Die Kunst und die Wissenschaft sind ja Schwestern, und selten war das so offensichtlich wie heute. Die zeitgenössische Kunst, ihrem konzeptuellen Entwicklungspfad folgend, gefällt sich in der Erforschung der neuen Territorien ganz nach dem «Raumschiff Enterprise»-Motto «Where no man has gone before». In «Star Trek» war damit der Weltraum gemeint, doch, liebe Leserinnen und Leser, auch bei uns auf der alten Kugel Erde gibt es noch Unerforschtes! Und wie. Ich war letzte Woche in Wien, wo gerade eine Delegation des Volkes Huni Kuin aus dem Amazonas weilt, und durfte einen kurzen Blick in die Geheimnisse der Urwalds werfen. Ich sage nur: wow!
Was: Ausstellung «Aru Kuxipa – Sacred Secret», Ernesto Neto und die Huni Kuin
Wo: Thyssen-Bornemisha Contemporary (TBA 21) im Augarten, Wien
Wann: Noch bis 25. Oktober 2015

Delegation aus dem Urwald: Die Gäste aus dem Volk der Huni Kuin mit der traditionellen Gesichtsbemalung und dem Kopfschmuck.
TBA 21 steht für Thyssen-Bornemisza Contemporary (wobei 21 das 21. Jahrhundert meint). Thyssen-Bornemisza als Name andererseits ist in der Schweiz alles andere als ein Fremdwort: Baron Hans Heinrich Thyssen-Bornemiszas Weltklasse-Kunstsammlung, einst in der Villa Favorita in Lugano untergebracht, empfindet mancher Kunstliebhaber immer noch als einen empfindlichen Verlust für die Schweiz. Die Sammlung verliess Lugano 1993 und ist jetzt in Madrid zu Hause – im Museo Thyssen-Bornemisza, vollgepackt mit den schönsten Bildern von Holbein, Cranach, Dürer, Ghirlandaio, Gauguin, Van Gogh und, und, und… Damals war es ein Thema, ob die Schweiz auch genug getan habe, um die Sammlung zu halten. Nun ja, es ist eh zu spät, um die Sache zu erörtern, eins ist aber sicher: Lugano, wo man jetzt mit dem neuen Kulturzentrum LAC das kultivierte Image zu reparieren versucht, würde mit der Thyssen-Sammlung heute ganz anders dastehen.

Die Hausherrin Francesca von Habsburg (ganz links und rechts) nimmt Teil an den Ritualen der Huni Kuin.
Das Wiener TBA 21 ist eine Initiative der Tochter des Barons, die ganz in der Tradition ihrer Familie eine beherzte Kunstförderin ist und mit ihrem Engagement ganz neue Wege beschreitet: Ich spreche von Francesca von Habsburg. Eine geborene Thyssen-Bornemisza, hat die Gründerin von TBA 21 durch ihre Verbindung mit Karl von Habsburg-Lothringen in die einst kaiserliche Familie eingeheiratet, sodass sie, wäre das alte Europa noch intakt, heute Kaiserin von all den farbigen Ländern wäre, die einst unter der k. u. k. Krone vereint waren. Zurückschauen ist indes ihre Sache nicht. Kunst versteht Frau von Habsburg als Abenteuer und als ein Instrument der Welterkenntnis. Ganz im Sinne der alten Symbiose der Wissenschaft und der Kunst. Der isländisch-dänische Künstler Olafur Eliason etwa hat schon unter ihrer Ägide seine «Little Suns» kreiert, kleinste sonnenbetriebene Kraftwerke, die mobile Modernität auch in den elektrisch unerschlossenen Teilen der Welt ermöglichen.
Überhaupt, das Ursprüngliche, ganz Alte, Verborgene und Unerforschte mithilfe der modernsten Errungenschaften des menschlichen Geistes erstens zu bewahren und zweitens für die sinnvolle Entwicklung des Planeten fruchtbar zu machen, könnte als ein Motto über der Tätigkeit von TBA 21 stehen. Zum Programm der Stiftung gehören auch Expeditionen in entlegene Winkel des Planeten auf dem stiftungseigenen Expeditionsschiff Dardanella. Wissenschafter, Künstler und Denker sind jeweils an Bord.
Zu den Kontakten mit den Huni Kuin ist TBA 21 über die langjährige Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Starkünstler Ernesto Neto gekommen. Seit mehreren Jahren ist Neto fasziniert von dem indigenen Volk, welches im Amazonasgebiet Brasiliens und Perus lebt. Erste Kontakte mit der Zivilisation waren für die Huni Kuin (oder Kaxinawa, wie sie sich auch nennen) traumatisch. Brasilianische Gummiplantagenbesitzer und peruanische Gummizapfer säuberten das Gebiet von den «wilden Indianern», die Mehrheit ihrer Ethnie wurde ausgelöscht. Heute sind sie in einem Prozess der Wiederentdeckung ihrer Traditionen, Glaubenssysteme und Praktiken begriffen.

Die Botschafter ihrer Kultur: Links mit dem charmanten Lächeln der Schamanensohn Txana Bane, oder wie in seinem Pass steht: Fabiano Maia Sales. Als angehender Schamane ist er auch Künstler und Historiker, der sich für die Anliegen der Huni Kuin in Europa starkmacht.
Ernesto Neto seinerseits ist einer der bedeutendsten Künstler Brasiliens: Seine Ausstellungen waren in Bilbaos Guggenheim-Museum ebenso wie im New Yorker Moma zu sehen. Seine von der Decke hängenden Strukturen – sinnliche, interaktive Installationen – kennt man auf der ganzen Welt. Die Schau «Aru Kuxipa – Sacred Secret» hat Neto gemeinsam mit Künstlern, Pflanzenheilern und Schamanen aus dem Amazonasgebiet erschaffen.
Rituale gehören zum Begleitprogramm der Schau, und ich darf an einem teilnehmen. Es wird erzählt. Neto erzählt, die Huni Kuin erzählen. Von den Pflanzen, die sie wie sich selbst kennen und zu Heilungszwecken brauchen, von ihrem ganzheitlichen Verständnis des waldigen Universums. Man übersetzt, wie man kann – die einen sprechen Huni Kuin, die anderen Portugiesisch oder Englisch. Der Duktus der Erzählungen ist langsam, getragen, ganz in der Tradition des Stammes und seiner oralen Traditionen. Dazwischen stehen wir auf, singen und tanzen.

Die Installation von Ernesto Neto im Augarten ist wie so oft bei ihm interaktiv und einladend, rechts: Damit die Übersetzung besser gelingt ein gemeinsamer Kurzpaffer.
Im Kern des Ganzen steht ein Begriff aus der modernen Anthropologie: Die sogenannte indigene Moderne. Die Huni Kuin nennen das «Aru Bena», «neue Ära», in der der Austausch der bisher isolierten Völker mit der Welt auf Augenhöhe stattfindet. Die modernste Technik hat nämlich eine diskrete Entwicklungsstufe erreicht, die bei der Erfassung und Weiterreichung der Traditionen hilfreich sein kann, ohne aggressiv in die Bräuche einzugreifen. Söhne und Töchter der Schamanen sind selber Filmemacher, Forscher, Botschafter, die das neue Bewusstsein der Völker stärken. Gemeinsam erforscht man die Pflanzen und findet in Workshops heraus, wie man ihre Kraft noch besser nutzen kann. Ein Thema ist auch das Buch «Una Isi Kayawa» («Buch der Heilung»), das von dem 2008 verstorbenen Visionär und Schamanen Agostinho Manduca Mateus Ĩka Muru initiiert wurde und als eine Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle des Botanischen Gartens in Rio de Janeiro auf speziell beschichtetem Papier, welches sich im Urwald nicht zersetzt, herausgegeben wurde. Eine englische Ausgabe wird von TBA 21 für 2016 geplant.
Und wenn wir schon bei Pflanzen sind: Nein, über eine eigene Ayahuasca-Erfahrung kann ich nicht berichten. Ernesto Neto und die Huni Kuin haben zwar im Wiener Augarten mit der rituellen (und berüchtigten) Bewusstseinserweiterungs-Droge experimentiert, ich bin aber zu spät gekommen. Ehrlich gesagt, war ich auch ein bisschen froh darum, denn ich habe gelesen, dass man vor dem Becher mit dem säuerlich schmeckenden Blättergebräu einen anderen Drink zu sich nehmen soll, der den Darm reinigt. Die Huni-Kuin-Gäste Txana, Zezinho und Francisco Arnaldo haben zudem berichtet, von seltsamen Geistern des Augartens heimgesucht worden zu sein. Der Verdacht fiel sofort auf den Geist des 1975 verstorbenen österreichischen Bildhauers Gustinus Ambrosi, jenes umstrittenen (post-)faschistischen Künstlers, dessen Museum auch im Augarten zu Hause ist.
So ist es eben mit dem Austausch. Er läuft nicht nur in eine Richtung. Und nicht nur der Urwald hat seine dunklen Geheimnisse.

Organisches Wissen: Eine Zeichnung aus dem «Buch des Heilens», die Struktur einer Skulptur von Neto.