Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber ich mag Sachen, die ich nicht auf Anhieb verstehe. Sie haben das höchste Inspirationspotenzial. So stand ich am Dienstag euphorisiert im Architekturausstellungssaal am Hönggerberg und schaute leicht überwältigt drein. Es sei eine klassische Architekturausstellung, sagte jemand, weil überall Zeichnungen, Skizzen, Pläne und Fotos hingen, die man erst richtig anschauen musste, bevor man das allgemeine Prinzip verstand. Nachdem ich mich aber im Universum des belgischen Architekturbüros De Vylder / Vinck / Taillieu sorgfältig umgeschaut hatte, musste ich heftig widersprechen. Eine weniger klassische Architekturausstellung kann man sich kaum vorstellen. «Einblick in eine Parallelwelt» kommt der Sache näher.
Was: Ausstellung «Architecten de vylder vinck taillieu» im Rahmen der gta-Exhibitions-Ausstellungsreihe
Wann: Mittwoch, 11. März 2015, bis Sonntag, 5. April 2015, Montag bis Freitag von 10 bis 18 Uhr, am Wochenende und an Feiertagen geschlossen
Location: ETH Zürich, Hönggerberg, HIL, gta-Exhibitions

De Vylder Vinck Tailleu: Bushaltestelle in Krumbach, das um einen Baum herum gebaute Haus Bern Heim Beuk.
Das belgische Büro mit den beiden «V» im Namen ist ein stiller Star unter den international geachteten Architekten. Ich sage Architekten, doch eigentlich sind sie Künstler. Ihre Entwürfe sind auf eine bescheidene Art spektakulär, streng und doch verspielt. Oft sind es kleine präzise Massnahmen, die Gedankenräume öffnen. Bekannt ist zum Beispiel das wunderbare Haus Bern Heim Beuk, das um einen Baum gebaut ist. Oder eine Bushaltestelle im Bregenzerwald, die irgendwo abseits des urbanen Glamours einfachen Schutz mit einem kompliziert gefalteten Metalldach bietet. Für ihre Einzelschau am Hönggerberg haben die drei Belgier zuerst mit kleinen durchdachten Eingriffen und vielen Backsteinen den etwas sterilen Saal aufgepeppt und dann im Hauptsaal nicht den materiellen, sondern den geistigen Reichtum ihres Büros ausgebreitet.
Konkret heisst das: Sie stellen alles vor, was sie inspiriert und beeinflusst. Meist Werke und Ideen von Lehrern, Freunden, Vorbildern. Ich stand gerade vor einem seltsamen Exponat, es war das Modell eines Hauses, an dem drei klassisch eingefasste Buchbände klebten. Was konnte das bedeuten? «Het Woordenhuis» stand daran. Die Erklärungen zu den Exponaten haben die beiden Ausstellungsmacher Fredi Fischli und Niels Olsen in Form von ausgedruckten E-Mails gestaltet – E-Mails von einem der drei Belgier an die Ausstellungsmacher, Kommentare zu den Menschen, die sie hier vorstellten. «Koen Deprez», stand in dem E-Mail, «is a lot.» Das wars. Ich legte die Stirn in Runzeln. Da kam ein Mann auf mich zu und sagte: «You look at my house of words? I am Koen Deprez.»

Das echte Het Woordenhuis (links), sein symbolisches Modell mit den Romanen (Mitte), Koen Deprez himself.
Koen Deprez ist vielleicht der ungewöhnlichste Architekt, den ich je getroffen habe. Auch er ist ein Künstler, Schriftsteller, Grafiker und Philosoph. Er erklärte mir, was es mit dem Haus der Worte auf sich hatte. Er wurde eines Tages von einem Ehepaar kontaktiert. Sie fanden das alte Haus, in dem sie schon 20 Jahre wohnten, langweilig und wollten es umbauen. Man hat ihnen Deprez empfohlen, und sie kamen zu ihm, um einen Neubau zu planen. «But I really liked the old house», sagte Deprez. Er versprach dem Paar, über ihr Haus nachzudenken. Er besuchte das Haus, ging von Zimmer zu Zimmer, nahm Gegenstände in die Hand und sass wie abwesend auf dem Sofa. Dann verschwand er wieder. Und kam erst ein halbes Jahr später wieder, mit einem Roman in der Hand.
Die Geschichte – darf ich es gestehen? – rührt mich. Der Architekt hat, anstatt das alte Haus durch (s)einen Neubau zu ersetzen, einen Roman geschrieben, der im Haus spielt. Alle Gegenstände, die im Roman vorkommen, gibt es wirklich dort. Deprez hat Geschichten erfunden, Menschen und Begebenheiten, die sich im Haus hätten abspielen können. Und er sagte zu seiner Bauherrschaft: «Lest das Buch. Vielleicht ändert es etwas an eurem Verhältnis zum Haus.» Und ja. Sie waren verzaubert. Sie sahen das Haus mit neuen Augen. Statt zu bauen, hat ihnen Deprez das Haus neu erfunden. Nicht eine Ecke, nicht ein Möbelstück wurde geändert. Der Architekt aber versprach, alle fünf Jahre einen weiteren Roman zu liefern. Ist das nicht wie ein Märchen? Und das Paar lebt noch glücklich dort.
Deprez erzählte mir dann, dass er seither Häuser nur noch nach literarischen Werken baut. Etwa nach einem Gedicht des russischen Dichters Joseph Brodsky. Dieses Haus – und falls ich es richtig verstanden habe, denn diese Belgier nuscheln manchmal, wurde es wirklich gebaut – verfügt über eine nach oben ausklappbare Plattform, auf der die Bewohner des Hauses zum Himmel schauen können. Ein flaches Haus mitten auf dem Land, aus dem sich eine Art ausklappbares Planetarium erheben kann… Wenn das nicht fantastisch ist! Der wunderbare Dichter Brodsky (der leider seit 1996 tot ist) fände es sicher toll. Aber, ehrlich gesagt, Jules Verne bestimmt auch.

Das Restaurant Michel in Groot Bijgaarden von Koen Deprez, dem Werk «Mythologies» von Roland Barthes nachempfunden.
Wie sagte es Joseph Brodsky in seiner Nobelpreisrede? «Es gibt keine Liebe ohne Erinnerung, keine Erinnerung ohne Kultur, keine Kultur ohne Liebe. Deshalb ist jedes Gedicht ein Faktum der Kultur wie ein Akt der Liebe und ein Blitzlicht der Erinnerung, und ich würde anfügen – des Glaubens.» Und wissen Sie was? In diesem Zitat des Dichters könnte man ohne weiteres das Wort Gedicht durch das Wort Haus ersetzen. Und es dann zu einem Manifest für eine bessere Welt erklären.