Liebe Leserinnen und Leser, wir wollen hier bestimmt nicht zu einer biografisch gefärbten Interpretation der Kunst aufrufen. Doch es gibt sie, die Herzlinien im Werk von Künstlerinnen und Künstlern. Wer wollte wichtige Einflüsse über Generationsgrenzen hinweg verneinen? Lebenslange Allianzen ausser Acht lassen? Wahlverwandtschaften negieren?
An Fragen wie diese dachte ich im Haus Konstruktiv, in dem drei ganz verschiedene Ausstellungen zurzeit so viel Interessantes bieten, dass man den Wunsch in sich aufkeimen spürt, sie kämen nacheinander ins Programm und nicht alle aufs Mal.
Da haben wir doch einerseits die (einem Preisgeld verdankte) Installation der in Marokko geborenen, in Martigny lebenden Latifa Echakhch. Eine rätselhafte junge Künstlerin, zwischen Abstraktion und Poetik pendelnd. Die im Haus Konstruktiv gefeierte Auszeichnung ist bei weitem nicht ihr erster Preis. Vor zwei Jahren hat sie mit «Goodbye Horses» im Kunsthaus Zürich schon eine verträumte, verlassene, an Zirkus erinnernde Kulisse installiert, die Rätsel aufgab. Ihr aktueller Rummelplatz im Haus K ist kraftvoller, alptraumhafter, mit grossen, fast bedrohlichen Pappfiguren, die eine emotionale Teilnahme ebenso erzwingen wie verweigern.
Worauf ich aber mit der Familie hinaus will – Latifa lebt ja im Wallis. M und M – Marokko und Martigny, das klingt zunächst einmal nach: gar nicht verwandt. Darum, als ich vor drei Jahren den Schweizer Künstler Valentin Carron in Martigny besuchte – er bereitete sich damals auf seinen Auftritt im Schweizer Pavillon der Biennale Venedig vor – fragte ich ihn nach seiner kulturellen Verwandtschaft mit Latifa Echakhch.
Die beiden sind nämlich ein Paar, auch Eltern, und teilen sich in Martigny ein Atelier. Zu meinem Erstaunen gab mir damals Carron eine Antwort. Der sonst äusserst auf Diskretion bedachte Künstler konnte nicht umhin, mich auf eine Parallele hinzuweisen, die auf der Hand lag. Frau Echakhchs Eltern kommen zwar aus Nordafrika, doch bereits dreijährig kam die Künstlerin mit ihren Eltern, die dort Arbeit fanden, nach Frankreich. Folglich wuchs sie in Aix-les-Bains auf, einem halb industriell, halb touristisch geprägten Ort in den Savoyer Voralpen.
Ich habe damals in meinem Porträt über Carron («Martigny mon Amour») versucht zu zeigen, wie sehr die spröde Sensibilität dieses Künstlers mit der spezifischen Verfasstheit von Martigny zusammenhängt, einem eigentlich nicht so malerischen Ort inmitten majestätischer Landschaft. Und hier sehe ich auch die Verzahnung der biografischen und der künstlerischen Identität bei Echakhch. Auch ihr Werk wirkt ein bisschen wie eine Ausgrabung, wie eine Spur des seltsamen Geschehens, das wir Aktualität nennen, wahrgenommen von wenig verstehenden kommenden Generationen in einer diffusen Zukunft. Carron und Echakhch sind für mich grossartige Vertreter der Generation um die 40, schmerzhaft auf Ehrlichkeit bedachte Suchende im Transitland zwischen dem (allzu?) sorglosen Nachkriegswohlstand und der chaotischen Hypermoderne.
Um wie viel ganzheitlicher wirkt dagegen das Engagement der 90-jährigen Etel Adnan, der eine weitere Ausstellung im ehemaligen EWZ-Gebäude an der Sihl gewidmet ist. Auch Adnan ist eine Wanderin zwischen den Kulturen und den Identitäten. Geboren wurde sie 1925 in Beirut, ihre Mutter war eine christliche Griechin aus Smyrna, ihr Vater ein syrischer General der osmanischen Armee. Nachdem die Weltkarte in der Folge des Ersten Weltkriegs neu geformt wurde, wuchs Etel im Libanon auf, sie sprach Griechisch und Türkisch zu Hause, Arabisch auf der Strasse und Französisch in der Schule. Beflügelt von der romantischen Tradition von Rimbaud, Baudelaire and Rilke, schrieb sie mit 20 ihre ersten Gedichte und bekam ein Stipendium an der Sorbonne.
Dann kamen die 50er-Jahre mit den algerischen Kriegen, und angewidert von der französischen Kolonialarroganz siedelte Adnan nach Kalifornien über. Auch dort ereilte sie ein kriegerischer Konflikt, Proteste gegen den Vietnamkrieg und soziale Ungerechtigkeit bilden den Hintergrund ihrer in den USA entstandenen Werke. Dann ging es zurück nach Beirut, wo sie eine französische Zeitschrift gründete («Al Safa») und ihre berühmteste literarische Figur erfand (oder der Wirklichkeit nachempfand), eine syrische Emigrantin namens Marie Rose, die im Zusammenhang mit ihrem Engagement für palästinensische Flüchtlinge von den rechten christlichen Milizen gekidnappt und ermordet wurde, angeblich für den Verrat an ihrer Religion. Dann lebte Adnan wieder sehr lange in Kalifornien, und jetzt ist sie wieder in Paris zu Hause, im ehemaligen Haus von Albert Camus.
Und fast die ganze Zeit war und ist Simone Fattal bei ihr, eine Künstlerin mit ähnlich verwinkelter Vita – geboren 1942 in Damaskus, Studium der Philosophie in Beirut und Paris. Die beiden Frauen haben gemeinsam, als Paar, den geschichtlichen und geografischen Strapazen die Stirn geboten, sich ihre Freiheitsliebe, Souveränität und – sogar! – ihren Idealismus bewahrt. Beide erfahren sie jetzt, in ihren späten Jahren, wie so manche ihrer Generationsgenossinnen eine Intensivierung des Interesses an ihrer Arbeit.
Und – glückliches Zürich! – wie es der Zufall (oder die Absicht) so will, hat Simone Fattal auch gerade eine Ausstellung hier, nämlich bei der Galerie Karma International in Wipkingen. Die schlichte abstrakte Malerei von Etel Adnan und die archaischen Keramikskulpturen von Simone Fattal sollte man unbedingt am gleichen Tag ansehen, auch wenn man dafür die Stadt durchqueren muss (ist ja nicht weit, das ist ja auch das Gute an Zürich). Die gleiche heitere, unverbogene Menschlichkeit in beiden Lebenswerken! Vernünftiger Massstab, traditionelles Material, nachvollziehbare Emblematik. Kein Wunder, sind die Enkelgenerationen so wild nach diesen älteren Damen, deren kreative Kraft und das seelische Rüstzeug, trotz biografischen Rissen, in einer solid und menschlich zusammengefügten Welt zu gründen scheinen.
Die letzte Familiengeschichte betrifft die Schweiz. Eine Schweiz, wie man sie gerne sieht und gerne für verloren erklärt. Ein nüchternes Land mit einer tief verwurzelten Liebe zu Struktur und Material, modern von innen heraus und abseits jeder Mode künstlerisch brillant. Ich spreche von der dritten Schau im Haus Konstruktiv: Peter Hächler (1922–1999). Peter Hächler, der in seinem heimatlichen Lenzburg ein wunderbares skulpturales Werk schuf, dem nicht die Weltbühne beschieden war, das aber innerhalb der Schweizer Kunstgenealogie eine wichtige Rolle einnimmt. Nicht zuletzt dank der – wieder – biografischen Weiterschreibung dessen in der Arbeit seiner Tochter Gabrielle Hächler, die gemeinsam mit ihrem Partner Andreas Fuhrimann wichtige Akzente in der Schweizer, und nicht nur Schweizer, Architektur setzt.

Skulpturale Bauten von Gabrielle Hächler und Andreas Fuhrimann: Zielturm am Rotsee, Haus Presenhuber in Vnà.
Das Museum zählt Peter Hächler «zu den renommiertesten und formalästhetisch radikalsten Bildhauern der Schweiz», das ist bestimmt nicht übertrieben. Ein Blick in das im Haus Konstruktiv nachgebaute Atelier des Künstlers liefert einen überwältigend wirksamen Beweis dieser Behauptung. Man erkennt die fast wissenschaftlich beflissene, und doch kreativ verspielte Arbeit, die hier stattfand: einige wenige Grundmodule wurden unendlich variiert, der Rautenwürfel, der Rhomboeder, drei- oder vierseitige Prismen fügen sich spielerisch zu verblüffenden Organismen, die Wegbegleiter scherzhaft «Hächleroide» nannten. Von Hächler stammen viele Werke im öffentlichen Raum in der ganzen Schweiz, und er entwarf auch ganze Arealgestaltungen wie beim Kantonsspital Aarau (zusammen mit Ernst Häusermann und Charles Moser), beim Berufsbildungszentrum in Weinfelden (mit Charles Moser) oder bei der Gewerbeschule Lenzburg. Im Buch «Was ein Haus in sich selbst verankert» über die Arbeit des Architekturbüros Fuhrimann/Hächler wird sehr schön beschrieben, wie das vom Vater Hächler (gemeinsam mit Pierre Zoelly) gebaute Atelier-Haus in Lenzburg das räumliche Vorstellungsvermögen der Tochter Gabrielle prägte. In der Tat wirken die berühmtesten Bauten des Duos wie etwa das Künstlerhaus am Uetliberg, das Haus Presenhuber in Vnà oder der Zielturm des Ruderverbands am Rotsee sehr skulptural.