Oslo calling

Ewa Hess am Dienstag den 30. September 2014

In Brüssel ist die Botschaft vielleicht noch nicht angekommen, doch aus Oslo haben wir brandaktuell zu vermelden: Die Schweiz ist Europa, und wie! Die Gruppenausstellung «Europe, Europe» im prunkvollen brandneuen Privatmuseum Astrup Fearnley zeigt die Kunst von morgen, also die ganz junge Kunst von heute. Und da ist die Schweiz ganz vorne mit dabei.

Was: Gruppenschau «Europe, Europe» im Astrup Fearnley Museum in Oslo
Wann: 18. September 2014 bis 1. Februar 2015
Wo: Oslo, auf der Halbinsel Tjuvholmen, einem schicken Neubauquartier mit Strand

Fischli/Weiss-Häuschen im Museumspark, Skulptur von Louise Bourgeois, Renzo Pianos Astrup Fearnley Museumskomplex

Fischli/Weiss-Häuschen im Museumspark, Skulptur von Louise Bourgeois, Renzo Pianos Museumskomplex.

Schon der Titel der Schau weist in die Schweiz. Einer der Kuratoren ist schliesslich der Kunstpate Hans Ulrich Obrist. (Mit der Bezeichnung Pate will ich übrigens gar nicht irgendwelche finstere Mafia-Vergleiche evozieren. Ganz im Gegenteil, so viel wie der allgegenwärtige Globalkurator Obrist für die ganz junge Generation tut, das soll ihm mal einer nachmachen! Pate also gleich Götti.) Und Obrist verrät, dass er sich für den Titel «Europa, Europa» wegen Dürrenmatts «Besuch der alten Dame» entschied. Dort wiederholen sich die Sätze der Güllener im bedrohlichen Rhythmus. Na ja, um Gerechtigkeit, wie bei Dürrenmatt, geht es in der Osloer Schau nicht. Doch die raumgreifende Arbeit des neuseeländischen Künstlers Simon Denny im Hauptraum der Ausstellung hat durchaus etwas Bedrohliches an sich. Es geht darin um ritualisierte Corporate-Kultur bei der koreanischen Firma Samsung.

Simon Denny grosse Installation «New Management» zur Corporate-Kultur, hier der koreanischen Firma Samsung

Simon Dennys grosse Installation «New Management» zur Corporate-Kultur der koreanischen Firma Samsung.

Die alte Mme Zachanassian, die im «Besuch» ihr Heimatdorf straft, hat übrigens – erinnern wir uns – ihre Milliarden von den Ehemännern im Öl- und Reedergeschäft geerbt. Ha! Das passt, denn das Museum, in dem «Europe, Europe» gerade ausgerufen wird, hat ein Mann bauen lassen, der den Schiffen und dem Öl auch einige Milliarden zu verdanken hat: Hans Rasmus Astrup, im reichen Norwegen einer der Reichsten. Um Astrups eindrückliche Sammlung der globalen Kunsttrophäen zu beherbergen (Koons! Hirst! Murakami! etc.), hat Renzo Piano ein grosses Wikingerschiff aus Holz und Stahl entworfen, das in Oslos Quartier Tjuvholmen auf ewiger Lauer zu liegen scheint.

Museumbesitzer und Schiffbau-Tycoon Hans Rasmus Astrup mit der norwegischen Königin Sonja an der Inauguration seines Museums 2012, Museumsdirektor Gunnar Kvaran (rechts, links der Co-Kurator Thomas Boudoux) vor den Gemälden Emil M Kleins, Hans Ulrich Obrist spricht an der Eröffnung zur jungen Gemeinde

Museumbesitzer und Schiffbau-Tycoon Hans Rasmus Astrup mit der norwegischen Königin Sonja an der Inauguration seines Museums 2012, Museumsdirektor Gunnar Kvaran (rechts, links der Co-Kurator Thomas Boutoux) vor den Gemälden Emil M Kleins, Hans Ulrich Obrist spricht an der Eröffnung zur jungen Gemeinde.

Hans Rasmus Astrup ist an der Vernissage anwesend, ein grosser Mann mit gesund geröteten Wangen – Fischer und Jäger ist er auch. Und natürlich die Schweizer Delegation, nebst dem HUO und dem von ihm ernannten Kurator Fredi Fischli auch noch Künstler Kaspar Müller, Fabian Marti, der Kurator Arthur Fink und Galeristin Karolina Dankow. Zudem hat Norwegen in der Person von Katya Garcia-Anton auch noch ein in der Schweiz bekanntes Gesicht im Kunstkader: Die ehemalige Direktorin des Centre d’Art Contemporain in Genf ist seit 2011 die Leiterin des OCA, also von so etwas wie der norwegischen Kunst-Pro-Helvetia.

Schweizer mischen sich in Europa ein: Künstler Kaspar Müller, Kurator Fredi Fischli, Galeristin Karolina Dankow, norwegische Künstlerkollegen Ignas Krunglevicius und Tori Wranes

Schweizer mischen sich in Europa ein: Künstler Kaspar Müller, Kurator Fredi Fischli, Galeristin Karolina Dankow, norwegische Künstlerkollegen Ignas Krunglevicius und Tori Wranes.

Aber zurück zur Generation Post-Internet. Welt offline kennen ihre Vertreter, nach 1980 geboren, nur aus Erzählungen. Für die ist ein Gemälde so etwas wie ein kaputter Monitor. Ihre Welt ist im ständigen Fluss der Bilder begriffen. Kein Wunder, steht man zunächst etwas ratlos vor mancher Installation, in der gleichzeitig mehr passiert, als man Augen und Ohren hat. Der Museumsdirektor und Spiritus rector der Schau, der Isländer Gunnar Kvaran, führt das Phänomen Post-Internet auf drei Faktoren zurück. Erstens Schengen. Weil man seit dem Grenzöffnungsabkommen ungehindert reisen kann, was zu einem noch intensiveren Austausch unter den Jungen führt. Zweitens Bologna. Weil die Kunstschulen seit der europaweiten Universitätsreform ihren Fokus nicht mehr auf die ästhetische Ausbildung legen, sondern Konzepte unterrichten. Das führt dazu, dass statt Künstlern philosophisch versierte Intellektuelle die Kunstschulen verlassen. Drittens – na eben. Sie wissen schon. Die grosse Wissens- und Bilderschleuder Internet.

Kaspar Müllers Installation, Camille Henrots Anspielungen an die Moderne. Stein-Installation Tori Wranes': Steckt die Künstlerin drin?

Kaspar Müllers Installation, Camille Henrots Anspielungen an die Moderne. Toni Wranes’ Stein-Installation.

Damit kommen wir zur zweiten Eigenheit der Post-Internetler: Sie lieben Geschichte. Schliesslich ist das Internet nichts anderes als ein grosses, grosses Archiv, in dem alles irgendwie gleichzeitig existiert. So malt der andere Schweizer, Emil M Klein, in einem Stil, der an die geometrisch-realisitische Strömung des Abstrakten Realismus gemahnt, etwa Elsworth Kelly. Das fällt auch Kvaran auf. Doch er gibt sofort wieder Entwarnung: Dieser Flirt mit der Moderne heisst noch lange nicht, dass sich die Werke auch ihrem Inhalt nach gleichen. Es sei eine Koketterie, die die eigentlich konzeptuelle Beschaffenheit der Malerei nur kaschiert.

Es zeigt sich deutlich: Auch diese philosophisch aufmunitionierte Kunst überzeugt vor allem dann, wenn sie ästhetisch einen adäquaten Ausdruck findet. Die ganze heterogene Szene, in der alle gleichzeitig Künstler, Kuratoren, Galeristen, Ideologen, Konzeptmacher, Bildhauer, Maler Fotografen und Videofilmer sind, ist der Humus, auf dem die Fähigkeit eines Einzelnen, ein unvergessliches Kunstwerk zu erschaffen, sich entwickeln kann.

Wie dem auch sei, die Schweizer Ecke mit der grossen Installation von Kaspar Müller und den Gemälden Kleins sieht wunderbar aus. Dort finden auch die Reden statt. Beide Künstler stammen aus dem Stall der Galeristin Francesca Pia, der ursprünglich Berner Unentwegten mit dem Flair fürs Authentische. Ihre seit einigen Jahren nach Zürich umgesiedelte Galerie im «zweiten Löwenbräu», den Räumen an der Limmatstrasse 268, vereint Tradition mit «cutting edge» Moderne.

Pamela Rosenkranz , eine Künstlerin von «Karma International», hat in Oslo einen eigenen Raum erhalten. Die intellektuellste unter den jüngsten Schweizern wird uns bald an der Biennale in Venedig vertreten. Eiskalt richtet die Wissenschafterin unter den Jungkünstlern die Illusion der Integrität des menschlichen Körpers und Geistes hin. Ihre gleichgültige Stimme zählt im dunklen Raum der Osloer Ausstellung detailliert die fatalen Folgen der toxischen Farbe Ultramarin auf den menschlichen Körper auf. Yves Kleins Ultramarin, von einem seiner Gemälde abgefilmt, wird unterdessen mit einem Beamer auf die Wand des dunkeln Raumes projiziert. Der Name des Werks: «The Death of Yves Klein». Klein soll ja am Gift seiner eigenen Erfindung, des International Klein Blue, gestorben sein.

Katya Garcia-Anton, ehemals Centre d'Art Contemporain in Genf, jetzt die norwegische Mme Kunst, Festsaal im Museum, Künstler Fabian Marti und Lena Henke auf der Treppe des Künstlerhauses

Katya Garcia-Anton, ehemals Centre d’Art Contemporain in Genf, jetzt die norwegische Mme Kunst, Festsaal im Museum, Künstler Fabian Marti und Lena Henke auf der Treppe des Künstlerhauses.

Sterben tut in Oslo indes niemand. Ganz im Gegenteil! Nach dem Fischbuffet inmitten eines gigantischen Werks von Anselm Kiefer schlendert man gemeinsam in das Haus der Künstler, wo der Abend bei viel Bier ausklingt. Die Osloer Kunstgemeinde zeigt sich von der gastfreundlichen Seite. Künstler wie Ignas Krunglevicius, eigentlich ein Litauer, und die Performerin Tori Wranes fragen mit ungläubig blinkenden Blicken, ob es stimmt, dass es in der Schweiz so viele Sammler gäbe. In Norwegen, erzählen sie, sammle ausser des alten Herrn Astrup kaum jemand. Die norwegischen Künstlersubventionen seien aber so grosszügig, dass sie ihre Werke gar nicht zu verkaufen bräuchten. Irgendwie wehmütig klingt das schon. Und wie sie die Schweizer Kollegen anschauen: Als ob gut genährte Zootiger die sich in der Wildnis erfolgreich durchschlagenden Raubtiere beobachten würden.

Hello and goodbye

Claudia Schmid am Dienstag den 23. September 2014

Was für ein heiterer Mensch! David Lamelas streift durch die Kunsthalle und plappert viersprachig mit den Gästen, als sei er mit allen befreundet. Der 68-jährige Argentinier setzt sich auch mal hinter die Ticketeria und ruft mit dem Festnetztelefon mitten im Gewühl seine Schwester in Buenos Aires an. Er erreicht sie dann allerdings nicht. Lamelas (sprich: LAmelas, nicht LamelAS), ein Pionier der Konzeptkunst der 60er- und 70er-Jahre, verwandelt sich später in einen Zauberkünstler und zelebriert eine Performance, an der auch Adam Szymczyk, Direktor der Kunsthalle, teilnimmt. Dieser bleibt noch bis Ende Oktober, danach ruft ihn die Documenta nach Kassel.

Was: Die Ausstellungseröffnungen «David Lamelas, V» und «Festival of the Eleventh Summer»
Wo: Kunsthalle Basel
Wann: Samstag, 20. September, 19 Uhr. Ausstellungsdauer bis 2. resp. 16.11.2014

Trotz der gleichzeitig stattfindenden Benefizgala in der Fondation Beyeler (der Abend war sehr schön!) fanden unentwegte Kunst-Aficionados am Samstagabend den Weg in die Kunsthalle Basel zur Eröffnung der zwei neuen Ausstellungen. Es gab genug Tannenzäpfle, das süddeutsche Hausbier der Kunsthalle, und man stand sich nicht auf den Füssen herum.

Kuratorin Mara Berger, Noch-Kunsthalle-Chef Adam Szymczyk mit dem legendären Lamelas, Kurator Fabian Schöneich mit dem Künstler Raphael Hefti

Co-Kuratorin Mara Berger, Noch-Kunsthalle-Chef Adam Szymczyk mit dem ausstellenden Künstler, der Konzeptkunstlegende David Lamelas, Kurator Fabian Schöneich (soeben an den Portikus in Frankfurt berufen) mit dem Künstler Raphael Hefti.

Das war gut so, denn die Ausstellung von David Lamelas (kuratiert von Ruth Kissling mithilfe von Mara Berger) brauchte Luft und Platz, um ihre Wirkung zu erzielen. Lamelas’ Arbeit «Time» etwa besteht nur aus zwei Fotografien und einer weissen Linie auf dem Boden. Die Linie soll die Besucher dazu auffordern, sich nebeneinander in eine Reihe zu stellen.

Das machen die Gäste Punkt 20 Uhr auch brav – denn Lamelas bittet zur Performance. Nach 1970, als er in den französischen Alpen diese erstmals aufführte, soll an diesem Abend die seither erste Wiederholung stattfinden. Die Performance geht so: Die erste Person der Reihe – in diesem Fall Adam Szymczyk – nennt die Zeit, zählt still eine Minute hinunter und lässt dann den Nachbarn eine Minute weiterzählen. Lamelas, der einen weiten, glänzenden Mantel trägt und die Leute anweist, sieht jetzt tatsächlich aus wie ein Zauberkünstler. Und es ist lustig zu sehen, wie nervös gewisse Leute sind, weil sie auf dieser Linie gefangen sind und warten müssen, bis sie mit Zählen dran sind.

Tannzäpfli-Biel, Lamelas ruft die Schwester in buenos Aires an, die Zeit-Performance geht los

Tannenzäpfle-Bier, Lamelas ruft die Schwester in Buenos Aires an, die Zeit-Performance.

Viele Gäste, darunter (Nachwuchs-)Künstler wie Gina Folly (betreibt in Zürich mit Freunden das Offspace Taylormacklin), Kilian Rüthemann (im Stiftungsrat der Kunsthalle Basel), Raphael Hefti oder Fabio Pirovino, machen nicht mit und gehen Bier trinken. Andere, etwa Liste-Chef Peter Bläuer, harren auf der Linie aus. Es wird eine gute halbe Stunde dauern, bis die gut 30 Leute ihre Minute durchgezählt haben – also gehts in der Zwischenzeit ab in die zwei weiteren Räume der Ausstellung.

Auch im Video «18Paris IV.70» (1970) beschäftigt sich Lamelas mit der Zeit. Es zeigt drei Freunde des Künstlers, darunter Daniel Buren, die je drei Minuten an drei verschiedenen Orten in Paris gefilmt werden. Ohne dass die Akteure viel machen, vergehen jeweils drei Minuten. Im Handyzeitalter, wo man kaum eine «leere» Minute verbringen kann, ist das Video kaum auszuhalten. Man wird total nervös und wartet darauf, dass die drei Minuten endlich vorbeiziehen.

Das Spiel mit der Zeit ist ein Hauptthema des Biennale-Teilnehmers von 1968, dessen Kunstwerke nicht nur aus Performances und experimentellen Filmen, sondern auch aus Skulpturen und Fotos bestehen. Weder geografisch – er pendelt zwischen Los Angeles, Paris und Buenos Aires – noch «medientechnisch» ist Lamelas ein steter Mensch. Den Moment, also die Zeit, in Kunst zu fassen, gibt ihm ein Zuhause.

Historische Performance-Fotos von David Lamelas: In der Mitte mit Hildegard duane bei den Dreharbeiten zum Film «Diktator», rechts ein Filmstill aus 18Paris IV.70

Historische Performance-Fotos von David Lamelas: In der Mitte mit Hildegarde Duane bei den Dreharbeiten zum Film «The Dictator», rechts ein Filmstill aus «18Paris IV.70».

Apropos zu Hause: Adam Szymczyk verlässt demnächst seine zweite Heimat Basel, wo er zehn Jahre gelebt hat, und geht nach Kassel, wo er bekanntlich Documenta-Chef wird. Ende Oktober soll es einen Abschiedsapéro für ihn geben – allerdings weiss Szymczyk das Datum nicht auswendig. «Ich glaube, es ist am 30. Oktober.» Was er an Basel vermissen werde? «Everything!», sagt er knapp – wie das der Stil des wortkargen Polen ist. Doch «alles», das sagt doch alles. Elena Filipovic, die per 1. November seine Nachfolgerin wird (und übrigens wie er einen slawischen Namen trägt, wenn sie auch in den USA aufgewachsen ist), zieht erst Ende Oktober nach Basel – sie war an der Vernissage nicht anwesend.

Fakt ist: Szymczyks Weggang hat im Kunsthalle-Team für Veränderung gesorgt. So wechselt Kurator Fabian Schöneich zum Frankfurter Ausstellungshaus Portikus. Die Ausstellung «Festival of the Eleventh Summer», die im Parterre der Kunsthalle parallel zu Lamelas Schau eröffnet wird, ist denn die letzte, die Schöneich kuratiert.

Ronnie Füglister, der das Ausstellungsplakat und die neue Website der Kunsthalle entworfen hat, Künstler Fabio Pirovino und Gina Folly, das Programm des historischen Festivals «of tenth summer»

Ronnie Füglister, der das Ausstellungsplakat und die neue Website der Kunsthalle entworfen hat, Künstler Fabio Pirovino und Gina Folly (Mitte), das Programm des historischen «Festival of the Tenth Summer» in Manchester.

Der Titel bezieht sich auf das «Festival of the Tenth Summer», das 1968 in Manchester stattfand und an dem Konzerte, Mode, Bandvideos oder Fotoausstellungen gezeigt wurden. Das Kunsthalle-Festival ist ebenfalls eine Hommage an die Musik und zeigt etwa die Plattencoversammlung des ehemaligen Kunstleiters der HGK, René Pulver, der auch anwesend ist. Podiumsdiskussionen und Konzerte sind genauso geplant wie wechselnde Videoarbeiten. Schöneich möchte mit seinem Festival explizit die Rolle von Kulturinstitutionen wie der Kunsthalle hinterfragen. Doch reicht das öffentliche Rahmenprogramm, um «unterschiedliche Bevölkerungsschichten der Stadt» anzuziehen? Am 16.11, wenn das Festival fertig ist, weiss Schöneich mehr.

Was wir wissen: Das erste Konzert des Portugiesen Garcia da Selva, der auf die Tasten seines Pianos einschlug, machte etwas Kopfweh. Aber vielleicht war es auch das warme Wetter.

Sagt Fischli

Ewa Hess am Dienstag den 16. September 2014
Private View

Feiert sein Debut als Kurator: Peter Fischli im Kunsthaus. Foto: Dominique Meienberg

Peter Fischlis Debüt als Kurator hat Zürich elektrisiert. Ausgerechnet Hodler! Die halbe Stadt war unterwegs zur Vernissage am Heimplatz. Diese Eröffnung enttäuschte auch nicht: Nicht nur ist die Ausstellung Weltklasse. Es gab auch noch besondere Vorkommnisse, inklusive einer mysteriösen Lightshow. (Zur gleichen Zeit und an der Rämistrasse um die Ecke feierte Galerie Mai 36 Eröffnung. Privateview-Autor Giovanni Pontano berichtet darüber hier).

Was: Die Ausstellung «Ferdinand Hodler und Jean-Frédéric Schnyder» – kuratiert von Peter Fischli
Wo: Kunsthaus Zürich
Wann: Donnerstag, 11. September 2014 (Pressekonferenz um 11 Uhr, Vernissage um 19 Uhr). Ausstellungsdauer bis 26. April 2015

Das Zürcher Kunsthaus, muss man vielleicht im Vorfeld erwähnen, hat in der letzten Zeit wirklich Pech gehabt und konnte einem ein wenig leid tun. Da lief es doch schon so prächtig mit den Vorbereitungen für den Neubau und dann das: eine Einsprache, die den ganzen Prozess um Jahre verzögern kann. Genug, um gehörig sauer zu werden. Wer weiss, wie lange sich der Kampf um den «Klotz», wie die rekurrierende Stiftung Archicultura den geplanten Erweiterungsbau nicht allzu freundlich nennt, noch hinziehen wird. Und wer weiss, ob nicht inzwischen auch noch andere Menschen in Zürich plötzlich auf die Idee kommen, dass sie statt des Riesenbaus lieber was Leichteres hätten. Hm.

Ehemalige Kunsthaus-Kuratorin, heute Chefin der Fondation Van Gogh in Arles, Bice Curiger, Sotheby's Chef Stefan Puttaert (rechts), in der Mitte: das japanische Fernsehen interviewt den Sammlungskurator Philippe Büttner

Die ehemalige Kunsthaus-Kuratorin und Biennale-Direktorin, heute Chefin der Fondation Van Gogh in Arles, Bice Curiger (l.), Sotheby’s-Direktor Stefan Puttaert (r.), in der Mitte: das japanische Fernsehen interviewt den Kunsthaus-Sammlungskurator Philippe Büttner.

Nichts könnte besser sein, um sich von diesen unliebsamen Querelen abzulenken, als die soeben eröffnete Hodler/Schnyder-Schau. Ja, es ist der gleiche gelassene Charme, der Fischli/Weiss-Werke wie etwa die schwebenden Equilibre-Skulpturen oder die klugen Frageserien auszeichnet, welcher jetzt in den Sammlungssälen des Kunsthauses mit Fischlis Ausstellung bis im April nächsten Jahres zu erleben sein wird. Diese Säle, befreit von den nach Japan ausgeliehenen grossen Werken, bespielt nun Fischli seifenblasenleicht mit Fundstücken aus dem Hodler-Depot. Und fügt die aus Aarau, Bern und aus den Privatsammlungen geliehenen Werke und Werkserien von Jean-Frédéric-Schnyder hinzu. Seltsam, das Kunsthaus hat Schnyder bisher kaum gesammelt.

Zwei Niesen-Ansichten Thunersee-Serie von Schnyder (er malte auch den Niederhorn)

Zwei Niesen-Ansichten aus der Thunersee-Serie von Jean-Frédéric Schnyder.

Ich konnte nicht umhin, als den sympathischen Sammlungskurator Philippe Büttner zu fragen, ob das Kunsthaus jetzt Schnyder-Werke ankaufen werde. Das Kunsthaus freue sich, sagte mir Büttner, dass diese Ausstellung eine Annäherung an den Künstler erlaube. Nun. Jean-Frédéric Schnyder hat vielleicht etwas Sprödes. Im besten schweizerischen Sinn! Das Wichtigtun ist seine Sache nicht. Er unterhält sich lieber über Konkretes als über Abgehobenes und hat seine ganz eigene Vorstellung davon, wie ein Werk unprätentiös ausgestellt werden soll. Doch dass ein Museum Mühe haben sollte, sich ihm zu nähern, das hat man eigentlich noch nie gehört. Schliesslich sind doch Aarau und Bern irgendwie zu ihren schönen Konvoluten gekommen. Fürs Kunsthaus jetzt hat der Künstler netterweise sogar die Saalführer und Werklisten eigenhändig angefertigt (Bild unten). Allerliebst!

Handschriftliche Werkliste, Jean-Frédéric Schnyder im Kunsthaus, (k)ein Autoporträt

Handschriftliche Werkliste, Jean-Frédéric Schnyder im Kunsthaus, (k)ein Autoporträt.

Auch das Genie von Fischli/Weiss liegt darin, dass sie es schaffen, ihre Klugheit in Werke zu verpacken, die komplett frei von Pomp und Pose sind. Das analytische Denken ist dennoch, und war immer schon, ihre Stärke. Auch wenn David Weiss traurigerweise nicht mehr da ist – das Denken ist noch da. Fischli lässt uns grosszügigerweise daran teilhaben.

Peter Fischli im Gespräch mit der Journalistin Angelika Maas, bei der Vernissagenansprache, die Menge stürmt die Ausstellung

Peter Fischli im Gespräch mit der Journalistin Angelika Maas, der Künstler bei der Vernissagenansprache, die Menge stürmt die Kunsthaus-Treppe hoch (v.l.).

An der Pressekonferenz passiert es: Peter Fischli spricht. Als Künstler haben Peter Fischli und David Weiss immer die kluge Taktik verfolgt, die Wirkung ihrer Werke nicht mit vielen Worten zu konkurrenzieren. Als Kurator kann Fischli nun das Schweigen brechen. Ihm zuzuhören ist ein bisschen, wie der Präzisionsuhr (und damit meine ich das Fischli/Weiss-Gesamtkunstwerk) in die Rädchen zu schauen. Man stellt sich vor, um ähnliche Dinge ging es vielleicht bei den Gesprächen der beiden im Atelier, deren Inhalt zu den bestgehüteten Geheimnissen der zeitgenössischen Kunstwelt gehört.

Hodlers «Mädchen mit Blumen»

Ferdinand Hodlers «Mädchen mit Blumen».

In Kürze hier die Ausführungen: Konfrontiert mit der Frage, wie man sich Hodler nähert, tauchte Peter Fischli ins Depot ab. Er fuhr nach Genf, sah sich um. Dann entdeckte er die «Cahiers», Hodlers Notizhefte, die er ständig bei sich trug und die seine ersten Skizzen und Ideen aufnahmen (wie erinnern uns: David Weiss zeichnete auch in Hefte! Sie sind gerade als eine Faksimile-Ausgabe bei der Edition Patrick Frey herausgekommen). «Ich habe mich geweigert, Hodler ikonographisch zu sehen», sagt Fischli. Ihn interessierte, ganz modern, der Prozess.

Schnydis Wanderschuhe und Staffelei, Fischli und Schnyder im Berner-Veduten-Saal, Schnyder spricht mit Parkett-Chefin Jacqueline Burckhardt und Kunstbulletin-Chefin Claudia Jolles

Schnydis Wanderschuhe und Staffelei, Fischli und Schnyder im Berner-Veduten-Saal, Schnyder spricht mit «Parkett»-Chefin Jacqueline Burckhardt und «Kunstbulletin»-Chefin Claudia Jolles (v.l.).

Und dann kam ihm Kierkegaard in den Sinn, ja der olle dänische Existenzialist, der über Wiederholungen sinniert hat. Hodlers heldischer Parallelismus liess sich durchs Prisma der Philosophie in sein Gegenteil verkehren. Denn Kierkegaard wiederholte eine Kutschenfahrt, während der er immer in Fahrtrichtung sass, mal umgekehrt sitzend. So kam nun Fischli zu seiner «Retourkutsche»-Strategie. Hodler als Skizzierer, Blümchenmaler, Ideengenerator. Und dann Schnydi, der geniale Brachialpinsler in Wanderschuhen. Und alles das unter dem Motto: «Die Abwesenheit der Moderne». Stimmts etwa nicht? Hodler gilt als Vorläufer der Moderne, er läutet sie erst ein. Und Schnyder kommt nach ihr, er demontiert sie genüsslich. Dazwischen die grosse Abwesende: Mme M.

Fischlis Kommentare zu den Werken ergötzen in ihrer saloppen Familiarität: «Mutter und Kind» heisst ein Hodler-Bild – es ist eher «Kind und Mutter», lacht Fischli, weil das Kind so gespenstisch feiss und überpräsent im Vordergrund dräut. Oder zu einem Frauenbild des Symbolisten: «sieht aus wie eine Bardame, fehlt nur die Zigi in der Hand!». Man folgt dem listig gelegten Pfad mit lauter Ohs und Ahs. Und am Schluss stolpert man ermattet in den Saal, in dem die hodlersche Fähigkeit, Naturschönheit in ihrer ganzen sublimen Grösse darzustellen, schlichtweg überwältigt. Die Bilder für diesen Saal hat Fischli sogar aus den Büros der Kunsthaus-Leute geklaut. Eins, wunderschön und zurückhaltend, sogar aus dem Büro des Direktors.

Vor dem Licherlöschen: Galerist Peter Kilchmann spricht mit dem Sammler Hans Bollier, Kunsthaus-Direktor mit der Grafikerin und Leihgeberin Franziska Schott (Schott und Schibig), Autorin Katja Früh und Kunsthistorikerin Laurence Frey

Vor dem Licherlöschen: Galerist Peter Kilchmann spricht mit dem Unternehmer und Sammler Hans Bollier, Kunsthaus-Direktor Christoph Becker mit der Grafikerin und Leihgeberin Franziska Schott (Schott und Schibig), Autorin Katja Früh und Kunsthistorikerin Laurence Frey (v.l.).

Am Abend macht der Direktor, Christoph Becker, die Honneurs. Doch Punkt 20 Uhr – da sind die Besucher noch nicht mal eine halbe Stunde in den Sälen, geschieht Unheimliches. Langsam, wie von einer fernen Macht gesteuert, geht das Licht im ganzen Haus aus. Eisige Luft fängt an die Füsse zu blasen, die Vernissagengäste erschauern – was ist bloss los? Wenige Minuten später versuchen noch Unentwegte, in kompletter Dunkelheit die Bilder beim Schein ihrer Handy-Taschenlampen zu ergründen. Andere stolpern tastend die dunkle Treppe hinab. Über ihr, düster, das grosse Wandgemälde Hodlers – die Rache der verschmähten Ikonographie? Wackere Mannen, die Hand zum Schwur erhoben, blicken stumm dem chaotischen Gestolpere unter ihnen zu. Ihren heldischen Parallelismus verstärkt der Schattenwurf der Gitterstäbe des Hauptfensters – der einzigen schwachen Lichtquelle weit und breit.

Bildbetrachtung im Dunkeln, Hodlers Mannen mit Gitter-Schattenwurf

Bildbetrachtung im Dunkeln, dazwischen Hodlers Mannen mit Gitter-Schattenwurf.

(Die Erklärung ist dann simpel: Man vergass, die Nachtautomatik, die Lichter löscht und die Klimaanlage kälter stellt, von 20 auf 21 Uhr umzustellen).

Spaziergang durch Raum und Zeit

Giovanni Pontano am Montag den 15. September 2014

Während im Kunsthaus Zürich zur Vernissage von Hodler und Schnyder unter kundiger Führung von Peter Fischli das Licht ausfiel, fand sich ein munteres Grüppchen von Kunstaficionados zu Gast bei Victor Gisler in dessen Galerie Mai 36 an der Rämistrasse wieder: und es ward Licht!

Was: «memento» – Jacobo Castellano, Luigi Ghirri, Jürgen Drescher, Zoe Leonard, kuratiert von Maria de Corral
Wo: Galerie Mai 36, Rämistrasse 37, Zürich. www.mai36.com
Wann: Donnerstag 11. September (Ausstellung bis 25. Oktober)

Die international arrivierte Kuratorin Maria de Corral (leitete zusammen mit Rosa Martinez im Jahre 2005 die Biennale in Venedig) kuratiert, ja orchestriert meisterhaft eine feinfühlige und poetische Gruppenausstellung von Künstlern der Galerie rund um neue Werke des bei uns noch unbekannten spanischen Künstlers Jacobo Castellano, sie tut das übrigens wie man hört das allererste Mal in einer privaten Galerie (!).

Das Werk des Spaniers steht im Zentrum, es geht von konkreten Gegenständen als Rohmaterial aus, schafft eine ganz eigene Welt voller Erinnerungen und Erfahrungen und konstruiert so eine Vorstellungskraft mit Bildern aus der Vergangenheit. Dies alleine ist eine gute Ausstellung.

Jacobo Castellano, drei aktuelle Werke in der Galerie Mai 36

Jacobo Castellano, drei aktuelle Werke in der Galerie Mai 36

Die Ausstellung wird eine richtig gute, ja eine tolle, in der narrativen Verbindung dieser Werke durch Maria de Corral zu so entgegengesetzten Positionen wie sie die Fotografien von Luigi Ghirri und Zoe Leonard sind. Das Gedächtnis, das Andenken, «Memento», der Echoraum hinter den einzelnen Werken legt so einen erzählerischen Strang frei, der einen ganz selbstverständlich von Werk zu Werk führt, es werden überraschende Verbindungen geschaffen und auch die einzelnen Werke werden im ungewohnten Kontext neu und überraschend aufgeladen.

Zoe Leonard: «Niche», 2002/03, «Artist», 2004/06, «Green Door», 2001/02 (Courtesy Mai 36)

Zoe Leonard: «Niche», 2002/03, «Artist», 2004/06, «Green Door», 2001/02 (Courtesy Mai 36)

Insbesondere den grossartigen Italiener Luigi Ghirri, den Victor Gisler seit einigen Jahren im Programm führt und für eine breitere Sammlerschaft von Kunstfotografien recht eigentlich erst wiederentdeckt hat, erfährt so einen wunderbaren Auftritt. Ausgehend von den Skulpturen des jungen Spaniers Castellano, die einen plötzlich an Werke der arte povera gemahnen, drückt sich in den Aufnahmen Ghirris eine unglaubliche Sehnsucht nach Ästhetik besonders klassischen Vorbilds aus; die perfekt durchkomponierten Fotografien bilden spröde Szenerien ab, die der Künstler mit treffsicherem Auge stilisiert und überhöht. Leere, Sehnsucht, Abwesenheit sind die Themen, die Ghirri meisterhaft inszeniert. Fast würde man meinen, dass damit der Strang imaginär schon weitergelegt wird ins Fotomuseum Winterthur, wo tags darauf der filmische Meister von Sehnsucht und Ästhetik, Michelangelo Antonioni, gefeiert wird.

Luigi Ghirri:  Veneto (Serie: Paesaggio Italiano), 1985-89, Sirmione (Serie: Paesaggio Italiano), 1989,  Roma (Serie: Italia ailati, Topographie-Iconographie), 1977 (courtesy Mai 36)

Luigi Ghirri: «Veneto» (Serie: Paesaggio Italiano), 1985-89, «Sirmione» (Serie: Paesaggio Italiano), 1989, «Roma» (Serie: Italia ailati, Topographie-Iconographie), 1977 (courtesy Mai 36)

Ein angeleiteter Spaziergang durch Raum und Zeit also, so zwanglos schön kann Kunstgenuss sein!

15.09.2014, Giovanni Pontano