Wimper unter der Vorhaut

Ewa Hess am Dienstag den 4. März 2014
Talking head: Ed Atkins als sein eigener Avatar

Talking head: Ed Atkins als sein eigener Avatar

In der Kunsthalle Zürich geht es meist um eine intellektuelle Herausforderung, doch heute wird  auch hochprozentige Oktopustinte ans Volk verteilt. Es ist ein Drink nach dem Rezept von Ed Atkins, dem Künstler, dessen  Monitore in den Räumen der Kunsthalle gerade dröhnen. Atkins, 32 Jahre alt, gilt  als ein artist’s artist, also einer, dessen Einfluss grösser als seine Bekanntheit ist. Immerhin gleicht die Karriere des in Oxford geborenen Briten einer hochfliegenden Kometenbahn. Er hatte eine Einzelausstellung in der Tate Britain und im New Yorker PS 1. Seine Werke wurden an den Biennalen in Venedig und Lyon  gezeigt. Er war writer-in-residence in der Whitechapel Gallery in London. Als einer der wenigen Künstler ist er vertraut mit den Programmierungscodes, er macht buchstäblich seine Spezialeffekte selbst. Grossartig: Die Haut, die Haare, die Poren, seine digitalen Geschöpfe sind gleichzeitig superreal und komplett künstlich.

An der Vernissage an diesem Freitag herrscht eine aufgekratzte, auch ein wenig hysterische Stimmung. Das hängt mit Atkins nervenaufpeitschender Installation zusammen. Ein monströser Kopf, manchmal ohne,  manchmal mit Körper, singt, schreit und murmelt zum kraftvollen Sound in die Menge hinein. «Von Manipulation versteht er etwas», sagt  Kunsthalleleiterin Beatrix Ruf,  mit einem diabolischen Leuchten im Auge. Die Direktorin mag es, ihre Stadt zu einer künstlerischen Denksportaufgabe herauszufordern. Unter den Gästen sieht man Hansruedi Reust, Professor an der HdK in Bern und den Direktor des Kunstmuseums St. Gallen, Roland Wäspe, in einem dunklen Saal wie versteinert den schwarzen Versen lauschen. Atkins braucht starke Metaphern, etwa die einer Wimper, die er unter der Vorhaut seines Liebhabers entdeckt. Aus dieser ekliger, vermutlich stinkender Wimper folgen lyrische Litaneien über die Sehnsucht nach der Liebe, nach dem anderen Körper, nach einem Körper der Liebe überhaupt.

Der sprechende Kopf  klagt  und flucht. Wäre das nicht eine brillante HD-Computeranimation, könnte man meinen, der Geist Allen Ginsbergs sei in die Monitore geschlüpft. Das Ganze hat etwas Archaisches und Anarchisches an sich. Es ist als ob der von Freud einst entdeckte Bewusstseinstrom  dem digitalen Golem hier aus dem Mund flösse. Gespenstisch und schön.

Die Ausstellung heisst Un-Like. Ein Manifest gegen das überpräsente Like der social media? Atkins’ klagende, singende Ungeheuer sind verführerisch wie die Sirenen. Gleichzeitig spukt in ihnen eine geballte Ladung animalischer Verzweiflung. Das randalierende, leidende menschliche Tier spricht zu uns aus seinem wunderschönen digitalen Gefängnis. Er wolle gegen die Unsterblichkeit ankämpfen, sagte mal Atkins in einem Interview. Ohne Tod kein Eros. Alles klar?

New kid in town

Ewa Hess am Montag den 3. März 2014
Geht es hier zum Plymouth Rock?

Plymouth Rock: eine Rampe führt zur Kunst

Grosse Galerien drängen nach Zürich, weil es hier etwas zu holen gibt: Paradeplatz ist eine gute Passantenlage für Millionäre. Zu gute, findet Mitchell Anderson. Sein Off-Space Plymouth Rock bietet ein Kontrastprogramm zum gentrifizierten Löwenbräu. Es ist eine Glasbude im Level 1 der ausrangierten Spiralgarage beim Letzigrund –  ihr ehemaliges Kassenhäuschen. Am regnerischen Tag der ersten Vernissage leuchtet es wie ein UFO im feuchten Halbdunkel der Garage.

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Neu-Galerist Mitchell Anderson (links) und sein Künstler

 

Mitchell, aufgewachsen in Chicago, lebte zuletzt in Texas. In Zürich ist er erst seit einigen Monaten. Lang genug, um eine Lücke im Kunstbetrieb der Stadt auszumachen: Kunst, die nirgends ist und irgendwo sein sollte. Den Ort mit Underground-Touch hat Anderson zufällig entdeckt und – beginners luck – sofort mieten können. Er hofft auf Zürcher und Expats und auch darauf, dass sie hier miteinander ins Gespräch kommen. Sein erster Künstler, Adam Cruces, ist ein echter Texaner, als Student der HdKZ bereits produktiv eingeschweizert. Seine Werke sind witzig, wenn sie auch den Anspruch des Noch-Nicht-Da-Gewesenen noch nicht so ganz erfüllen. Mit ultravioletter Tinte gemalten kleinen Gemälde erinnern an Künstler des 20. Jahrhunderts wie Henri Matisse, Keith Haring oder Paul Cézanne.

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Adam Cruces: Ultraviolette Hommage an Matisse

Werke aus Gläsern, an Stangen befestigt, führen kleine Kunststücke vor. In jedem Glas ist eine metallene Erinnerung an durchtanzte Nächte versenkt. Bierflaschenöffner, Schlüssel, Nippes, die in ihrem wässrigen Gefängnis erodieren. Die Ausstellung hat etwas Nonchalantes, Bewegtes – das ist  ihr grösster Reiz.

Adam Cruces: Gläser machen Kopfstand

Adam Cruces (rechts): Kunststücke mit Gläsern

Ein Objekt  mit wulstigem gelben Boden in der Mitte des Raums zieht die Blicke auf sich. Hommage an Matthew Barney? Nein, das Ding ist keine Kunst, es gehört zur Garage. Die gelben Wülste sind  Isoliationsmaterial. Die Eröffnung erfreut sich trotz Kälte und Regen eines guten Zuspruchs. Im nahe gelegenen Letzistadion spielt GC gegen FCZ, Petarden steigen. Die Kunst-Aficionados biegen unbeirrt in den dunklen Garageneingang ein, steigen die Rampe hoch.  Es werden neben anderen auch der Kunstkritiker Martin Jaeggi und der Kurator Fredi Fischli gesichtet.

Zürcher Herausgeber, Dozent und Kritiker Martin Jaeggi weiht das neue Offspace ein

Die Durchmischung nimmt ihren Lauf an der Eröffnung des neuen Offspace im Zürcher Kreis 3

Mitchell nennt seine Galerie Plymouth Rock. So heisst der Stein, mit dem die Mayflower-Siedler in Amerika den Ort ihrer Ansiedlung gekennzeichnet haben. Das soll laut Mitchell nicht als kolonialer Übergriff gedeutet werden. Was er mit dem Symbol assoziiert, ist die Energie eines Neuanfangs. Keine Infrastruktur, kein didaktisches Programm, dafür der Thrill vom Authentischen, Unverfälschten. Es muss nicht immer alles perfekt sein, will er zeigen. Und eine Spontaneität an die Limmat verpflanzen, welche arme Länder besser hinkriegen als reiche. Seine Heimat, die USA, gehört vielleicht neuerdings zu den ersteren.