Archiv für die Kategorie ‘Tate Modern’

Schneeweisse Männerhälse

Blog-Redaktion am Mittwoch den 22. Februar 2017

Unsere London-Korrespondentin Brigitte Ulmer über die grossen Ausstellungen von Wolfgang Tillmans und David Hockney. Zwischen dem «postmodernen Flaneur» (Tillmans) und der «kanonisierten Glückspille» (Hockney) gibt es erstaunlicherweise Ähnlichkeiten. Wobei beide Bezeichnungen durchaus liebevoll gemeint sind! Aber lesen Sie selbst.

Von Brigitte Ulmer

Was: Wolfgang Tillmans: 2017. Tate Modern. Bis 11. Juni, David Hockney, Tate Britain. Bis 29. Mai.

Hans Ulrich Obrist hat ihm bereits 1995 eine Schau in der Serpentine Gallery ausgerichtet, Mendes Bürgi in der Kunsthalle Zürich im selben Jahr, da war Wolfgang Tillmans gerade 27-jährig, erst seit zwei Jahren einer Kunstschule im eher exotischen Bournemouth (UK) entsprungen, also kaum trocken hinter den Ohren und vor allem als Fotograf für die Kult-Postille «i-D» bekannt. Darin hielt er die Subkulturen zwischen Berlin und London fest. Fast forward 22 Jahre, und wir stehen in der monumentalen Retrospektive mit dem kurzen Titel «2017», und Chris Dercon, ehemaliger Direktor der Tate Modern und jetzt designierter Volksbühnen-Direktor in Berlin, flitzt durch die Säle und nennt Tillmans «Renaissance-Künstler des 21. Jahrhunderts». Im Mai kommt der moderne Leonardo übrigens in die Fondation Beyeler.

Der Künstler und sein Kurator: Ex-Tate-Chef Chris Dercon, Wolfgang Tillmans (ganz rechts). Alle Fotos: B. Ulmer

Von Über-Kuratoren seit Jahren hofiert, ist Tillmans in London dieser Tage erst recht everybody’s darling. Eigentlich ähnlich wie David Hockney, die kanonisierte Glückspille im Künstlerformat, die gerade 80 Jahre alt gewordene Legende (doch davon später). Dass Wolfgang Tillmans, 48 Jahre alt, ehemaliger Clubber, festes Mitglied der Subkulturen Berlins und Londons, Turner-Prize-Träger des Jahres 2000, offensichtlich auch bereits kanonisiert ist, mag erstaunen. Oder auch nicht.

Denn eigentlich hat Tillmans diese Kanonisierung, die laute Reklame, die für ihn gemacht wird, gar nicht nötig. Eigentlich ist sein Werk selbsterklärend. Es ist sehr zugänglich, und benötigt nicht viel kritischen Überbau. Auf den ersten Blick funktioniert seine Schau nämlich ein bisschen wie eine Instagram-Bild-Lawine. Es purzeln Bilder von gewaltiger Schönheit auf die Netzhaut, bei denen man sofort aufs Herzchen drücken wollte, und dann wieder Bilder von bombastischer Banalität, die seltsamerweise – aufgepumpt ins Grossformat – ihre eigene Allüre entfalten.

«Young Man, Jeddah», 2012, «Astro Crusto», 2012, «Collum», 2011 (v.l.): Bilder von betörender Schönheit …

Ein Hummer, über den eine gefrässige Fliege läuft. Die Seitenansicht eines Halses, mit Muskeln, Haaransatz und einem Drei-Viertel-Ohr. Ein schäumender Wasserfall, irgendwo (Iguazú, Argentinien). Man will hineinspringen wie in ein Schaumbad, man will den Hummer betasten, und auch dieser schneeweisse Männerhals, aus dessen Nacken der Beginn eines Bürstenschnitts ersichtlich ist, entfaltet eine ungeheure Sinnlichkeit.

… und von raffinierter Banalität: «Studio Still Life», 2014.

Mir erscheint Tillmans eher wie ein postmoderner Flaneur, der durch die globalisierte Welt streift, und ihr abzulesen versucht, was mit ihr gerade passiert. Die Bilder von Auto-Scheinwerfern: aggressiv wie der neoliberale Kapitalismus. Szenen aus illegalen Clubs: letzte Freiheitszonen in einer ökonomisierten Welt. Die Kamera ist seine Wünschelrute, die da ausschlägt, wo er Aufzeichnungswürdiges findet. Subjektive Weltsichten, Mikro und Makro hart aneinandergeschnitten, Natur und Künstlichkeit, Schönheit und Banalität. Porträts, Strassenszenen, Interieurs, Landschaften, er zieht alle Register.

Der Künstler und seine Klassiker: Tillmans im Porträt von Solve Sundsbo, Tillmans Werk «Outer Ear», 2012, rechts: «Anders pulling splinter from his foot», 2004.

Ein junger Mann in einem brombeerfarbenen Kaftan in Jeddah, der sich an ein gleichfarbiges Auto lehnt. Eine friedliche Marktszene in Äthiopien. Junge Chinesen beim Brettspiel auf den Strassen Shanghais. Port-au-Prince aus der Vogelperspektive. Unkraut, das aus Steinplatten spriesst. Intime Momente zwischen Freunden.

Und immer richtet er die Linse auch auf den Bildproduktions-Prozess. Aufnahmen aus seinem Studio. Ein in seine Einzelteile auseinandergenommenes Photokopiergerät. Mal gross-, mal kleinformatig zu einem Potpourri zusammengestellt, die Wände buchstäblich bis in die Ränder und Ecken vollgehängt – allein die Hängung zeigt, dass Tillmans Hierarchien ausradieren will. Die Kakophonie der Eindrücke lassen sich in fünf Adjektiven zusammenfassen: Ehrlich. Empathisch. Entgrenzend. Egalitär. Ästhetisch.

«Paper Drop Prinzessinnenstrasse», 2014.

So weit, so gut. Die Schau schlägt aber auch wirklich Volten, und zwar da, wo sich Tillmans der realen Welt entzieht. Wo er die Bedingungen der Bildherstellung erforscht, in der Dunkelkammer zum Beispiel. Oder wo er dem Realen eine wundersame Abstraktion herauslöst, ohne sie in Kälte erstarren zu lassen. Die «Paper Drops» zum Beispiel: schlicht und einfach zu einer Tropfenform gerolltes Fotopapier, das zur rätselhaften Eleganz gerinnt. Oder die «Freischwimmer»: Wirbel und Ströme in Flüssigkeit. Alles scheint ineinanderzuzerfliessen. Oder die «Silvers»: Fotopapier durch den Entwickler prozessiert, mit auf Silber basierenden Chemikalien und Pilzen dem Licht ausgesetzt. Bilder von berückender Schönheit.

Wolfgang Tillmans Anti-Brexit-Poster.

Es gibt aber auch den Politaktivisten Tillmans (in England hat er sich mit seiner Anti-Brexit-Poster-Kampagne auf die Politbühne gehievt), und bei allem optischen Power spürt man oft auch eine politische, zeitkritische Unterströmung: Da, wo betörende Landschafts- und Meerbilder auf die Fotos von Flughafen-Sicherheitskontrollen stossen. Da, wo ein russisches Gay-Paar abgelichtet ist oder die Überreste eines Flüchtlingskahns aus Lampedusa.

Port-au-Prince 2010, Flughafendetail, Ausstellungsansicht mit Magazinfotografie.

Sie sprechen von Angst, von Aus- und von Abgrenzung, nicht von Freiheit. Oder in der raumfüllenden Installation «The Truth Study Center»: In simplen Sperrholzvitrinen sind Zeitungsausschnitte, Kopien von Pressebildern, E-Mails und Diagramme ausgelegt, die von Anti-Bush-Demonstrationen, Drogenkriegen, Terrorangst, Studien aus der Hirnforschung berichten. Was ist wahr, was sind Fake-News? Tillmans hat sich diese Frage schon 2005 gestellt. Angst und Schönheit, Grenzen und Entgrenzung, Aktivismus und Weltflucht: Doch, doch, die Ausstellung passt sehr gut zu diesen Zeiten, da wir alle zwischen dem Trump-Dauererregungs-Syndrom und der Flucht ins Schöne hin- und herpendeln.

Fotograf der Fotografen: Besucher in der Tillmans-Schau.

Wahrscheinlich ergeht es andern wie mir: Als ich, mit dem Tillmans-Weltblick geeicht, durch die Gegend laufe, fallen mir plötzlich ganz viele Tillmans-Sujets auf. Die Bushaltestelle mit zwei Küssenden mit Herzballonen an der Hand (es war gerade Valentinstag). Das Unkraut zwischen den Pflastersteinen. Der Haaransatz am Hinterkopf eines vor mir sitzenden Passagiers im Bus.

Weniger erwartet hätte ich das allerdings in der aktuellen Blockbuster-Schau des zweiten everybody’s darling der Londoner Kunstwelt. Gemeint ist der König der britischen Malerei, David Hockney. Seine Schau hat es ja sogar in die Nachrichten in die Schweizer «Tagesschau» gebracht.

 

Hockneys Kalifornien-Apotheose: «Portrait of an Artist (Pool with Two Figures)», 1972. (Courtesy Tate)

Man braucht dazu nur die Themse flussaufwärts zu fahren, zur Mutter-Galerie Tate Britain. Ein bombastisches Fest des Lichts, der Lebens- und vor allem der Schaulust empfängt einen da: «A Bigger Splash», das Bild wirkt wie ein riesiger Schnappschuss mit der Kamera; das abstrahierte Bild der Rasensprenkler – Alltagsszenen im kalifornischen Neverland, mit dem Sehnsuchtsblick des working-class-boy aus Englands armem Norden festgehalten.

Träume des Jungen aus dem Norden: «A Bigger Splash», 1967, «A Lawn Being Sprinkled», 1967, «Domestic Scene, Los Angeles», 1963.

Auch bei ihm immer wieder der Blick nach innen – häusliche Szenen der Intimität, wie die zwei Männer unter der Dusche, Dandys im Schlafzimmer –, Porträts von Freunden und der Eltern. Was es heisst, schon in den 60er-Jahren intime Momente der Gayszene auf Leinwand zu bannen und die eigene Komplizenschaft offen zu zeigen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Dass sich Hockney immer vom Medium Fotografie inspirieren liess, ist offensichtlich. Der empathische Blick auf die Gay Culture, das Zelebrieren der persönlichen Freiheit, das verbindet den Altmeister mit Tillmans.

Und bekanntlich ist das Private ja auch politisch.

«Henry Geldzahler and Christopher Scott», 1969.

Fun mit «Hörsoog e Dümüron»

Blog-Redaktion am Mittwoch den 22. Juni 2016

Seit ihrer Eröffnung 2001 führt die Tate Modern in London in ihrer ganz und gar unbritischen Unbescheidenheit das Rudel der neuen Supermuseen an. Und wenn sie ihre spektakuläre Erweiterung ausgerechnet während des VIP-Previews der Art Basel der Presse vorstellt, kann das kein Zufall sein. Vielmehr ist es ein Beweis dafür, dass ein Paradigmawechsel ansteht. Kunst soll der Umarmung des Markts entrissen werden. Wie? «Private View»-Gastautorin Brigitte Ulmer* hat sich am ersten Publikumstag in der neuen Tate umgeschaut. Hier ihr Bericht.

Switch House, die neue Erhöhung der Tate Modern: der Volksmund nennt sie «Gedrehte Zigarette» oder «dekonstruierte Pyramide»

Die neue Erhöhung der Tate Modern: «Eigernordwand», «Gedrehte Zigarette». (Bild: Tate)

Was: Das neue Switch-House der Tate Modern in London
Wann: Freitag, der 17. Juni 2016, erster Tag mit Publikum

Sind Sie schon mal vor einem lebenden Gemälde gestanden, das sie mit den Augen fixierte? Am vergangenen Freitagnachmittag, dem ersten Eröffnungstag der neuen Tate Modern, stand ich in den Gedärmen des neuen «Switch House», den «Tanks», vor dem leibhaftigen «Cargador de Flores», dem Blumenträger von Diego Rivera. Ein Mann im weissen Pullover kauerte auf allen Vieren am Boden, eine Frau balancierte auf seinem Rücken und mimte den Blumenkorb, eine weitere rückt die Last zurecht. Das «Gemälde» kündigte sich praktischerweise gleich selbst an, sonst hätte ich es nicht erkannt, und zwar so, wie es die Buchhalter der Kunstgeschichte lehren: Künstler, Werktitel, Jahrzahl (1930) und in welcher Museumssammlung es sich befindet (Museum of Modern Art San Francisco). Einen Augenblick später formierten sich fünf Männer und Frauen in T-Shirts und Jeans zu Delacroix’ Gemälde «La liberté guidant le peuple». (Die Flachversion hängt im Louvre in Paris).

Eine performance stellt Delacroix’s Gemälde «La liberté guidant le peuple». (Die Flachversion hängt im Louvre in Paris).

Links: Eine Performance stellt Delacroix’ Gemälde «La liberté guidant le peuple» nach. Rechts: Hängende Aluminiumwürste aus Marisa Merz’ Küche. (Bilder: B. Ulmer)

Wie symbolisch! Alexandra Piricis und Manuel Pelmus’ Performance «Public Collection of Modern Art» mimte nämlich gleich die Gesamtstrategie der neuen Tate, die Nicholas Serota etwa so formulierte: Nicht die Kunst, sondern die Menschen sollen im Zentrum stehen. Nicht nur die Kunst-«Produkte», sondern auch Prozesse. Und das, was wir, als Betrachter, mit der Kunst anstellen. Auf gut Deutsch: Partizipation! Interaktion! Das passt auch zu dem Satz, den Yoko Ono prägte, und der irgendwo in einem der vielen Räume an die Wand projiziert wird: «I thought art was a verb, not a noun» (Ich dachte, Kunst sei ein Verb, nicht ein Substantiv).

Das Switch House, im eleganten Strickmuster aus Backsteinen

Das neue Switch House: Aussen ein elegantes Strickmuster aus Backsteinen, drinnen grosszügige Treppen und Flächen.

Wird die Tate, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, ihre Aufgabe nicht nur der Kunstvermittlung und Forschung, sondern auch der aktiven Integration der Besucher wahrnehmen zu wollen, ihrem Anspruch gerecht? Dafür könnte der Tag des ersten Massenandrangs ein erster Gradmesser sein. Ich beobachtete Teenager, die sich in Ricardo Basbaums käfigartigen Behausungen auf Kissen wälzen, ich lausche einem Chor von 500 Hobbysängern, die dutzendfach «Brick Brick Brick» intonierten, ich sehe Kleinkinder in Windeln über Skulpturen wanken, erwachsene Menschen hinter Performern hinterherrennen.

Und ich lausche Frances Morris, der neuen Direktorin der Tate Modern, die den Frauenanteil der Künstlerräume mit einem Schlag auf 50 Prozent erhob. Mit einem weissen T-Shirt des japanischen Kleiderbrands Uniqlo (ein Sponsor) bekleidet, spricht sie vor Louise Bourgeois’ Käfig über ihr Trauma und die tiefe Symbolik ihrer Kunst. Die Message ist klar: Wir wollen nahbar, demokratisch sein. Das regt die Besucher unübersehbar an. Und zwar nicht einfach zum Cüpli-Trinken.

Blick von der Brücke in den Turbinenhalle und die Tanks. Von ferne Ai Wei Weis zusammengeschraubter Baum. «Tree 2010» und die neue Tate-Direktorin im Uniqlo-shirt erklärt persönlich den Besuchern ein Werk von Louise Bourgeois

Links: Blick von der Brücke in die Turbinenhalle und die Tanks. Rechts: Die neue Tate-Direktorin Frances Morris im Uniqlo-Shirt erklärt den Besuchern ein Werk von Louise Bourgeois.

Schon Herzog & de Meurons Neubau zu durchwandeln, aktiviert bei mir mit seinen vollkommen neuartigen Raumerlebnissen Gehirnregionen, von denen ich gar nicht ahnte, dass sie existierten. Das Haus, das schon vor Inbetriebnahme Kosenamen erhielt wie Eigernordwand, gedrehte Zigarette, dekonstruierte Pyramide, wirkt von aussen wie eine Festung.

Doch welche Offenheit herrscht innen! Von den unterirdischen Tanks, wo Performances stattfinden und auch ein labyrinthischer Raum mit dem Achtkanal-Video des preisgekrönten thailändischen Künstlers Apichatpong Weerasethakul aufwartet, zieht einen förmlich ein Sog über die mal weit ausladende spiralförmige, dann schmale Treppe bis in den zehnten Stock, von wo man einen spektakulären Blick über die Stadtlandschaft hat. Dazwischen wartet jedes Stockwerk mit überraschenden Ein- und Ausblicken, und seien es bloss die formvollendeten Bänke aus Gussbeton oder das Licht- und Schattenspiel der Backsteinmuster oder die zwei Brücken hinüber zum «Boiler House». Oder eben diese Treppe: Sie ist eine Skulptur für sich, elegant, generös, raffiniert, Marke «Hörsog e Dümüron», wie die BBC-Kommentarin unser Schweizer Architektenduo nannte.

Licht- und Schattenspiel à la «Hörsög e Dömüron», farbige Installationen, Kinder, die auf Skulpturen mit Puppen spielen

Licht- und Schattenspiel à la «Hörsoog e Dümüron», Installationen zum Mitspielen, Kinder, die auf Skulpturen mit Puppen spielen (es ist Marwan Rechmaouis «Beirut Caoutchouc»).

Stiehlt die Architektur der Kunst die Show, wie im Vorfeld befürchtet wurde? Nicht für mich. Sie ist eine wunderbare, ausladende Bühne für Kunst, die viel, sehr viel Raum beansprucht. In dieser riesigen, in einem Strickkleid aus Backsteinen gestalteten Ausstülpung, die aus der alten Powerstation herauszuwachsen scheint, mit ihrer verwirrenden, schwer zu begreifenden Zickzack-Form, fühlte ich mich wie auf einer nicht enden wollenden Flânerie durch Zeiten (60er-Jahre bis zur Gegenwart) und Geografien (Kunst aus 50 Ländern). Doch im Unterschied zum echten Flâneur wird man immer wieder einmal von seiner beobachtenden Haltung heraus zur Interaktion herausgefordert.

Jeder darf sich amüsieren: Das Publikum kam, machte mit und postete auf Instagram

Museum zum Herumtollen: Das Publikum kam, machte mit und postete auf Instagram.

Ach ja, und die Kunst: Der neuen Direktorin Frances Morris, die unweit der Tate Modern im einst armen Süd-London aufgewachsen ist, ist ein echter Coup gelungen, was die Neuordnung der Sammlungsräume angeht. Im immensen Raum (60 Meter lang!), der dem Thema «Between Object and Architecture» gewidmet ist, findet man neben den üblichen Verdächtigen wie Carl Andre und Donald Judd weniger oder gänzlich Unbekannte: etwa die Schaummaschine des in England lebenden Philippinos David Medalla.

Vor allem aber werden die harten Linien des Macho-Minimalismus gebrochen: Eine Wucht sind Marisa Merz’ von der Decke hängende Aluminiumwürste, die sie einst in ihrer Küche konstruiert hatte, oder der schlaff und weich wirkende Haufen aus Stahl in der Ecke von Lynda Benglis. Werke von Künstlern aus Brasilien, Libanon, Taiwan brechen die Grenzen gegen Osten auf.

Heu-Sammelritual von Ana Lupas

Rumänische Entdeckung: Heu-Sammelritual von Ana Lupas.

In Stockwerk Nummer drei, zum Thema «Performer and Participant», steht man im umwerfenden Raum der Rumänin Ana Lupas, die zwischen 1964 und 2008 zusammen mit den Bewohnerinnen ihres Dorfes ritualartig Heu zu Ringen geformt hat. Ana Lupas … Nie gehört? Ich auch nicht. Oder Suzanne Lacys Quilts, das Produkt einer Kollaboration mit älteren Frauen in Minneapolis. Überwältigende Räume sind Rebecca Horn und Louise Bourgeois gewidmet, sie führen in exzentrische Gegenwelten, auch die Fantasie eines «Museums of Contemporary African Art» von Meschac Gaba aus Benin, mit dem er das Konzept europäischer Museen ironisiert.

Ein Museum im Museum: Louise Bourgeois’ Raum in der neuen Tate Modern.

Ein Museum im Museum: Louise Bourgeois’ Raum in der
neuen Tate Modern.

Und spätestens im Raum des Brasilianers Hélio Oiticica, dem Begründer der Tropicalia-Bewegung, wo er in einer nachgebauten Favela echtes Leben mit Kunst kurzschliesst, wird einem klar: Hier wird der eurozentrische kunsthistorische Kanon radikal über den Haufen geworfen, die Karten neu gemischt. Das ist herrlich erfrischend.

Eine Stadt aus gekochtem Cousous, Kader Attias «Untitled» (Ghardaïa)

Eurozentrischer Kanon adieu: Kader Attias Stadt aus gekochtem Couscous.

Wird das Museum mit zu viel Aktivitätsprogrammen zum Fun-Parcours umgemünzt? Es erstaunt tatsächlich, dass von insgesamt 17 Etagen nur 7 der Kunst gewidmet sind. Der ganze Rest ist für Community-Aktivitäten, zum Durchatmen, Verdauen, Austauschen, Flirten. Aber das alles in Reichweite von Kunst, Kino und toller Architektur: Ist da etwas dagegenzuhalten? Ich finde nicht.

Der Tate-Mastermind Nicholas Serota live und auf einer Karikatur der Financial Times

Der Tate-Mastermind Nicholas Serota live und auf einer Karikatur der «Financial Times». (Bilder: Tate und FT)

Ob die Tate damit ein Statement gegen die Kommerzialisierung der Kunst machen wolle, fragte BBC-Starjournalist Andrew Marr den Tate-Überdirektor Nicholas Serota angesichts der vielen nicht objekthaften Kunst. Der reagierte sanft lächelnd mit Diplomatie. Die Tate Modern wolle, sagte er, alle Formen von Kunst präsentieren. Dass die Eröffnung der neuen Tate auf die Art-Basel-Woche fiel, und die Presse-Preview auf denselben Morgen wie die Art-Basel-Pressekonferenz, kann aber schwerlich ein Zufall sein.

 

DSC_897700* Gastautorin Brigitte Ulmer lebt als freischaffende Kunst- und Kulturjournalistin in London und Zürich. Für die «Bilanz» berichtet sie über Kunst und verantwortet sie das jährliche Künstlerrating.(Bild: Gian Franco Castelberg)