktum der Kultur wie ein Akt der Liebe und ein Blitzlicht der Erinnerung, und ich würde anfügen – des Glaubens.» Und wissen Sie was? In diesem Zitat des Dichters könnte man ohne weiteres das Wort Gedicht durch das Wort Haus ersetzen. Und es dann zu einem Manifest für eine bessere Welt erklären.

 

Jetzt! Aber! Kriterien!

Ewa Hess am Dienstag den 10. März 2015

Am vergangenen Freitag wohnte ich einer Performance im Zürcher Offspace Hacienda bei. Die Performerin war eine junge Norwegerin namens Jennie Hagevik Bringaker. Es geschah im Rahmen einer Gastausstellung des Osloer Offspace 1857 in Zürich. Zuvor war Hacienda in Oslo zu Gast, all das hatte mit der Schau «Europe, Europe» zu tun; einer Schau, die gemeinsam mit jungen Künstlern und Kuratoren eine neue Kunstkarte Europas zu zeichnen versucht hat. Private View hat für Sie berichtet.

Was: Wochenendausstellung «Pattern Drill» im Offspace Hacienda an der Neustadtgasse 11 in Zürich (im Niederdorf, nah am Grossmünster)
Wann: Freitag, 6.3.2015, die Schau war nur am Wochenende zu sehen

Eingesponnen: Performance von Jennie Hagevik Bringaker im Zürcher Niederdorf

Eingesponnen: Performance von Jennie Hagevik Bringaker im Zürcher Niederdorf  Fotografie: H. Jokeit

Die junge Frau, es ist die Künstlerin selbst, liegt am Boden des Innenhofs der Hacienda. Windungen aus schwarzem Seil fesseln ihren Körper, ihre Füsse, ihre Arme. Sie scheint unruhig zu schlafen. Über ihr steht eine Spinne aus gelbem Stahlrohr, eins ihrer Beine berührt den Körper des Mädchens, sondert den schwarzen Faden ab und vielleicht auch das bewusstseinsraubende Gift. Der Boden ist kalt und dunkel, das blonde Haar des schlafenden Mädchens wälzt sich achtlos im Dreck hin und her.

Die Szene rührt jeden. Und jeden auf eine andere Art. Die meisten Besucher hier sind junge Kunstkenner – darum ist Louise Bourgeois’ «Maman» genannte Riesenspinne aus Bronze die erste kollektive Assoziation. Ich denke, indem ich der stillen Performance zuschaue, an das Thema, welches zu erhellen ich manchen von Ihnen in den Blogkorrespondenzen versprochen habe. Wie erkennt man gute Kunst?

Natürlich gibt es keine Patentrezepte. Das, was wir sehen, schrieb schon John Berger damals in seinem wunderbaren Büchlein «Sehen», hat nämlich immer damit zu tun, was wir wissen und glauben. Das heisst unter anderem, dass je mehr gute Kunst wir schon gesehen haben, desto besser können wir auch gute Kunst erkennen. Sie können aber für sich selbst eine kleine Checkliste aufzustellen. Eine, die nur für Sie gilt.

1. Ein gutes Kunstwerk funktioniert auf mehreren Ebenen.  Einem Kind sagt es etwas,  einem Erwachsenen ebenso und einem Kunsthistoriker erst recht. Um zu prüfen, ob das der Fall ist, genügt Ihre eigene Vorstellungskraft.

Am Beispiel der Spinnenperformance würde es heissen: Ein Kind könnte beeindruckt sein, weil die Szene, das man sieht, Gefühle weckt. Das Mädchen – schläft es? Ist es krank? Was ist mit ihm passiert? Was tut ihm die gelbe Spinne an? Ein Erwachsener könnte beeindruckt sein, weil die Szene Assoziationen weckt, die mit seinem Leben zu tun haben: Ein Individuum wird von einem technischen Ungeheuer gefangen gehalten. Sind wir es nicht alle? Wird unsere Lebenskraft nicht von einem von uns selbst geschaffenen System eingeschläfert, ausser Kraft gesetzt? Sitzen wir nicht alle wie gefesselt den ganzen Tag vor den Bildschirmen, zappeln in einem  vernetzten Universum, das uns virtuelle Traumbilder ins Gehirn projiziert? Ist nicht unsere Vergangenheit auch eine Art Spinne, welche die Lebenskraft einerseits abzieht, andererseits wieder einspeist? Und der Kunstkenner denkt: Aha, hier nimmt eine neue Generation Bezug auf ein Kunstwerk und erweitert seine Aussage. Bei Louise Bourgeois heisst die Spinne «Maman», und wer das Werk der wunderbaren Französin kennt, weiss, wie sehr sich ihre Figuren auf die oppressive – unumgänglicherweise oppressive? – Familienkonstellation beziehen. Mutter als das manchmal auch grausame Prinzip der Lebenserneuerung. Jennies Spinne aber ist kein Naturmonster wie bei Bourgeois, sie wirkt eher wie ein Ding aus einem frühen SF-Film. Die Post-Internet-Generation erweitert die Auseinandersetzung mit der Familie auf die globale Familie, auf ein komplexeres und unpersönlicheres Beziehungsgeflecht.

Louise Bourgeois und ihre «Maman» - (Mitte) im Sommer 2013 in Zürich

Louise Bourgeois und ihre «Maman» – (Mitte und links) im Sommer 2011 in Zürich, rechts die Künstlerin (1911–2010) vor dem Werk «Spider».

2. Ein gutes Kunstwerk spricht Sie – ja, Sie – ganz persönlich an. Ein ganz guter Indikator für die Qualität ist, wenn das Kunstwerk einen an ein intimes Detail aus dem eigenen Leben erinnert. Glauben Sie mir nicht? Probieren Sie es aus. Sobald Sie im zu beurteilenden Kunstwerk die entfernt vertrauten Züge Ihrer Tante Hilda sehen oder eine Farbe, die der Himmel mal hatte, als sie etwas Wichtiges erlebt haben, hat das Kunstwerk Sie schon ein bisschen bezirzt. Und das ist ein sehr gutes Zeichen.

Denn ein gutes Kunstwerk schafft es gleichzeitig, etwas Universelles und etwas Persönliches auszudrücken. Der Künstler «macht» das nicht. Es ist eine Gnade, die seinem Kunstwerk zuteil wird. Ich erkläre mir das so, dass das Unbewusste des Künstlers zum Unbewussten des Zuschauers direkt spricht. Vor einem Kitschbild denkt man vielleicht: «Oh, wie herzig.» Aber in einem Porträt von Picasso kann man vielleicht die Züge eines erbosten Bekannten erkennen. Oder es erinnert einen an die Spiegelung eines geliebten Gesichts im Wasser. Oder whatsoever. Mich erinnert das schlafende Mädchen in der Hacienda ein bisschen an eine Arbeitskollegin, die mal mitten im Filmfestival erschöpft im Pressezentrum einschlief. Genau so schlief sie, zappelnd, unruhig. Ihre Müdigkeit war ihre Lebenskraft, die sich über das fordernde System hinwegsetzte.

Skulpturen von Stian Eide Kluge, Hacienda und 8751 auf der Treppe vor dem «Urban Camouflage« von Ivan Galuzin

Skulpturen von Stian Eide Kluge (links und rechts), Hacienda-Macher Arthur Fink, Oskar Weiss (zuoberst) und die Gäste aus Oslo auf der Treppe vor dem Werk «Urban Camouflage« von Ivan Galuzin (Mitte).

3. Ein gutes Kunstwerk gefällt Ihnen nicht sofort. Das ist als Kriterium schon etwas schwieriger, denn ein schlechtes tut es auch nicht. Und darum muss man den Zeitfaktor berücksichtigen. Vielleicht muss man mehrmals während eines Besuchs zu einem Bild oder zu einem Objekt, das einen interessiert (oder einen besonders ärgert, auch das ist ein gutes Zeichen), zurückkommen und immer eine Weile davor stehen bleiben. Ein gutes Bild, sagt Jörg Heiser, ist eines, das die Kunst weiterbringt. Das ist ein hoher Anspruch, ausserdem gefällt er mir nicht so ganz, weil er eine Vorstellung von einer linearen Entwicklung in der Kunst voraussetzt. Ich glaube aber, dass die Kunst sich wie eine Schachfigur bewegt – mal vorwärts, mal rückwärts, und mal im Zickzack. Auf die Spinnenperformance bezogen, heisst es, dass ich misstrauisch werde, weil mir die Sache zu schnell einleuchtet. Einerseits: Bourgeois. Andererseits: System als die Mutter-Matrix.  Und die nette junge Frau in Bedrängnis – emotional eine Hammerkeule. Das ist schnell begriffen und vielleicht auch ein bisschen zu schnell. Innerhalb der tollen Ausstellung, die dem Titel «Pattern Drill» (was so etwas heisst wie Exerzitien mit Mustern) auf eine sehr differenzierte Weise gerecht wird, funktioniert das prima. Für mein Urteil über das Werk von  Jennie Hagevik Bringaker heisst es – es macht mich neugierig auf weitere Werke von ihr.

Ist auch nicht das Schlechteste, was man von einem Werk sagen kann, nicht wahr?