Wer gemeint hat, dass Zürich mit der Sammlung Koerfer im Kunsthaus seinen erotischen Höhepunkt im Kunstjahr 2015 schon hinter sich hatte, sah sich letzte Woche getäuscht: Der kleine, vom Fotografen und Grafiker Adi Ehrat geführte Kunstraum ES16 (für Edenstrasse 16) hat für ein eingeweihtes Insiderpublikum grad eben eine wunderbar pudrig verführerische Show des deutschen Fotografen Jonas Unger abgehalten. Nur wenige Tage waren ganze zweihundert sogenannte «workprints» voll erotischer bis obszöner Gesten aus schwer romantisiertem Rotlichtmilieu zu sehen, eine rohe Auswahl von Fotos also, bevor die endgültigen «final prints» abgezogen werden. Der Fotograf hat über ein ganzes Jahr hinweg die Proben um 11 Uhr in der Früh in einem kleinen verspukten Pariser Erotiktheater mit Namen Chochotte verfolgt – und ganz offensichtlich genossen.
Was: Fotoausstellung «Chochotte» von Jonas Unger (DE)
Wo: Kunstraum ES16 Offspace, by Adrian Ehrat, Edenstrasse 16, 8045 Zürich
Wann: Vernissage 9. Dezember, bis 24.12. noch «Wintersalon»
Genossen haben die Vernissagenbesucher die meisterhafte kuratorische Inszenierung der Fotografien durch den Paten der Zürcher Grafiker und Artdirectors, Beda Achermann, der einen – erneut – rohen Industrieraum mit wenigen präzisen Eingriffen in eine Art Boudoir verwandelt hat. Die Prints fanden sich zusammengefügt zu zwei Fotowänden und ergaben so ein fast filmisches Werk.
Eine weitere Hommage war zweifelsohne dem Werk eines (weiteren) Erotomanen, dem italienischen Designer Carlo Mollino, gewidmet, denn ein episch langer und schwerer Samtvorhang trennte Privates von noch etwas Privaterem. Mollino hatte seine Models gerne und oft spärlich bekleidet vor schweren Samtvorhängen seiner Turiner Wohnung abgelichtet, selbstverständlich ganz im Verborgenen. Erst nach seinem Ableben wurden Hunderte von Polaroids mit erotischen Fotografien gefunden – und werden heute teuer gehandelt. Diese Reminiszenz passte ganz ausgezeichnet zu den ausgestellten Abzügen. Wobei Mollinos Werk daneben wie das eines Klosterschülers ausgesehen hätte. So ändern sich Zeiten und Sitten.
An einer behelfsmässig gezimmerten Bar schenkte H. G. Hildebrandt seinen Gin and Tonic («Gents») aus – selten hat dieser besser gemundet. Und um 10 Uhr trat, man hatte es schon geahnt, dann auch noch eine Burlesque-Tänzerin auf. Das Kunstvölkchen war für einmal ganz glückselig vereint.
Die nächsten Tage über wurde auf Reservation gekocht, aphrodisierend selbstredend – und eh man es sich versah, war die Schau auch schon wieder vorbei! Nach diesem furiosen Intermezzo hält die besinnliche Weihnachtszeit nun definitiv auch an der Edenstrasse 16 Einzug: Bis Heiligabend findet eine bunt gemischte Weihnachtsausstellung mit Künstlern der Galerie unter dem Titel «Wintersalon» statt. Und wenn man Glück hat, erwischt man noch einen Hauch aus dem Chochotte. Etwas Pariser Frivolität kann in diesen Tagen nicht schaden.