Le Corbusiers Geisterhaus

Ewa Hess am Dienstag den 18. November 2014

Als ich letzte Woche nach Riehen fuhr, um Peter Doig zu treffen, gabs schon während der Zugfahrt Farbalarm. Als ob die Wälder entlang der Bahnlinie den für seine psychedelische Farbgebung berühmten Maler übertrumpfen wollten. Danach drehte sich ein grosser Teil meines Gesprächs mit Doig in der Fondation Beyeler um Landschaften. Und auch um jenes Wäldchen in Frankreich, in der Nähe der Stadt Briey, wo ein legendäres Gebäude von Le Corbusier steht. Es ist eine der sogenannten Unités d’Habitation oder Cités radieuses. Es gab mehrere davon, eine frühe in Marseille (1952), eine spätere in Rezé (1955), dann kam eben Briey-le-Forêt, (1959) und danach noch Firminy-Vert 1965, während deren Bau Le Corbusier gestorben ist.

Diese Unités muss man sich als Wohnblöcke vorstellen, wahrscheinlich wurde Corbusier ihretwegen immer unterschwellig vorgeworfen, dass er der Vorläufer der Plattenbauten und anderer Wohnsilos gewesen sei. Doch sie sind natürlich sehr schön auf ihre Art. Alles zwar klein, aber wunderbar ästhetisch nach Corbusiers Modulor-Konzept mit Goldenem Schnitt und Fibonacci-Reihen angeordnet.

Ansichten der Unité d'habitation in Briey-le-Forêt aus den 50-er Jahren, Peter Doigs Gemälde «Concrete Cabin» von 1994

Ansichten von Le Corbusiers Unité d’Habitation in Briey-le-Forêt aus den 50er-Jahren, Peter Doigs Gemälde «Concrete Cabin» von 1994.

Doig lernte die Unité von Briey kennen, als er mit einigen Malern und Architekten dorthin fuhr, um das Ding zu restaurieren. In Lothringen brach nämlich kurz nach dem Einzug der Einwohner in das Haus die Krise aus. Minen wurden geschlossen, Menschen hatten kein Geld. Die Unité war nicht lange radieuse, sie verkam langsam zu einem Slum, bis sie irgendwann nur noch als ein Gespenst im Wäldchen stand. In den 90er-Jahren fuhr ein Trüppchen Kunstsinniger hin, um dem Ding neuen Glanz zu verleihen. Oder wenigstens um zu retten, was noch zu retten war.

Doig begann damals mit einer Serie der Gemälde, die meistens «Concrete Cabin» oder so ähnlich heissen und schemenhafte Umrisse des Hauses zeigen, die durch ein Dickicht der Bäume zu sehen sind.

Peter Doig: «Concrete Cabin» 1991, «Cabin Essence» 1994, das gleiche Sujet als Druckgrafik

Peter Doig: «Concrete Cabin» (1991), «Cabin Essence» (1994), das Sujet als Druckgrafik.

Peter Doig, Sind Ihre Darstellungen von Le Corbusiers Bau im dichten Wald eine Kritik an der Moderne?
Nein, es war vielmehr so, dass ich von der Stimmung dieses Ortes gefangen wurde. Diese hat mich zu einer Gruppe von Gemälden inspiriert, die ich aber nicht als Gruppe malte. Sie entstanden während einer Zeitstrecke von mehreren Jahren.

Welche Rolle hat die Tatsache gespielt, dass es gerade Le Corbusier war, der dieses Haus entworfen hat?
Es hätte genauso gut ein von jemand anderem entworfenes Haus sein können. Ich hatte aber Glück, dass es gerade Le Corbusier war.

Nun ja. Sollen wir das dem Künstler wirklich glauben? Natürlich muss er eine starke Beziehung zu Le Corbusier selbst haben. Doig, muss man wissen, ist einer, der seine Kunstgeschichte im Detail kennt. Der Übervater der modernen Architektur ist für ihn bestimmt nicht irgendjemand. Doigs eigenes Familienhaus auf Trinidad – das sieht man auf manchen Bildern – ist auch ein modernistischer Betonbau. Es gibt private Fotos von Corbusier, die Doig irgendwo aufgestöbert hat und als Vorlage für Grafiken und Gemälde brauchte.

Peter Doigs eigenes Haus auf Trinidad

Peter Doigs eigenes Haus auf Trinidad.

Peter Doig, irgendetwas muss Sie an dem Gebäude fasziniert haben.
Es ist ein sehr einfaches Gebäude. Ein «Low Level»-Le-Corbusier. Wenn man es etwa mit der Unité d’Habitation in Marseille vergleicht, wirkt es wie ein Auto, das nicht einmal ein Radio hat, neben einem Luxusstrassenkreuzer. Das gefiel mir. Es ist ein wunderschönes Ding. Und der Wald rund um das Gebäude hat es mir angetan. Ja, der Wald ist essenziell. Es ist ein trauriger, melancholischer Ort.

Also doch die Melancholie der strengen Moderne vor dem Hintergrund der freien Natur?
Nein, die Traurigkeit kommt von den Gräbern.

Welchen Gräbern?
Den Soldatengräbern. Wenn man durch die lothringischen Wälder fährt, merkt man, dass hier die wichtigsten Schlachtfelder des Ersten und Zweiten Weltkriegs waren. Ich fuhr diese Strecke mehrmals von Calais her. Man fährt wörtlich durch die Friedhöfe. Weisse und schwarze Kreuze überall.

Das Haus von Le Corbusier, das eine neue, bessere, strahlende Zukunft hätte repräsentieren sollen, ist also in Ihren Gemälden ein Friedhofswärter?
Tatsächlich hat dieses Haus etwas Menschliches für mich. Wie es mit seinen dunklen Fensterhöhlen durch die Äste lugt.

Ist es böse?
Böse? Das ist ein zu starkes Wort. Es gibt eine seltsame Ausstrahlung an diesem Ort. Ich würde sie… (sucht nach einem Wort) «deathliness» nennen.

Welches der vielen Gemälde, welche diesem Ort gewidmet sind, erachten Sie als das beste?
Ganz klar «Cabin Essence» von 1994. Wir haben es zum Glück für die Ausstellung in Riehen bekommen.

Warum ist es das beste?
Ich weiss es nicht. Es zeigt das Haus nicht in einem Winkel, sondern frontal. Es drückt am besten die Stimmung aus.

Die Ausstellung «Peter Doig» in der Fondation Beyeler geht übrigens am 23. November auf. Ich überlege, ob ich vorher noch nach Briey-le-Forêt fahren soll, um den Ort zu sehen, an dem Le Corbusiers Bote der Zukunft als einsamer Grabwärter in einem verwunschenen lothringischen Wald spukt.

Warum nur, Hund?

Ewa Hess am Dienstag den 11. November 2014

Ich kam etwas spät zur Vernissage, Jakob stand schon vor der Türe und rauchte eine Selbstgedrehte. Findest du nicht, sagte er, als er mich ausser Atem ankommen sah, dass der Name dieser Galerie schon gross genug auf deinem Blog leuchtet? Er spielte damit auf die sogenannte Wörterwolke an, die hier rechts gerade sichtbar ist und die alle Begriffe, die im Blog vorkommen, in einem Grössenverhältnis abbildet. Wenn etwas zweimal erwähnt wird, erscheint es grösser, bei dreimal noch grösser usw… Und okay, stimmt, ich bekenne mich schuldig, ich habe schon mehrmals von Karma berichtet. Na und? Die Kunst, die man dort sieht, hat für mich Inspirationspotenzial. Wie das Video, das ich am Freitag in der Ausstellung sah – verstörend. Aber hinreissend. Wie es sich für ein tolles Kunstwerk gehört.

Was: Gruppenschau «I bought a hyacinth flower with lots of leaves, just to make me feel like spring»
Wo: Karma International, Hönggerstrasse 40, Zürich
Wann: Freitag, 7.11.2014 (Ausstellung bis 13.12.)

Gut, der Titel der Gruppenausstellung ist etwas enigmatisch. Die Galerie, die von Marina Olsen und Karolina Dankow mit leichter Hand und poetischer Grundhaltung geführt wird, schickt anstatt einer Erklärung ein Gedicht mit auf den Weg. «Animal, vegetable, mineral», heisst die erste Zeile. Und tatsächlich: Tier, Gemüse, Mineral. Alle drei kommen in der Ausstellung vor: Aus Salz sind die wunderbaren Objekte von Carissa Rodriguez, einer US-Künstlerin, die zum Programm der Galerie gehört. Blumen – die doch eine Art dekoratives Gemüse sind – fotografiert Ketuta Alexi-Meskhishvili, eine NY-Georgierin (und Frau von Andro Wekua). Das Tier kommt auch vor – es ruht in den Armen des israelischen Künstlers Uri Aran. Es ist ein grosser Hund, mir scheint, ein Boxer (oder doch ein Labrador?). Man sieht ihn nur von hinten, seine Lage ist zwiespältig.

Der weinende Mann und sein Hund: Uri Arans Video

Der weinende Mann und sein Hund: Uri Arans Video. Kurzer Ausschnitt aus dem Werk hier.

Ich spreche von einem Video, das der Künstler 2010 gedreht hat und das in Ausstellungen in Israel und den USA schon zu sehen war. Es ist ein kurzes Stück, knapp 4 Minuten lang. Der Inhalt ist schnell erzählt. Ein Mann – es ist der Künstler selbst – sitzt und weint. Er hält ein grosses braunes Biest in den Armen und streichelt es gaaaanz langsam. Der Hund lässt sich das gefallen, ja, man hat sogar das Gefühl, dass er es ist, der den Mann im Arm hält und tröstet. Der Mann weint still und haltlos. Warum nur, sagt die Trauer des Mannes, warum nur? Er scheint etwas – oder, viel wahrscheinlicher, jemanden – verloren zu haben. Der Hund sagt nichts, bewegt nur manchmal ein Ohr.

Die Werke von Uri Aran (37) haben schillernde Qualität. Er zeichnet (wunderbar, es gibt auch Zeichnungen von ihm bei Karma), macht Installationen, die wie Miniaturmodelle von seltsam aufgefüllten (zugewachsenen?) Innenräumen aussehen – und er macht Videos. In diesen geht es oft um Wunschträume, Erinnerungen und andere Sentimentalitäten. Man kann nicht sagen, dass Aran die Sentimentalität entlarvt. Er folgt ihr willig, gibt sich ihr hin, aber auf eine so irritierende Weise, dass es dem Zuschauer ganz anders wird.

Wie ist es also nun mit dem Hund hier? Sehen wir hier ein Beispiel von dieser bedingungslosen tierischen Liebe, die immer jenen warmen, leise atmenden vegetativen Beistand spendet, den der Mensch braucht? Oder missbraucht der Mensch im Video den Hund, indem er das Tier wie eine entschwundene Geliebte im Arm hält und streichelt? In der Ausstellung in Herzliya Museum in Israel (Manimal, manimal), in der Arans Video schon einmal gezeigt wurde,  wurde damals just das Verhältnis von Mensch und Tier thematisiert. Seit den Höhlen von Lascaux haben Menschen, wenn sie künstlerisch tätig waren, Tiere abgebildet. Doch die atmende Kreatur  war immer nur als die Verkörperung einer dem Menschen wichtigen Funktion da (also zeigten Jäger Tiere, die sie gejagt haben, der Hofmaler pinselte die grossen Hunde des Königs etc). Auf eine sehr leise, fast schon listige Art stellt Arans Video dieses Verhältnis auf den Kopf. Es ist nämlich der Hund, der die Szene im Video emotional beherrscht – mit seiner ruhigen Überlegenheit.

Blick in die Ausstellung, eine Keramik-Skulptur von Simone Fattal, Galeristin Karolina Dankow neben einem Salz-Objekt von Carissa Rodriguez

Blick in die Ausstellung, eine Keramik-Skulptur von Simone Fattal, Galeristin Karolina Dankow neben einem Salz-Objekt von Carissa Rodriguez.

Es ist manchmal so bei den Gruppenausstellungen, dass ein Werk die Rezeption der anderen beeinflusst und verändert. Dieses Video macht diese wunderbare Ausstellung zu einer, in der die Welt auf eine geheimnisvolle Weise «dem Tier, dem Gemüse und dem Mineral» gehört. Der Mensch, dieses gwundrige und unberechenbare Wesen, ist darin Gast und Beschenkter. Und erst noch einer, der nicht so recht weiss, wie ihm geschieht.

Künstler Peter Fischli im Gespräch mit Galeristin Marina Olsen, Künstlerin Simone Fattal im Gespräch mit den Architekten Boris Gusic und Christoph Junk von «Gruppe», Werke von Emanuele Marcuccio (aus Metal Aluminium und Cortisoncreme)

Künstler Peter Fischli im Gespräch mit Galeristin Marina Olsen, Künstlerin Simone Fattal im Gespräch mit den Architekten Boris Gusic und Christoph Junk von «Gruppe», Werke von Emanuele Marcuccio (aus Metall, Aluminium und Cortisoncreme).

Über all das habe ich mit den anderen Vernissagegästen nicht gesprochen. Es war mir irgendwie zu intim. Vielleicht ging es den anderen auch so? Viele waren da: Künstler Peter Fischli, Kurator Niels Olsen (er ist mit einer der Galeristinnen verheiratet), Künstler Bernhard Hegglin und Tina Brägger, Architekten Boris Gusic und Christoph Junk (vom Büro Gruppe). Die Letzteren haben die schöne Struktur entworfen, auf der Fattals Skulpturen präsentiert waren.

Auch die ausstellenden Künstlerinnen Ketuta Alexi-Meskhishvili und Simone Fattal waren da. Mme Fattal, eine libanesische Grande Dame, die in Paris lebt, zeigte wunderbare Objekte aus Keramik und Metall. Halb kleine Götter, halb Gestalten aus dem Untergrund. Auch diese Skulpturen waren vom Zartgefühl dieser Schau gezeichnet. Ihrer Form unsicher, der amorphen Lehmmasse mit einer stetig suchenden Hand entrungen. Auf dem Nachhauseweg war man immer noch berührt. Und verstand: Die grosse, gottgleiche, heroische Geste ist out. Leises Ahnen und leichtfüssiges Mittanzen sind die moderneren Erkenntnishilfen.

Food Porn im Gefängnis

Ewa Hess am Dienstag den 4. November 2014

Im Schatten des Prime Tower übt die Zürcher Festgemeinde Halloween. Mit gemischten Gefühlen gehe ich an Mördermasken und Vampirfratzen vorbei – denn ich werde meinen polnischen Landsmann Zmijewski treffen. Angstlust? Leute, nachdem Ihr seine Kunst geschaut habt, ist fertig gekichert. Da wird es richtig düster.

Was: Ausstellung «Imprisoned» von Artur Zmijewski
Wo: Galerie Peter Kilchmann im Maag-Gebäude an der Zahnradstrasse 21
Wann: Freitag, 31. Oktober 2014 (Ausstellung bis 20. Dezember)

Artur Zmijewski wurde 1966 geboren, wuchs also noch in dem sowjetisch geprägten Sozialismus bzw. in Zeiten auf, als in Polen Kriegsrecht galt. Dann wechselte das politische System und eine Zeit des raubtierhaften Kapitalismus begann für das vollends unvorbereitete Land. Es war vielleicht diese politische Achterbahn, die Zmijewskis Faszination fürs Gruppenverhalten befeuert hat.

Arbeiten von Artur Zmijewski: «Tattoo», «Fangspiel», «Wiederholung»

Arbeiten von Artur Zmijewski: «80064», «Fangspiel», «Wiederholung».

Nehmen wir mal sein Video «Sie» von 2007. Da hat er vier Gruppen eingeladen, um gemeinsam zu werken. Die Zusammensetzung der Gruppen kann man auf diesen Nenner bringen: polnische Nationalisten, katholische Frauen, polnische Juden und die neuen Linken. Sie sollten, jede Gruppe für sich, die ihrer Ideologie entsprechenden Poster entwerfen. Zuerst wird lieblich gemalt, hier Kirchen und Kreuze, dort grosspolnische Karte, man lobt sich gegenseitig. Der Künstler mischt sich nicht ein und guckt zu. Dann fangen die Feindseligkeiten an: Man fängt an, dem ideologischen Feind ins Bild zu pinseln. Die Symbole werden immer aggressiver. Man hängt einander den Schlötterlig in Form von Hakenkreuzen an. Dann rückt man mit Schere, Messer und Feuerzug dem fremden Plakatwerk zu Leibe. Am Ende schmeisst man unter Gejohle die Werke der anderen aus dem Fenster. So viel zum demokratisch geteilten Lebensraum.

Ja, ja, er ist ein gemeiner Entlarver, der Pole Zmijewski. Vergleichbar vielleicht mit dem ebenso gnadenlosen Österreicher, dem Filmemacher Michael Haneke. Noch berühmter ist Zmijewskis Nachinszenierung des berühmten Stanford-Gefängnisexperiments von 1971. Mit dieser «Wiederholung» ist Zmijewski seinerzeit übrigens zum Star der Venedig-Biennale 2005 avanciert. In seinem Experiment werden Studenten in Gefängnisinsassen und Gefängniswärter eingeteilt – wer was spielt, bestimmt der Zufall. Innerhalb weniger Tage mutieren die Wärter zu Sadisten und die Insassen zu Verrätern. Ein Mechanismus, dem sich die Studenten nicht entziehen können, weshalb sie um eine Unterbrechung des Experiments bitten. In anderen Werken lässt er Menschen in einer ehemaligen Gaskammer nackt Fangis spielen oder hilft einem 91-jährigen Holocaust-Überlebenden, sich seine Auschwitz-Nummer nochmals tätowieren zu lassen.

Szenen aus «Makingof»: Vorbereitung der Gefangenen

Szenen aus «Makingof»: Vorbereitung der Gefangenen.

Verglichen mit diesen Arbeiten ist das, was man gerade bei Kilchmann sieht, fast schon Peanuts. Die Aktionen für seine neuen Videos hat er mit der sozial engagierten Stiftung Dom Kultury in Warschau entwickelt. Da werden in einem Frauengefängnis, wo viele harte Verbrecherinnen einsitzen, lockere Happenings veranstaltet, die an Makeover-Shows der privaten Fernsehsender erinnern. Im Stück «Makingof» kommt ein Make-up-Team ins Gefängnis und verwandelt die gezeichneten Frauenkörper und Gesichter, denen man die Härte ihrer Lebensläufe ansieht, in glamouröse Divas, die anschliessend in den Gängen des Gefängnisses wie auf dem Catwalk laufen. In «Cookbook» sind es zeitgeistige Köche, die mit Ananas, Romanesco, Hummer und Trüffel im Gefängnis einlaufen und zusammen mit den pockennarbigen Mörderinnen Leckerbissen fabrizieren. In diesem Video hat Zmijewski eine Kontrastspur eingebaut: Bilder aus der echten Gefängnisküche, wo in riesigen Bottichen widerliche Speisen lieblos zubereitet werden.

Szenen aus «Makingof»: Catwalk im Gefängnisgang (Mitte) Wärterin schaut zu (links), Zurück hinter Gitter (rechts)

Szenen aus «Makingof»: Catwalk im Gefängnisgang (Mitte), Wärterin schaut zu (links), zurück hinter Gitter (rechts).

Die Absicht der gemeinnützigen Stiftung ist klar: Läuterung durch Steigerung der Selbstachtung (Carlos lässt grüssen!). Zmijewskis Blick unterwandert aber – fragen Sie mich nicht wie, denn er kommentiert nicht und mischt sich nicht ein, es muss also am Schnitt liegen – dieses gutmenschliche Setting. Schaut man in der dunklen Kammer bei Kilchmann die Zehnminuten-Videos, erscheinen sie einem unweigerlich wie eine düstere Metapher des Lebens überhaupt. Diese Gitter, hinter denen die Frauen am Schluss wieder verschwinden, eingeschlossen von durchaus mitfühlenden, dennoch unbarmherzigen Wärterinnen, kennen wir sie nicht alle? Und trösten wir uns nicht alle ab und zu mit Hummer, Luxus und Parfüm? Aus der Dunkelheit in die gleissende Helle der schönen Ausstellungsräume in Peter Kilchmanns Galerie kommend, muss ich die Augen zusammenkneifen. Vor mir laufen drei schick gestylte Frauen den Wänden mit Gemälden von Michael Bauer entlang. Wo warten auf sie irgendwo Wärter, Gitter und Zellen?, denke ich unwillkürlich. Pardon, meine Damen.

Szenen aus «Cookbook»: Leckereien wie die Ananas vs. widerlicher Frass aus der Garküche

Szenen aus «Cookbook»: Leckereien wie die Ananas vs. widerlicher Frass aus der Garküche

Zmijewski ist an der Vernissage selber anwesend. Wie viele Entlarver ist der Mann ein sensibler Idealist mit Hang zur Melancholie. Und ein polnischer Patriot! Als ich mit ihm das letzte Mal sprach, wohl anlässlich seiner vorletzten Ausstellung bei Kilchmann, hat er mich mit seinen strengen Ermahnungen, mich mehr um polnische Kultur und Politik zu kümmern, fast in eine schlimme Krise hineingeredet. Diesmal können wir dem gleichen Thema eine positive Wendung geben, und ich bekomme gute Tipps für Websites, auf denen man polnische Kultur besonders gut auch aus der Fremde verfolgen kann. Natürlich sind auch solche dabei, auf welchen die menschliche Dummheit und Borniertheit besonders gut zur Geltung kommen.

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Der Künstler erklärt der Kunsthistorikerin Marianne Karabelnik seine Europa-Karte (links), die er mit Rotwein und Messer auf die Spiesekarte zeichnet (Mitte und links)

Anschliessend bekommen wir bei einem Züri-West-Italiener wunderbares Essen. Soulfood nennen das die Amerikaner – lauter Sachen, die einem guttun. Polenta, Tomaten, Hackbraten; Sie wissen, was ich meine. Zmijewski illustriert seine Erzählungen mit Zeichnungen auf dem Menü – mit einem im Rotwein getauchten Messer malt er nach und nach seine Europakarte. In der Mitte Warschau, im Westen Zürich, im Süden Auschwitz, wo seine Freundin Zosia arbeitet – eine kluge und nette Soziologin, sie ist auch dabei –, im Osten Vilnius, Lemberg, das krisengeplagte Kiew, irgendwo weiter weg leicht bedrohlich, Moskau … Ich bitte ihn drum, auch Minsk einzuzeichnen. Seit ich mal Witebsk besucht habe, schlägt mein Herz für das arme Weissrussland – unter dem Diktator Lukaschenko hat es nie eine Chance demokratischer Entwicklung bekommen.

Halloween in Züri-West – was wie eine abstossende Retortengeburt klingt, wird zu einer nachdenklichen,  sentimentalen Reise.

Artur Zmijewski und seine kunstvollen Notizbücher

Artur Zmijewski und seine kunstvollen Notizbücher