Gehrys Dilemma

Ewa Hess am Dienstag den 28. Oktober 2014

Das muss man Frank Gehry lassen: Der Mann weiss hitzige Diskussionen herauszufordern. Seine Fondation Louis Vuitton in Paris entwickelt sich zum umstrittensten Bau der letzten Jahre. Ich war dort, habe die Treppen, Terrassen und Passerellen bewandert, den Reden gelauscht, die Macher beobachtet und mit Gehry selbst gesprochen. Und stelle fest: Frank Gehrys Dilemma geht uns alle etwas an. Wir stecken alle in einem solchen.

Was: Eröffnung der Fondation Louis Vuitton im Bois de Boulogne bei Paris
Wo: Im Jardin de l’Acclimatation Metro: Les Sablons
Wann: Ab Montag, dem 27. Oktober 2014, fürs Publikum offen

Von rechts: Der Metro-Wegweiser (braun)  zeigt das Problem des neuen Supermuseums karikaturistisch auf - es sieht aus wie ein langer Käfer oder... ach, lassen wir das. Mitte: Louis-Vuitton-Logo über dem Eingang. Links: Es türmt sich jäh vor einem auf.

Von rechts: Der Metro-Wegweiser (braun) zeigt das Problem des neuen Supermuseums karikaturistisch auf – es sieht aus wie ein langer Käfer oder … ach, lassen wir das. Mitte: Louis-Vuitton-Logo über dem Eingang. Links: Es türmt sich jäh vor einem auf. 

Frank Gehry hadert mit dem «Bilbao-Effekt». Dadurch hat er den Ruf eines Architekten bekommen, der dem heiligen Nimbus der Kunst, der Ernsthaftigkeit, mit der sie betrachtet werden soll, schadet. Das schmerzt ihn. Das hat man an der Eröffnung in Paris deutlich gesehen. Die Fragen der Journalisten, die sich auf diesen Aspekt seines Schaffens bezogen, lachte er weg. Oder wischte sie mit einer ungeduldigen Handbewegung vom Tisch. In einem Gespräch im kleineren Rahmen erzählte er, wie traurig er das findet, dass er nach Bilbao jahrelang kein Museum mehr bauen durfte – weil er den Museumsdirektoren als «unfein» galt.

Dann hagelte es Kritik. «Frank Gehrys Fondation Louis Vuitton zeigt, dass er nicht aufhören kann», schrieb der Guardian. Die New York Times nannte sein neues Bauwerk «Trophy», ein Trophäe des Luxusgütermagnaten Bernard Arnault, des Bauherren und Besitzers von Louis-Vuitton-Moët-Hennessy. Das muss Gehry sehr verletzt haben. Eine Woche nach der Eröffnung der Pariser Fondation flog er nach Spanien, um den Preis des Prinzen von Asturien entgegenzunehmen. Und dann verlor er vollends die Nerven. Die erste Frage eines Journalisten, die sich auf die Kritik an seinem neuen Wunderwerk bezog, quittierte er mit einem «Stinkefinger». Er habe es satt, sagte er darauf unumwunden, ständig kritisiert zu werden. 98 Prozent von allem, das heute gebaut werde, sei «shit». Gebaut von Leuten, die einfach ein Haus bauen und fertig. Ohne einen künstlerischen Anspruch dahinter.

Die Chronik einer Aufregung (von links): Frank Gehry m Freitag, dem 18.10., in Paris - nachdenklich, am Montag, dem 20.10., in Paris - scherzend, am Freitag, dem 25.10, in Asturien - entnervt.

Die Chronik einer Kränkung (von links): Frank Gehry am Freitag, dem 18.10., in Paris – nachdenklich; am Montag, dem 20.10., in Paris – scherzend; am Donnerstag, dem 24.10, in Oviedo – entnervt. Letztes Bild ©Faro de Vigo

Und da sind wir genau bei Gehrys Dilemma angelangt. Sein Drang, etwas nach höherer Ordnung zu bauen, bringt ihn in eine Position, in der er gleichzeitig gewinnt und scheitert. Gewinnt, indem er der Welt eine Chiffre schenkt, ein Wahrzeichen, etwas, das nicht nur der kunstinteressierten Elite etwas gibt, sondern auch dem Touristentross aus der Mittelklasse und den Familienausflüglern aus den Vorstädten. Wenn man sich fragt, wer der zeitgenössischen Kunst zu jenem Siegeszug verholfen hat, den sie seit 20, 30 Jahren angetreten hat, kommt man schnell auf Gehry.

Und doch ein grossartiges Bauwerk: Gehrys Opus Magnum

Und doch ein grossartiges Bauwerk: Gehrys Opus Magnum. Bilder: ©Daniel Milnor

Gehrys Mut, seine Architektur von der sauberen geraden Linie der Moderne abzukoppeln, verdient zunächst einmal Bewunderung. Der 85-jährige Kanadier (ja, er stammt aus Toronto, auch wenn er seit 1947 in Los Angeles lebt) ist in seinem Herzen ein Künstler – wie wohl alle grossen Architekten. Er betont oft, wie gut er mit Künstlern befreundet ist, und das ist in seinem Fall überhaupt keine Floskel. Sehr früh schon diskutierte er mit Ed Kienholz, Bob Irwin, Ed Moses und Ed Ruscha neue Wege der künstlerischen Entwicklung. Mit Jasper Johns, Andy Warhol, Cy Twombly, Robert Rauschenberg, und Ellsworth Kelly gehörte er zum Freundeskreis von David Whitney (1939–2005), des grossen amerikanischen Vermittlers zeitgenössischer Kunst. Den grössten Einfluss auf die Entwicklung seines Stils habe Robert Rauschenberg gehabt, sagt etwa Gehry in Sydney Pollacks Biopic über ihn («Sketches of Frank Gehry»). Rauschenberg brauchte Dinge, die er auf der Strasse fand, wie zerknülltes Papier etc. und schuf damit seine Kunstwerke. Als Gehry sich entschloss, einen solchen künstlerischen Zugang zur Architektur zu wagen und die heilige Doktrin ausser Acht zu lassen, dass Form der Funktion folgen muss, wurde er zum bauenden Künstler.

Von links: Frank Gehry und ed Moses in den 1960-er Jahren, Die LA-Modernisten: Denis Hoper, Frank Gehry, Ed Ruscha, Robert Rauschenberg am Werk

Von links: Frank Gehry und Ed Moses in den 1960er-Jahren; die LA-Modernisten Dennis Hopper, Frank Gehry, Ed Ruscha; Robert Rauschenberg am Werk.

Ähnlich wie Steven Spielberg, Daniel Libeskind oder Roman Polanski hat Gehry zudem ein untrügliches Gespür für Auffallendes. Er ist nicht bescheiden. Er gibt einen drauf, klotzt, statt zu kleckern, hat keine Berührungsängste mit dem Massengeschmack, kümmert sich nicht um Stilpäpste – und hat Erfolg damit. Vor allem das Letztere verdriesst viele Kollegen, die doch immer brav das Richtige gemacht hatten und nun keinen «Effekt» nach sich benannt bekommen.

Von links: Gehrys eigener Haus in Santa Monica, Guggenheim Bilbao (mit Louise Bourgeois' Spinne davor, das «tanzende» Haus in Prag

Von links: Gehrys eigenes Haus in Santa Monica; Guggenheim Bilbao (mit Louise Bourgeois’ Spinne davor); das «tanzende» Haus in Prag.

Aber eben. Dieser Bilbao-Effekt, mit dem eine touristisch-kommerzielle Wirkung eines Gebäudes bezeichnet wird, das sich zu einem Magneten für den Massentourismus mausert und eine Stadt auf die internationale Sehenswürdigkeitenkarte zu setzen vermag, ist eine ambivalente Auszeichnung. Denn gerade jetzt, in der Stimmung des Kapitalismuskaters, in der das Kunstsammeln und das Bauen von Privatmuseen zum beliebten Zeitvertreib einer neuen globalen Finanzoligarchie geworden sind, wird die Kritik lauter und lauter. Ist der Siegeszug der zeitgenössischen Kunst überhaupt ein Siegeszug, fragen viele. Oder nur ein langer Marsch in die Versklavung durch das Kapital?

Im architektonischem Taumel: ein Wirrwarr der Formen und Linien in der Fondation Louis Vuitton

Im architektonischen Taumel: das Wirrwarr der Formen in der Fondation Louis Vuitton.

Das sind wichtige Fragen. Denn sie gehen nicht nur Frank Gehry an, sondern uns alle. Kunst war immer schon für Könige. Doch geht sie diesmal mit ihrem Diensteifer zu weit? Jedenfalls: Es gibt nichts Giftigeres für einen wie Gehry, als sich mit einem Bau rechtfertigen zu wollen. Und das wollte er mit der Pariser Fondation – das gibt er unumwunden zu. Das sollte sein Opus Magnum werden, ein Werk, das endlich den moralinsauren Kritikern das Maul stopft. Seht her – schreit das Gebäude –, ich bin die Überwindung der Schwerkraft selbst! Ich fliege davon, getragen von meinen zwölf Segeln, von meinen Hundert Brücken, von meinen Tausend Holz- und Metallstreben. «This is a forgiving house», sagte Gehry immer wieder in Paris. Als ob er hoffen würde, das Verzeihen würde auch endlich ihm, dem Unbescheidenen, zugutekommen.

Doch wie es oft geschieht, gerade dann, wenn man es unbedingt allen zeigen will, kommts anders. Jetzt sagen alle: Das Haus ist zu viel, weil Gehry zu viel Geld bekommen hat von seinem Louis-Vuitton-Täschchen-Bauherr Bernard Arnault. Und diese Kritiker haben nicht nur unrecht. Es gibt viele Winkel in der Fondation, in welchen man sich nur noch von der Überkomplexität erdrückt fühlt. Ein Wirrwar der Formen und Elemente überwältigt.

Wolkenleichte Entwürfe: die erste Kritzelzeichnung (links), Entwurfsstadien

Wolkenleichte Entwürfe: die erste Kritzelzeichnung (links), Entwurfsstadien.

Denn zu Gehrys Stärken hat bis jetzt vor allem gehört, in fertigen Bauten die Mühe der Realisierung komplett auszublenden. Seine stärksten Gebäude scheinen dem Betrachter zuzulachen. Sie sagen: Guck mal, da hat sich einer etwas so Hirnrissiges ausgedacht und schon steht es da, wie ein Traum. Und diese Leichtigkeit hat Fondation LV nicht. Man merkt ihr an, dass sie einen verblüffen will. Und das ist für ein solches Gebäude ein gewaltiger Makel.

Frieze. Spektakulär

TA Korrektorat am Dienstag den 21. Oktober 2014

Ein Gastbeitrag von Michelle Nicol*

Die Londoner Kunstmessen Frieze und Frieze Masters zu besuchen, heisst, die optimale Mischung zwischen erhebenden Inhalten und schnöder Unterhaltung zu erleben. Wobei die Ereignisse ausserhalb der Messen den mindestens gleichen Stellenwert einnehmen.

Was: Kunstmessen Frieze und Frieze Masters
Wann: 15. bis 18. Oktober
Wo: London, Regent’s Park und überall in der Stadt

Betrachten wir die Gewichtung: 162 Aussteller präsentierten sich an der Frieze London, deren 127 an der Frieze Masters. Die Frieze zeigt ausschliesslich zeitgenössische Kunst und dazu Frieze Projects, eine Serie von eigens in Auftrag gegebenen Kunstwerken, sowie Frieze Talks bestehend aus Diskussionen, Reden, Vorträgen. Neu dieses Jahr: Live. Live ist eine Reihe von performativen Installationen mit echten Menschen, und es war sehr amüsant, auf dem Rundgang durch die Messe immer wieder auf turnende und sich auffällig gebärdende Individuen zu stossen.

Bunte Messe: Wiederaufgeführte Performance Franz Erhard Walthers «Sehkanal» von 1968, Carsten Höllers Würfel bei Gagosian, Büchels «Sleeping guard» bei Hauser & Wirth

Bunte Messe: Wiederaufgeführte Performance Franz Erhard Walthers, «Sehkanal» von 1968, Carsten Höllers Würfel bei Gagosian, Büchels «Sleeping Guard» bei Hauser & Wirth.

Frieze Masters übrigens, ebenfalls in einem Zelt im Regent’s Park lokalisiert, zeigt ausschliesslich Kunst, die vor dem Jahr 2000 produziert wurde. Dieser historische Aspekt gibt der Frieze Masters einen seriösen Anstrich, und schnell war klar: Die Frieze Masters ist die strenge ältere Schwester der ausgeflippten Frieze. Es ist kein Wunder, dass Victoria Siddall, Direktorin der Frieze Masters, neu auch für die Frieze verantwortlich zeichnet.

An der Frieze aufgefallen: Carsten Höllers farbenfrohe Präsentation für die Gagosian Gallery. Man weiss, dass der belgische Künstler Höller sich gerne über die urtümliche Menschenliebe für Kinder lustig macht. So war sein Stand einem fröhlichen Kinderpark nachempfunden – jedoch weiss der Kenner, dass es sich um ein Assortiment von Fallen handeln muss. Und dass der grosse Würfel, in welchen die lieben Kleinen durch die schwarzen Punkte hineinklettern können, mindestens einen Kinderschänder oder noch Wüsteres verbirgt.

Ebenfalls bunt und genauso beeindruckend: die Porträts von Nicolas Party bei Gregor Steiger, eine junge Galerie aus Zürich. Und nochmals Zürich: Bei Hauser & Wirth wähnte man sich in einem klassizistischen Salon, dank grün bespannten Wänden und kleinen runden Nummernplaketten, die jeweils ein Werk bezeichneten – das war so viel schicker als ein Namensschild aus Karton. Und da war der schlafende Wärter in der Ecke: einer der Live-Acts? Oder ganz einfach ein müder Wärter, übermannt vom Sandmännchen? (Es stellte sich heraus, dass es sich um ein Werk des Schweizer Künstlers Christoph Büchel handelte.)

Der britische Künstler Mark Wallinger, neu im Hauser&Wirth-Stall, hat den Messestand der Galerie kuratiert im Stil von Sigmund Freuds Londoner Kabinett, Galerist Gregor Staiger im Gespräch mit dem Künstler Nicolas Party, Steigers booth mit Werken von Party

Der britische Künstler Mark Wallinger, neu im Hauser-&-Wirth-Stall, hat den Messestand der Galerie kuratiert im Stil von Sigmund Freuds Londoner Kabinett (links), Galerist Gregor Staiger im Gespräch mit dem Künstler Nicolas Party (Mitte), Staigers Stand.

Und dann die Auktionen. Auch sie ein gewichtiger Faktor im Kunstprogramm. Das Auktionshaus Phillips eröffnete einen neuen, imposanten Sitz direkt am Berkeley Square. Man sagt, er habe 100 Millionen Pfund gekostet. Zur Feier des Anlasses kuratierte Francesco Bonami eine Skulpturenausstellung im Erdgeschoss, es gab ein gewichtiges Dinner am Montag und je eine Auktion am Mittwoch und Donnerstag. Mein Lieblingswerk: zwei Zeichnungen auf Häuschenpapier von Sigmar Polke aus dem Jahr 1968. Schätzpreis: 25’000–35’000 Pfund. Verkauft für 30’000 Pfund.

Zwei wunderbare Zeichnungen Polkes bei Phillips, das neue Phillips-Headquarters am Berkeley Square

Zwei wunderbare Zeichnungen Polkes bei Phillips, das neue Phillips-Headquarter am Berkeley Square.

Besonders schön sind die charmanten Ereignisse am Rande der Messe. Zum Beispiel das traditionelle Dinner von Sammlerin Valeria Napoleone zugunsten des unabhängigen Kunstortes Studio Voltaire. Valeria empfängt jeweils bei sich zu Hause, und so kann man ihre Kunst – sie sammelt ausschliesslich von Frauen Produziertes – vor Ort bewundern. Als Italienerin ist sie selbst eine ausgezeichnete Köchin, und ihr Personal kocht ihre Rezepte in Perfektion. Nur das Dessert, das macht sie selber. Kim Gordon, Popstar, Penny Martin von «Gentlewoman» (aktuell das beste Magazin der Welt), Clare Waight Keller, Kreativdirektorin von Chloé: Sie alle kosteten davon.

Bei Valeria Napoleone: Turner-Preis-Gewinner Jeremy Deller im Gespräch mit Sarah Douglas, art editor von Wallpaper, die Gastgeberin begrüsst den Direktor des Studio Voltaire Joe Scotland, mit der Musikerin Kim Gordon (Gründerin von Sonic Youth)

Bei Valeria Napoleone: Turner-Preis-Gewinner Jeremy Deller im Gespräch mit «Wallpaper»-Redaktorin Sarah Douglas (links), die Gastgeberin begrüsst den Direktor des Studio Voltaire, Joe Scotland (Mitte), Valeria Napoleone mit der Musikerin Kim Gordon (Gründerin von Sonic Youth).  © Dafydd Jones

Michelle* Michelle Nicol ist Kunsthistorikerin und Gründungspartnerin der Kreativagentur Neutral Zürich AG. Kuratorin, Kritikerin und Werberin. Bringt Kunst, Architektur und Marken zusammen.

Die Wahrheit über Jenny

Ewa Hess am Dienstag den 14. Oktober 2014

Liebe Leserin, lieber Leser! Die Ausstellung «Egon Schiele/Jenny Saville» im Kunsthaus Zürich ist ein starker Tobak. An der Vernissage standen viele Menschen leicht ratlos vor Jenny Savilles Riesenweibern. Oder besser: Sie sassen. Vom grossen Fleisch bedroht, musste sich der eine oder die andere setzen. Jenny Saville selbst, eine kleine resolute Schottin, ging auf leisen Sohlen zwischen den Bildern umher, von den meisten als die Urheberin der fleischfarbenen Ungetüme unerkannt. (Unbedingt lesenswert in diesem Zusammenhang ist die Besprechung meiner Kollegin Paulina Szczesniak hier – sie malt in ihrem Text wunderbar mit Worten.)

Was: Ausstellung «Egon Schiele/Jenny Saville»
Wo:
Kunsthaus Zürich
Wann: Vernissage am Donnerstag, dem 9.10.2015, Ausstellung bis 25. Januar

Seit Charles Saatchi damals 1991 die junge Malerin Jenny Saville mit einigen anderen britischen Künstlerinnen und Künstlern zu einer «Bewegung» zusammengeschweisst hat (Sie wissen schon, die young british artists, die YBAs), habe ich mir selbst immer wieder Fragen über sie gestellt. Hier einige Antworten – so etwas wie meine Wahrheit über Jenny. Die Ihre finden Sie nur auf eine Art heraus: indem Sie die Ausstellung anschauen.

Jenny Saville, Porträts aus den Serien «Red Stare», «Stare» und «Bleach»

Jenny Saville, Porträts aus den Serien «Red Stare», «Stare» und «Bleach».

Sind ihre Bilder schön?

Ja. Vor allem die früheren Fleischberge oder die zerschundenen Porträts sind doch unwiderstehlich, finden Sie nicht auch? Diese suggestiv gemalten Brustwarzen, die prallen Bäuche, die schimmernde, atmende, verletzliche Haut sind für mich eine grossartige Antwort auf die Abgeklärtheit von Lucian Freuds dicken Nackten. Der Kurator Oliver Wick hat an der Pressekonferenz gesagt, er hätte sich zunächst überlegt, Lucian Freud zu Schiele zu hängen, sich dann aber für Saville entschieden, weil ihre Werke «leichter» seien. Ist Freud schwer und Saville leicht? Vielleicht in dem Sinn, dass bei Saville das Leben pulsiert; man meint, diese Leiber atmen zu sehen. In Freuds Nackten entdeckt man vor allem das, was sein Grossvater Sigmund «die Realitätskränkung» nannte. Der Körper ist, was er ist. Punktum. (Aber vielleicht waren Savilles Werke für die Ausstellung einfach nur leichter zu bekommen, kann ja auch sein.)

Blicke auf Werke »Ruben's Flapp», «Fulcrum» sowie (rechts): Dank der österreichischen Grosszügigkeit knallen an einer Vernissage im Kunsthaus wieder Korken. Österreich hat den grünen Veltliner und Liptauer-Schnittchen gespendet

Blicke auf die Werke «Ruben’s Flapp» und «Fulcrum». Rechts: Dank der österreichischen Grosszügigkeit knallen an einer Vernissage im Kunsthaus wieder einmal die Korken. Österreich hat den Grünen Veltliner und Liptauer-Schnittchen gespendet.

Ist Jenny Saville ein «Machwerk» von Saatchi und Gagosian?

Nein. Und ja. Natürlich braucht jeder Künstler Unterstützung. Und ich bin dieses Geschnöde über Saatchi irgendwie satt. Man muss sich das vorstellen, damals. Keine Subventionen, eisiger Thatcherismus und das traditionsbewusste England, in dem der gerechte Bürger (bis heute übrigens) bei jeder Erwähnung der zeitgenössischen Kunst sofort einen Protest-Menschenteppich veranstalten möchte. Und dann kam so einer wie Saatchi und sagte der Künstlerin: «Mach, was du für richtig hältst.» Jenny Saville erzählt das selber: Sie wohnte damals in Glasgow und fühlte sich selbst in der eigenen Familie so unverstanden, als ob sie vom Mars käme. Und Saatchi zahlte ihr Leinwand, Farbe, und war bedingungslos unterstützend, ermunterte sie zu den grossen Leinwänden, kaufte ihr alles ab und liess es unbesehen nach London schicken. Natürlich ist Saatchi ein Werber und keine so super zarte Natur, dafür hat er das Herz auf dem richtigen Fleck! Er hat mit Kunst viel Geld gemacht? Na und? Machs nach – das ist schon in die Fassade des Berner Münsters eingemeisselt.

Jenyy Saville vor ihrem Selbstporträt «The Mothers», Blick in den Saal, Vernissagenbesucher legen eine Ruhepause ein

Jenny Saville vor ihrem Selbstporträt «The Mothers», Blick in den Saal, Vernissagenbesucher legen eine Ruhepause ein.

(Über Gagosian lasse ich mich ein anderes Mal aus. Nur so viel: Galeristen, die ich mag, mögen den nicht. Von mir aus könnte Jenny S. den Galeristen wechseln. Gemacht hat er sie aber auch nicht, denn Gagosian nimmt lieber die schon Gemachten in sein Programm).

Dr. Elisabeth Leopold (links),  ein Blick auf Savilles «Rosetta II»,  Oliver Wick (vor Schieles «Tod und Mädchen»)

Dr. Elisabeth Leopold (links), ein Blick auf Savilles «Rosetta II», Oliver Wick (vor Schieles «Tod und Mädchen»)

Sind Schiele und Saville eine gute Paarung?

Kollege Samuel Herzog von der NZZ schreibt etwas von Zwieback und Sahne, und lässt keinen Zweifel daran, was er von einer solchen Kombination hält. Andererseits war der Galerist Etienne Lullin (Lullin + Ferrari) restlos überzeugt. Was zeigt, dass auch äusserst kritische Geister einer solchen ungewöhnlichen Gegenüberstellung etwas Besonderes abgewinnen können. Mir wäre Schiele allein genug. Oder Saville allein. Mir sind die beiden aufs Mal zu viel. Aber zu viel ist manchmal auch gut. Ich habe mir erlaubt, Dr. Elisabeth Leopold, die Gründerin der Wiener Stiftung Leopold, die an der Vernissage dabei war, danach zu fragen, ob ihr die Ausstellung gefällt. Schliesslich hat sie dem Kunsthaus «ihren Schiele», wie es Wick an der Pressekonferenz ausplauderte, überlassen. Die für ihre Direktheit bekannte Wienerin (die 88-jährige Augenärztin hat mit ihrem Mann Rudolf Leopold die berühmte Sammlung aufgebaut) hat mich leicht strafend angesehen und geantwortet: «Ich muss vorsichtig sein.» Das Kunsthaus war mit der Paarung unvorsichtig, sprich wagemutig. Allein das ist in meinen Augen schon eine grosse Tugend.

Zeichen und Wunder

Ewa Hess am Dienstag den 7. Oktober 2014

Ein unsichtbarer Faden verbindet das ferne Georgien und die Schweiz. Vielleicht weil es zwei kleine Länder mit einigen sehr reichen Einwohnern sind. Und weil sie beide Kunst lieben. Die Eröffnung von «Echolot» im Ausstellungsraum Binz 39 war jedenfalls geprägt von prickelnder Nostalgie und kluger Gesellschaftsanalyse.

Was: Echolot, Gruppenausstellung mit Künstlern aus der Schweiz und aus Georgien
Wann: Donnerstag, 2. Oktober
Wo: Ausstellungsraum der Stiftung Binz 39, Sihlquai 133 in Zürich

Die beiden Kuratorinnen von «Echolot»: Irene Grillo (Binz 39) und die georgische Nachwuchs-Kuratorin Ana Gabelaia (mit blauem Haar). Links: Gönnerverein-Leiter Dr. med. Gianni Garzoli

Die beiden Kuratorinnen von «Echolot»: Irene Grillo (Binz 39) und die georgische Nachwuchskuratorin Ana Gabelaia (rechts). Links: Gönnervereinsleiter Dr. med. Gianni Garzoli

Bice Curiger hat 1995 den georgischen Bazillus in Zürich ausgesetzt. Mit der Ausstellung «Zeichen und Wunder» im Kunsthaus feierte sie den grossen georgischen Naiven Niko Pirosmani im Kreise zeitgenössischer Westler. Auch wenn «Der Bund» damals heutige Grössen wie Robert Gober und Katharina Fritsch als minderwertig abkanzelte, Pirosmani vergass man hierzulande nie mehr.

Thomas Haemmerli, Alena Boika: Sowjetische Mosaiken in Georgien; Frances Belser: «Love Letters to a Eurodream»; Lisa Biedlingmaier: «Bitten, auffordern und sich bedanken»

Von links: Thomas Haemmerli, Alena Boika: Sowjetische Mosaiken in Georgien; Frances Belser: «Love Letters to a Eurodream»; Monika Stalder: «76 Postcards»

Der frisch gewählte Leiter der Kunsthalle Zürich, Daniel Baumann, erforschte später erfolgreich den georgischen Modernismus, eine Blütezeit der Kunst in der kurzen Periode der georgischen Unabhängigkeit 1918–1921, kurz vor der Sowjetisierung des stolzen Landes. Und als Henry F. Levy, der Gründer der Binz 39 und grösster privater Künstlerförderer der Schweiz, 2011 begann, in Zusammenarbeit mit Georgien Austausch-Ateliers für Schweizer und Georgier anzubieten, wandelte sich die Verwandtschaft in einen Strom kontinuierlicher Beeinflussung und Befruchtung.

Künstler Mark Divo, Journalist, Filmer und Künstler Haemmerli, Ana roldan vor ihrem Werk «Different Orders»

Künstler Mark Divo, Journalist, Filmer und Künstler Thomas Haemmerli, rechts: Ana Roldan vor ihrem Werk «Different Orders»

Eigentlich wollte man mit dem «Echolot» die Früchte dieses Austausches feiern. Doch als die Binz-39-Stipendiatin Ana Gabelaia ans Kuratieren der Ausstellung ging, nahm sie mit grosszügiger Geste noch einige weitere Georgien-Grenzgänger dazu. Nicht zuletzt Thomas Haemmerli, den Journalisten mit untrüglichem Gespür für Zeitphänomene, bekannt für seinen Kult-Dok-Film «Sieben Mulden und eine Leiche». Aber auch den grossen Koka Ramischwili, den in Genf lebenden georgischen Multimedia-Künstler.

Die Ausstellung geht mit einer Audio-Installation «Thermophon» von Monika Schori und Franziska Koch los. Noch bevor man die Treppe zum Ausstellungsraum  hochsteigt, hört man schon den treibenden Rhythmus, der die industrielle Vergangenheit eines Quartiers von Tiflis evoziert. Lisa Biedlingmaier, eine in Zürich lebende Tochter deutsch-georgischer Aussiedler, hat Spracherwerbsituation als eine universelle Metapher der Völkerverständigung (oder eben Völker-Missverständigung) inszeniert.

Als wir die Ausstellung verlassen, steigt Henry F. Levy munteren Schrittes die von Monika Stalder mit Rauten verzierte Treppe hoch. Der 89-jährige Geschäftsmann ist als Kind von einer vermögenden jüdischen Familie aus Köln vor dem Krieg nach England gerettet worden. Seit er in der Schweiz lebt, hat der ehemalige Knopf- und Schuhfabrikant einen beträchtlichen Teil seines persönlichen Vermögens in Künstlerförderung investiert. Wer ihn gutgelaunt die steile Treppe hochsteigen sieht, sieht einen schönen Beweis für die Behauptung der österreichischen Künstlerin Maria Lassnig, die Kunst würde einen ewig jung halten.

Künstlerin Monika Stalder mit Andreas Hagenbach, Henry F. Levy steigt die Treppe mit Stalders Rhombenmustern hoch

Künstlerin Lisa Biedlingmayer mit Andreas Hagenbach (der zurzeit eine Ausstellung an einer Ausstellung im Kunstraum Baden teilnimmt), rechts: Stiftungsgründer Henry F. Levy folgt  Stalders Rautenmustern die Treppe hoch.

Die von Levy gegründete und von seiner Frau Lucia Coray bis heute geführte Förderstiftung ist so etwas wie der schnelle Brüter der Schweizer Kunstszene. Ohne Kommissionsaufwand und Einmischung der öffentlichen Hand haben Binz-Betreiber mit einer so sicheren Hand ihre Stipendiaten ausgewählt, dass kaum eine Grösse des helvetischen Kunstwunders nicht ein ehemaliger Binzler ist. Ugo Rondinone, Olaf Breuning, Nic Hess, Urs Fischer, Zilla Leutenegger, auch unsere nächstjährige Vertreterin in Venedig, Pamela Rosenkranz, gehören dazu. Kein Wunder behalten Kuratoren und Sammler den unscheinbaren Ausstellungsraum am Sihlquai 133 fest im Auge.

An der aktuellen Ausstellung bildet Haemmerlis Projekt einen Mittelpunkt. Er hat sich gemeinsam mit Alena Boika auf die Suche nach den sowjetischen Mosaiken in Georgien gemacht und immenses Archivmaterial über diese dekorativ zerfallenden Zeitzeugen aus den 70er-Jahren zusammengebracht. Ein Buch und Film zum Thema sind in Vorbereitung. Pikantes Detail: Der Star der sowjetischen Mosaikszene in Georgien war der heute in Putins Russland gefeierte Kitsch-Bildhauer Zurab Tsereteli, bekannt für sein den Fluss Moskwa in Moskau verunstaltendes Mahnmal Peters des Grossen.

Ana Roldan: «Different Orders»; Koka Ramishvili: ein Still aus dem Video «Drawing lesson»; Lisa Biedlingmaier: «Bitten, auffordern und sich bedanken»

Von links: Ana Roldan: «Different Orders»; Koka Ramishvili: ein Still aus dem Video «Drawing lesson»; Lisa Biedlingmaier: «Bitten, auffordern und sich bedanken»

Damit die Schmelztigel-Stimmung noch dichter wird, hat die Schweiz-Mexikanerin (und Haemmerlis Lebensgefährtin) Ana Roldan in ihrer Arbeit «Different Orders» dem Ganzen noch einen Schuss lateinamerikanische Würze hinzugefügt. Ausgehend von den Lehren des mexikanischen Modernisten Adolfo Best Maugard hat sie den fotografierten Exponaten aus einem archäologischen Museum in Georgien eine Hyperordnung aus Zeichen und Formen aufgesetzt.

Die Vernissage platzt aus allen Nähten. Polyglotter Vernissagentalk und ernsthafte Politdiskussionen wechseln sich ab. Die blauhaarige Gabelaia und Binz’ Hauskuratorin Irene Grillo machen charmant die Honneurs. Die georgische Nachwuchskuratorin fliegt schon am nächsten Tag nach Tiflis zurück. Derweil bereitet sich Künstlerin Lisa Biedlingmaier auf ihre Teilnahme am Artisterium 7 vor, so etwas wie der georgischen Biennale, nur, dass sie jedes Jahr stattfindet. Einige sind gekommen, um Haemmerlis Mosaikenschatz zu bewundern: der zwischen Tschechien und Zürich pendelnde Künstler Mark Divo («Im Bett mit Mark Divo»), Michael Steiners Drehbuchautor Michael Sauter («Sennentuntschi», «Missen-Massaker»), Künstler und Cutter Daniel Cherbuin (hat Haemmerlis Film geschnitten). Für alle Interessierten: Haemmerli hält am 16. Oktober um 18 Uhr einen Vortrag zum Thema. Nicht verpassen.

 

Der Künstler Koka Ramishvili vor seiner Video-Installation, die kleinste Besucherin vor der Flimmerkunstkiste

Der Künstler Koka Ramischwili vor seiner Video-Installation, die kleinste Besucherin vor der Flimmerkunstkiste.

Koka Ramischwilis Video-Installation «Drawing Lesson», eine virtuose Verquickung von Zeichnung und Video, erfreut sich grosser Popularität, auch unter den allerjüngsten Besuchern: Wie gebannt sitzt ein kleines Mädchen vor der Flimmerkunstkiste. Das Geräusch des zeichnenden Bleistifts erzeugt eine geheimnisvolle Soundkulisse. Ramischwili ruft in Vernissagenbegeisterung die zeitgenössische Kunst zur Universalsprache unserer Zeit aus. Tückisch nach seinem Verhältnis zu den Mosaiken aus der Sowjetzeit gefragt, antwortet er mit entwaffnender Ehrlichkeit: Es stimme zwar, dass man in Georgien nicht so gerne an die Sowjetzeit erinnert werde. Doch die Mosaiken begleiteten mit ihrer suggestiven Ikonografie (Pioniere, Traktorfahrer, Arbeitshelden) die Kindheit eines so manchen Bewohners des Landes. Sie zu hassen, würde heissen, die eigene Kindheit zu verraten.

Das sind versöhnliche Töne! Vielleicht sollte man nächstens einen russisch-ukrainischen Austausch ins Zentrum einer Schau rücken. Denn dank der Kunst, da haben Ramischwili und Curiger recht, geschehen tatsächlich noch Zeichen und Wunder, verhärtete Fronten fangen an zu bröckeln.