Gibt es glückliche Flüchtlinge? Natürlich, wie könnte es anders sein? Schliesslich flüchtet man, um sich selbst oder um die Familie zu retten, um ein besseres Leben zu finden, einen Ort, wo man zufriedener werden kann als dort, woher man aufbricht. Insofern ist die Migration grundsätzlich ein positives Konzept, ein konstruktives Wagnis, es setzt den Glauben daran voraus, dass es einen Ort gibt, der jenem, von dem man sich gerade verabschiedet, in einer wesentlichen Qualität überlegen ist. Doch der albanisch-italienische Künstler Adrian Paci interessiert sich weniger fürs Aufbrechen. Und auch nicht so sehr fürs Ankommen. Ihn fasziniert die Zeit, die Orte dazwischen – der Transit.
Was: Ausstellung «Sue proprie mani» von Adrian Paci
Wo: Galerie Peter Kilchmann an der Zahnradstrasse 21 in Zürich (Gebäude Diagonal neben dem Prime Tower)
Wann: Vernissage am Freitag, dem 22.1.2016, Ausstellung bis 12. März.

«Greeters», Acryl auf Papier und Leinwand, ein Gemälde Pacis aus der aktuellen Ausstellung.
Dazu muss man sagen, Adrian Paci wurde vor 47 Jahren in Albanien geboren, in der uralten Stadt Shkodër. Shkodër war seit der römischen Zeit eine wichtige Stadt mit Anschluss an die wichtigen Handelswege und darum auch ein saftiger Happen für allerlei imperialistische Anwandlungen, nicht zuletzt von den Italienern. Anfang der 90er-Jahre begannen in Shkodër jene Unruhen, die schlussendlich die von Enver Hoxha eisern durchgesetzte Diktatur (Hoxha starb allerdings bereits 1985) beendet haben. 1992 läutete eine demokratische Wahl die neue Zeit auch für Albanien ein.

«A Home to Go» – links mit dem Künstler selbst als menschliche Häuschenschnecke.
Paci, ausgebildet als Maler in einer noch klassisch geprägten albanischen Kunstakademie, siedelte 1997 nach Italien über und gilt heute als einer der wichtigen italienischen Künstler. Kuratorin Mirjam Varadinis zeigte unter anderem auch seine Werke in der Ausstellung «Shifting Identities» (2008), und ein Still aus seinem Video «Centro di permanenza temporanea» wurde zum Wahrzeichen des in der Ausstellung geschilderten Bewusstseinszustands der fluiden Identität zwischen hier und dort. In dem besagten Video, dessen Titel eine Art Oxymoron ist (und so viel wie das Zentrum der temporären Permanenz bedeutet), sieht man Menschen vermeintlich in ein Flugzeug steigen. Erst ganz am Schluss merkt man, dass die Treppe, auf der sie sich drängen, mitten im Nichts steht. Kein Flugzeug weit und breit.

Ein Still aus dem Video «Centro di permanenza temporanea», Adrian Paci, 2007.
Verbringen wir nicht alle unser Leben auf einer solchen Treppe? Wartend, hoffend, ellbögelnd, immer schon im Kopf anderswo, dort, wo es besser ist, wo man angekommen sein wird, endlich an einem guten Ort zu Hause… Hm. Eine andere Arbeit Pacis heisst «A Home to Go», da sieht man einen Mann (in gewissen Versionen ist es der Künstler selbst), der unter der Last des schützenden Dachs, das er mit sich schleppt, beinahe zusammenbricht. Gibt auch zu denken, nicht wahr?
Eine andere ältere Arbeit heisst «The Column», es ist ein wirklich geniales Video, das auf realen Fakten basiert. In China gibt es nämlich billigen Marmor. Viele Restauratoren in Italien bestellen darum das Material für Ausbesserungen der alten italienischen Palazzi nicht in Carrara, sondern in China. Während der Steinblock nach Europa unterwegs ist, hauen fleissige chinesische Arbeiter (ja, bereits auf dem Schiff) die gewünschte Form daraus. Diese Arbeit im Transit musste Paci natürlich faszinieren, und er machte daraus diesen tollen Film, in dem die Stille des Meeres sich mit dem Hämmern auf dem Schiff mischt und am Schluss eine perfekte römische Säule in Rom ankommt. Westliche Klassik made in China, oder noch besser: entstanden zwischen China und Europa, mitten in der Leere des Ozeans. Gespenstisch, nicht wahr?

«The Column» am Anfang und am Schluss der Reise.
Und wenn wir schon von gespenstisch reden: Die aktuelle Arbeit bei Kilchmann bietet ein noch gerüttelteres Mass davon. Der Zufall hat dem Künstler nämlich einen seltsamen Fund zugespielt: zwei Jutesäcke voller alter Briefe. Die schrieben Italiener, die nach dem Krieg in Albanien gestrandet waren. Mussolini hat Albanien annektiert, ungefähr zur gleichen Zeit, als Hitler sich die Tschechoslowakei einverleibte. Nach dem Krieg liess dann Albanien die Italiener, die im Land waren, nicht mehr hinaus. Sie schrieben Briefe an ihre Familien: «Liebe Mutter, es sind schon beinahe drei Jahre, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, und seit sechzehn Monaten habe ich keine Nachrichten von euch.» Oder: «Nach langen Monaten kann ich dir die Wahrheit nicht mehr verbergen, dein Vater ist gestorben…» Die Briefe wurden abgeschickt und blieben auf dem Hauptpostamt stecken. Erst kürzlich fand man die Säcke mit diesen herzzerreissenden Nachrichten im albanischen Staatsarchiv. Dort fristeten die Nachrichten aus dem Transit jahrzehntelang eine einsame Existenz. Paci und sein Künstlerkollege Roland Seijko installieren diese Zeitzeugen auf vergilbtem Papier als eine Art Collage, zu der die handgeschriebenen Episteln ebenso gehören wie die abgestempelten und nicht beförderten Couverts.

«Sue proprie mani» von Adrian Paci und Roland Seijko, 2014.
In einem alten albanischen Palast (des Königs Zog) rezitieren Schauspieler in dem dazugehörigen Video die Botschaften, deren Absender wie Adressaten es vielleicht gar nicht mehr gibt. Auf fünf grossen Leinwänden sehen wir sechs Personen, angezogen wie in den 40er-Jahren (die meisten Briefe stammen aus den Jahren 1945 und 1946). Und wir wissen nicht: Schrieben sie die Briefe? Sind Sie die Empfänger? Oder nur bewegte Zeugen einer Verwerfung der Geschichte, die viele menschliche Schicksale in Mitleidenschaft zog. (Es sollen über 20’000 Italiener gewesen sein, die damals gestrandet waren.)
Was ist mit ihnen allen passiert? Man kann sich ihr Leben vorstellen. Es geht immer weiter, weiter, jemand stirbt, jemand wird geboren, man macht eine Ausbildung, und man verliebt sich vielleicht auch. Man schreibt Briefe und schickt sie ab, wartet auf eine Antwort, stellt danach eine Schüssel Pasta auf den Tisch und lächelt denen, die hier sind, zu. Das ist es. Das ist das Leben. Egal wo wir gerade sind – wir sind im Transit.

Und noch ein «Greeter», glücklich unterwegs: Adrian Paci, 2015.